»
Brasilien »
»
»
Brasilien »
»

[5. Dezember 2017] Per Telefonkonferenz: Sechs brasilianische Gewerkschaftsverbände streichen den Streiktag gegen die Rentenreform der Unternehmer-Regierung

Plakat gegen den brasilianischen Putschpräsidenten Temer bei der Demonstration vor dem Senat in Brasilia am 12. Mai 2016Parlamentarischer Kretinismus im Extrem – oder Angst vor der eigenen Courage? In einer gemeinsamen Erklärung haben 6 der 8 Verbände, die am Tag der parlamentarischen Beschlussfassung über die antisoziale Rentenreform, dem 5. Dezember 2017, zum landesweiten Streik aufgerufen hatten, diesen Aufruf rückgängig gemacht. Weil die Sitzung des Parlaments verschoben wurde. Was an sich schon Kniefall genug ist, wird es erst recht durch den Grund für die Verschiebung der Parlamentsdebatte: Weil die Regierungskoalition nicht genügend Stimmen beisammen hat, ihre Reform durchzubringen (und noch Zeit braucht, diese Stimmen zu kaufen, wie gerade mit einem Millionenpaket für Bürgermeister). Statt der vernünftigen Konsequenz „nun erst recht“, unterwirft man sich der parlamentarischen Prozedur – von der niemand zweifelt, dass genügend Stimmen eingekauft werden können, wenn nicht gesellschaftlicher Druck das verhindert. Ganze Landesverbände des größten Gewerkschaftsbundes CUT rebellieren gegen diesen Kapitulationsbeschluss und rufen weiterhin zu Streik und Protesten auf, Föderationen verschiedener Einzelgewerkschaften mehrerer Branchen ebenfalls, die linken Verbände Conlutas und Intersindical sowieso. Der Gewerkschaftsbund CTB (der KP Brasiliens sehr nahe stehend) hat die Streikabsage mit unterschrieben, mobilisiert nun aber wieder massiv zur Beteiligung an Streiks und Protesten, zwar ohne Angaben von Gründen für diese abermalige Wendung, aber sicher nicht, weil den Vorstand die Begeisterung der Mitgliedschaft über die Absage dazu motiviert. Die Vielzahl der stattgefundenen Proteste macht deutlich, dass eine Bereitschaft zu weiter gehenden Aktionen bei den Opfern dieser betrügerischen Reform vorhanden ist – wäre? Siehe dazu unsere aktuelle kommentierte Materialsammlung „Gewerkschaftlicher Kniefall in Brasilien?“ vom 05. Dezember 2017:

Gewerkschaftlicher Kniefall in Brasilien?

„Centrais sindicais suspendem a greve nacional no dia 5/12 após o cancelamento da votação da Reforma da Previdência no dia 6/12“ am 01. Dezember 2017 bei der Força Sindical (FS) externer Link ist die Dokumentation der gemeinsamen Erklärung der sechs Verbände (CUT, Força Sindical, UGT, CTB, Nova Central und CSB) zur Absage des Streiktages. Immerhin hat dieser zweitgrößte Verband des Landes – mit seiner sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung – diese Erklärung noch auf der Eingangsseite im Web. Beim größten Verband, der CUT, ist dieser Beschluss schon „nach hinten gerückt“ worden. Wobei die Erklärung selbst Purzelbäume schlägt, um die Absage zu begründen. Die Abstimmung im Parlament sei verschoben, deswegen der Streiktag abgesagt, so die offizielle Begründung. Um im nächsten Satz zu behaupten, diese Verschiebung sei aufgrund des gewerkschaftlichen Drucks zustande gekommen. War das Ziel des gewerkschaftlichen Drucks die Verschiebung der Abstimmung? Nur dann würde eine solche Absage irgendeinen Sinn ergeben, der über Kapitulation hinaus geht. Und ja, auch die FS tönt, man werde an diesem Tag zu Protesten mobilisieren, weil der Kampf denn doch (wie und warum auch immer) weiter gehen müsse…

„AO INVÉS DE ESTAR NA CONSTRUÇÃO DA GREVE GERAL PRA VALER, MAIORIA DAS CENTRAIS SINDICAIS SE SUBMETE AOS INTERESSES DO CAPITAL“ am 04. Dezember 2017 beim Gewerkschaftsbund Intersindical externer Link ist die Erklärung des linken Verbandes gegen die „Kapitulation der sechs Verbände“. Die Abstimmung über die Rentenreform zu verschieben bedeute nicht, das Projekt aufzugeben – was der einzige Grund hätte sein können, den Streikaufruf rückgängig zu machen. Denn ein solcher Streik könne ohnehin nicht per einfachen Aufruf organisiert werden, sondern müsse schrittweise aufgebaut werden, was nicht zu jedem Datum plötzlich möglich sei. Intersindical unterstreicht, die Mobilisierung fort zu setzen.

