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Landesweiter Tag des Widerstands gegen die Rentenreform wird zum Massenprotest: Armee-Einsatz in Rio soll der Regierung neuen Rückhalt geben

Einmarsch in Favela am 16.2.2018Die ausgesprochen erfolgreiche Massenmobilisierung gegen die – auch dadurch erneut verschobene – Rentenreform der Regierung Temer steht im Schatten des Einmarsches der Armee in die Armenviertel Rios. Nach einer extremen Medienkampagne über eine angebliche Explosion der Gewalt im (und nach dem) diesjährigen Karneval in Rio, hat die brasilianische Regierung per Dekret den örtlichen Ausnahmezustand verkündet – Voraussetzung für die Ersetzung der Militärpolizei durch die Armee im auch hier erklärten „Krieg gegen die Drogen“. Gewalt in Rio ist schon seit langen Jahren ein Problem, das von keiner der zahllosen Offensiven der Militärpolizei in irgendeiner Weise positiv beeinflusst werden konnte – und auch Armee-Einsätze gab es punktuell immer wieder. Wenn dieser regionale Ausnahmezustand nun in einer Situation verkündet wird, in der es eine (faktisch illegale) Regierung gibt, die aufgrund ihrer asozialen Rentenreform selbst in konservativen Kreisen massiv an Anhang verliert, so erhebt sich die Frage, was dieser Schritt bedeutet. Kein bloßes Ablenkungsmanöver, sondern der durchaus ernsthafte Versuch, die eigene Basis wieder zu verbreitern. Sowohl mit jenen Kräften, die ohnehin in Richtung Militär-Herrschaft gehen wollen (und eine „Lizenz zum Töten“ fordern, wie der Präsidentschaftskandidat Bolsonaro), als auch unter (den vielen) konservativ gesinnten und durch Realität und Medienkampagne verängstigten Menschen, die die „anderen“, also jene, die in Slums leben müssen, nicht als Opfer, sondern als Täter sehen. Siehe zum Kampftag gegen Rentenklau und zum Ausnahmezustand in Rio und ihrem politischen Zusammenhang unsere aktuelle Materialsammlung „Protest und Ausnahmezustand in Brasilien“ vom 20. Februar 2018:

„Protest und Ausnahmezustand in Brasilien“

a) Zum landesweiten Tag gegen die Gegenreform des Rentensystems

„Montag blaumachen“ von Peter Steiniger am 19. Februar 2018 in der jungen welt externer Link fasst unter anderem die wesentlichen Bestandteile der Rentenreform und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung darum noch einmal zusammen: „Es handelt sich um eines der zentralen Projekte der Regierung von Michel Temer und ihres Lagers im Kongress. Damit sollen vor allem die Ausgaben für Renten gedrückt werden. Weil es bisher nicht gelang, die dafür nötigen 308 Abgeordneten zusammenzutrommeln, geriet das Vorhaben zur Hängepartie. Damit es doch noch über die Bühne geht, wurde gefeilscht, wurden Details der Novelle frisiert. Und mit einer kostspieligen Werbekampagne wurde landesweit die »Reforma da Previdência« als Ei des Kolumbus angepriesen. Es ginge bei ihr doch nur, wurde propagiert, um das Abschneiden alter Zöpfe im System. Das Vorhaben treffe lediglich Schmarotzer, die sich nach einem kurzen Arbeitsleben früh in eine üppige Pension verabschiedeten. Doch um das Image der Sparpläne steht es weiter schlecht, die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt sie nach Umfragen ab. Ausgerechnet dieses Establishment soll sich an ungerechtfertigten Privilegien stören – das nimmt der Brasilianer auf der Straße ohnehin nicht für bare Münze. Was mit der Notwendigkeit begründet wird, die Kassen zu sanieren, würde für Millionen Brasilianer eine kleinere oder einen Lebensabend ganz ohne Rente bedeuten. Das Mindestalter für den Eintritt in den Ruhestand soll für Männer zunächst von 60 auf 65, für Frauen von 55 auf 62 Jahre steigen. Viele würden wegen einer Anhebung der Beitragszeiten auf dieses unrealistische Niveau die Chance einbüßen, überhaupt eine Pension zu erhalten oder müssten mit erheblichen Abschlägen rechnen. Gewerkschaften sprechen vom Zwang zur Arbeit bis zum Tod. Während das Rentensystem angeblich vor dem Kollaps steht, erließ die Temer-Regierung Konzernen und Großagrariern allein 2017 Beitragsschulden in Milliardenhöhe. Der sogenannten Reform »aufgeschlossen« gegenüber sind die privaten Versicherungskonzerne, deren Bosse mit den Machthabern in Brasília verbandelt sind“.

„Minuto a Minuto: saiba como foi o dia de ações contra reforma da Previdência“ am 19. Februar 2018 bei Brasil de Fato externer Link war der chronologische Ereignisticker des Tages der Proteste quer durchs Land, der an überraschend vielen Orten mit Streiks der Nahverkehrs-Betriebe am frühen Morgen begonnen hatte.

Streikurabstimmung VW Sao Paulo 11.2.2018„Greves, protestos e paralisações marcam dia 19 em SP“ am 19. Februar 2018 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist ein erster Überblick über die Aktionen am Tage im industriellen Zentrum des Landes, dem Bundesstaat Sao Paulo, in dem die tragenden Parteien der brasilianischen Bundesregierung eine Mehrheit haben – und der an diesem Tag erstmals seit längerem wirklich große Proteste und Aktionen erlebte, vor allem mit den Streiks in den Automobilfabriken des ABC-Gürtels um Sao Paulo Stadt. (Nebenstehendes Bild zeigt die Urabstimmung bei VW, wo, wie auch bei Mercedes, Ford und allen anderen Unternehmen gestreikt wurde).

„Metalúrgicos paulistas cruzaram os braços contra a reforma“ am 19. Februar 2018 bei Esquerda Online externer Link ist ein Bericht speziell über die Streikbeteiligung der Metaller in Sao Paulo und Umgebung, die sich – erstmals seit dem Generalstreik im April 2017 – sehr massiv an diesem Kampftag beteiligt haben.

„Petroleiros pararam no Dia Nacional de Lutas contra a reforma da Previdência“ am 20. Februar 2018 ebenfalls bei Esquerda Online externer Link ist ein Bericht über die ebenfalls massive Beteiligung der Ölarbeiter an diesem Tat, die an sehr vielen der zahllosen Petrobras-Niederlassungen zu 100% die Arbeit nieder legten.

„Klare Ansage“ am 21. Februar 2018 in der jungen welt externer Link ist eine kurze Meldung über die Demonstration in Sao Paulo, in der es heißt: „Mehr als 20.000 Teilnehmer einer Kundgebung auf der Avenida Paulista in São Paulo protestierten am Montag (Ortszeit) gegen von Brasiliens Regierung geplante Rentenkürzungen. Zu den Rednern zählte Douglas Izzo, der Vorsitzende der Gewerkschaftsdachverband CUT in der Metropole. Die Aussetzung der »Reform« im Kongress bezeichnete er als »einen Sieg der Arbeiterklasse«“.

#queromeaposentarexterner Link ist der gewerkschaftsübergreifende Twitter-Kanal zum Protesttag 19. Februar 2018, auf dem zahlreiche Berichte vom Tage auch aus kleineren Orten quer durch Brasilien zu finden sind. „Ich will in Rente gehen“ war der Slogan des Tages, mit dem auch zahlreiche Menschen und Gruppierungen mobilisiert wurden, die den Gewerkschaften nicht besonders nahe stehen.

„Paralisações mostram disposição de luta! Centrais precisam chamar greve geral“ am 19. Februar 2018 bei Esquerda Diario externer Link steht hier als Beispiel für eine ganze Reihe von Artikeln in linken Zeitungen,  die aus der massiven Beteiligung verschiedenster Branchen und Gewerkschaften an diesem Tag die Schlussfolgerung ziehen, die Bedingungen seien reif für die Ausrufung eines erneuten Generalstreiks, diesmal eben gegen die Rentenreform und die Gewerkschaftsföderationen müssten dazu gezwungen werden, dies zu tun.

„A intervenção federal deveria ser nos BANCOS DA AVENIDA PAULISTA“ am 18. Februar 2018 bei den Brigadas Populares externer Link (BP) ist ein Video mit einer Erklärung des Koordinators der linken Basisorganisation, Pedro Otoni, in der er zum einen darauf verweist, dass wer wirklich gegen die Drogenmafia vorgehen wolle, dies im Bankenviertel von Sao Paulo tun müsse, da dort – und längst nicht mehr in Koffern – die Geldgeschäfte der Drogenbarone vollzogen würden. Zum anderen unterstreicht er in der Erklärung, dass die Ausrufung des Ausnahmezustandes natürlich auch eine Drohung gegen jeden Protest im ganzen Land ist, und dass die BP, in den Armenvierteln Rios relativ stark vertreten, dort wie überall sich auf solche weitergehenden Maßnahmen vorbereiten. Politisch sieht er diesen Schritt sowohl als ein Ablenkungsmanöver wegen der Rentenreform, als aber auch – und dies vor allem – eben als einen Versuch der Regierung Temer, ihre Basis bei den konservativen Kreisen der brasilianischen Gesellschaft wieder zu verbreitern, die unter anderem wegen ihrer Korruption, aber auch wegen der Rentenreform, beträchtlich abgenommen habe. Hierin sei auch der Zusammenhang zwischen Ausnahmezustand und dem aktuellen Sozialprotest zu sehen.

b) Der Ausnahmezustand in Rio und die – ablehnende – Haltung der gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen

„Brasiliens Präsident schickt Militär nach Rio“ am 16. Februar 2018 bei Spiegel Online externer Link ist die Meldung, die die brasilianische Medienkampagne in der BRD aufnimmt: „Angesichts einer Kriminalitätswelle sollen künftig Soldaten in Rio de Janeiro für Ordnung sorgen. Per Dekret schickte Brasiliens Präsident Michel Temer die Streitkräfte in die Millionenmetropole am Zuckerhut und den umliegenden Bundesstaat. (…) Es ist die erste umfassende Intervention im Inneren seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1988 nach dem Ende der Militärdiktatur. Der Einsatz soll voraussichtlich bis Ende des Jahres dauern“.

„Regierung von Brasilien schickt Militär nach Rio de Janeiro“ von Mario Schenk am 19. Februar 2018 bei amerika21.de externer Link, betrachtet dies wesentlich konkreter – und anders: „Der Beschluss kommt einer Quasi-Entmachtung der Sicherheitsorgane des Bundesstaates gleich. Denn ab sofort verfügt Armeegeneral Braga Netto über die Kompetenzen, die bestehenden Institutionen neu zu strukturieren sowie Personal zu entlassen und einzusetzen. Einiges deutet also darauf hin, dass insbesondere die Korruption im staatlichen Apparat bekämpft werden soll. (…). Die brasilianischen Streitkräfte operieren seit Juli 2017 an der Seite der Polizei in Favelas. Insgesamt sind 10.000 Soldaten zu Einsätzen entsendet worden. Die Bundesregierung hielt die nun komplette Übernahme der Amtsgeschäfte für notwendig. Auf die Korruption angesprochen wollte Gouverneur Pez diese nicht mit den Problemen von Rio de Janeiro in Verbindung setzen. (…) Einer der Direktoren der Zeitung Voz da Comunidade aus Rios größtem Favela-Gebiet, dem Complexo do Alemão, Betinho Casas Novas, befürchtet, die Intervention werde zu noch mehr Gewalt für die Menschen in den sozial benachteiligten Regionen führen. „Die Favelas leiden bereits seit Jahren unter Militäreinsätzen. Allein im Complexo do Alemão sind seit 2013 81 Menschen durch Schießereien mit Sicherheitskräften ums Leben gekommen“, so Casas Novas. „Würde es solche Interventionen in Bereichen wie Gesundheit und Bildung geben, wäre Rio nicht wie es ist.“ Die Lokalabgeordnete Marielle Franco (PSOL) kritisierte, die Maßnahmen erweckten einen „falschen Eindruck von Sicherheit. Die Oberschichten werden denken, die Dinge verbessern sich durch die Militärs“, so Franco. „Aber es wird mehr tote schwarze Jugendliche geben und die Vergehen durch Angehörige der Streitkräfte werden durch die Militärjustiz behandelt werden“.

„Brasiliens Bundesregierung ordnet an, den Bereich der Öffentlichen Sicherheit Rio de Janeiros unter die Bundesaufsicht des Heeres zu stellen“ am 16. Februar 2018 bei der KoBra externer Link ist die Übersetzung der Erklärung von Justica Global zum Armee-Einsatz, worin es unter anderem heißt: „Die Unterdrückung durch die Polizeikräfte war und ist in den Favelas und in der Peripherie von Rio de Janeiro schon immer Realität. Die in ihrer Mehrzahl von Schwarzen bewohnten Viertel kennen die Militärinterventionen in Rio de Janeiro als einen weiteren Beweis dafür, dass der Genozid ein Projekt der Macht ist. Die Bundesintervention ist die Spitze des antidemokratischen, neoliberalen und betrügerischen Projekts, das vor allem infolge des illegalen Machtantritts von Präsident Michel Temers an Fahrt aufgenommen hat und das eine Ausweitung der Rückschritte und des Autoritarismus in einem fortschreitenden Szenario eines Massakers und des Verlusts der Rechte der Bevölkerung darstellt“.Alltag in favela nach dem Militäreinmarsch 16.2.2018

„Queremos uma intervenção social que traga a vida. Não queremos uma intervenção militar que traga a morte“ am 17. Februar 2018 bei der FAFERJ externer Link ist die Erklärung des Netzwerkes der Armenviertel-Selbstorganisationen im Bundesstaat Rio (Federação das Associações de Favelas do Estado do Rio do Rio de Janeiro) in der gefordert wird, anstelle einer Militärintervention, die den Tod bringe, eine soziale Intervention zu organisieren, die das Leben bringe.

„Intervenção militar foi objetivo da Globo É o AI-5 dos desesperados“ von Hildegard Angel am 17. Februar 2018 bei kaosenlared externer Link dokumentiert, ist ein Beitrag der bekannten Lokaljournalistin darüber, dass dieser Militäraufmarsch das Ziel einer regelrechten Kampagne von TV Globo gewesen ist, die selbst jeden einzelnen Karnevalsbericht mit – meist wiederholt  denselben – Bildern erschossener Kinder begonnen habe. Dabei erinnert die Autorin daran, dass es dieselbe mediale Dreckschleuder der Reaktion war, die das Schulreform-Programm des einstigen Gouverneurs Brizola torpediert habe mit einer entsprechenden Hetzkampagne, was erst dazu geführt habe, dass heute so viele Jugendliche auf der Straße nach dem Überleben suchen müssen.

„O Rio de Janeiro amanheceu sob intervenção militar“ am 16. Februar 2018 beim Gewerkschaftsbund Intersindical externer Link des Bundesstaates Rio ist die Erklärung der linken Föderation, mit der die Maßnahme einerseits als Bankrotterklärung der Regierung bewertet wird, andrerseits als bisher weitest gehende antidemokratische Maßnahme der illegalen Regierung bezeichnet und zum Widerstand dagegen aufgerufen. Der Einsatz der Armee sei eine Kriegserklärung nicht an die Drogenbanden, sondern vor allem an die Jugend der Armenviertel, die als Täter denunziert werde, wo sie Opfer sei.

„Intervenção no Rio é mais um vexame de Temer“ am 16. Februar 2018 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link bewertet die Notstandsmaßnahme Temers als weitere Schande für diese Regierung. Die Entstehung der Sicherheitsprobleme insbesondere in Rio sei verbunden mit dem Anwachsen der sozialen Probleme, die keine Militärintervention lösen könne, sondern nur eine Politik, die gerade andersherum orientiert sei, als die der aktuellen Regierung, die mit weiteren Maßnahmen des Sozialabbaus die Probleme weiter verschärfen werde. Deswegen sei es jetzt erst recht richtig und wichtig, sich am Protesttag 19. Februar zu beteiligen, mit Streiks und Demonstrationen, um gegen die sogenannte Rentenreform Widerstand zu leisten.

„Sobre a intervenção militar no Estado do Rio“ am 16. Februar 2018 bei der PCB externer Link dokumentiert, ist die Erklärung der Bildungsgewerkschaft SEPE des Bundesstaates Rio zur Notstandsmaßnahme, in der unter anderem darauf verwiesen wird, dass gerade die Mitglieder dieser Gewerkschaft, oftmals an Schulen tätig, die in ärmeren Vierteln der Stadt liegen, sehr genau wissen, welche Gefahr von dieser Maßnahme für ihre SchülerInnen ausgeht – und für die demokratischen Rechte aller Menschen in diesen Gegenden.

„Altamira é a cidade mais violenta do país!“ am 20. Februar 2018 beim Twitter-Kanal Sawe externer Link ist eine konkrete Notiz über die Ergebnisse des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte zur Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“. Altamira, die Stadt am umstrittenen Großstaudamm Belo Monte war 2013 die Stadt Brasiliens mit der höchsten Gewaltrate – deswegen schickte die damalige Bundesregierung die Armee hin. Mit dem Ergebnis dass Altamira 2017 die Stadt mit der höchsten Gewaltrate Brasiliens ist…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=128300
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