„Nota oficial da CSP-Conlutas contra a desmarcação da Greve Nacional de 5 de dezembro“ am 01. Dezember 2017 beim Gewerkschaftsbund Conlutas externer Link ist die Pressemitteilung des linken verbandes, vom Beschluss der sechs Föderationen, der in einer Telefonkonferenz gefasst worden sei, überrascht worden zu sein, man sei auch vorher über irgendwelche anstehenden Gespräche nicht informiert worden. Conlutas bewertet dieses Vorgehen als sehr schweren politischen Fehler und unterstreicht, weiterhin zum Kampf gegen eine Rentenreform zu mobilisieren, die trotz Verschiebung im Parlament weiter verfolgt werde und ein Frontalangriff auf die Werktätigen des Landes darstelle.

„Bases sindicais não aprovam recuo da maioria das Centrais Sindicais e reafirmam participação na Greve Nacional desta terça-feira“ am 04. Dezember 2017 ebenfalls bei der Conlutas externer Link ist eine Mitteilung des Verbandes darüber, dass zahlreiche gewerkschaftliche Gliederungen unterschiedlichster Art jener Verbände, die die Aussetzung beschlossen hatten, am Streiktag 5. Dezember festhalten, entgegen dem Willen ihrer Vorstände. Dabei werden insbesondere hervor gehoben der erneuerte Streikbeschluss der Fenametro (Federação dos Metroferroviários – Föderation der Metrogewerkschaften) und der ebenfalls erneuerte Aufruf zum Streik der CNTE (Confederação Nacional dos Trabalhadores em Educação – Nationale Konföderation der Beschäftigten im Erziehungswesen, die dem Gewerkschaftsbund CUT angeschlossen ist). Auch noch einige weitere Branchenorganisationen anderer Verbände, die ihre streikbeschlüsse bestätigt haben, werden in der Mitteilung erwähnt.

„Nota da Unidade Classista sobre o recuo das centrais em relação à greve nacional“ am 01. Dezember 2017 bei der PCB externer Link (Brasilianische Kommunistische Partei) ist die Dokumentation der Erklärung der Klassengewerkschaftsströmung (die von der Partei geleitet wird) zur Aussetzung der Streikbeschlüsse, die darin massiv als Kapitulation kritisiert wird und als Aufforderung an die KlassengewerkschafterInnen aller Verbände, ihre Differenzen zu überwinden.

„CTB: Continuaremos nas ruas contra a Reforma da Previdência no dia 5 de Dezembro“ am 01 Dezember 2017 bei der CTB externer Link (der viertgrößte Verband, der zweiten, wesentlich größeren KP nahe stehend, der Kommunistischen Partei Brasiliens) ist eine Erklärung des Generalsekretärs des Verbandes, in der unterstrichen wird, der Kampf müsse fortgesetzt werden und die CTB habe sich angesichts der Kräfteverältnisse der einzelnen Organisationen gezwungen gesehen, die Absage mit zu beschließen, finde diese aber grundlegend falsch.

„Greve Nacional: entidades e movimentos questionam posição das centrais e manterão mobilização no dia 5“ am 04. Dezember 2017 bei Esquerda Diario externer Link ist ein unvollständiger Überblick über die Reaktionen auf die Streikabsage und die anschließenden Entwicklungen. Worin zunächst unterstrichen wird, dass neben der CTB auch die CSB nach Unterzeichnung des Absagebeschlusses Erklärungen abgegeben haben, die diesen Beschluss kritisierten, und unterstrichen man habe sich anpassen müssen (da die beiden größten Verbände, CUT und FS die Absage wollten). Aber es werden auch die jeweiligen Landesverbände der CUT in den Bundesstaaten Piauí, Pará und  Pernambuco zitiert, die für die Aufrechterhaltung der Streikbeschlüsse eintreten, während die Landesverbände von Sao Paulo und Minas Gerais eine besonders starke Mobilisierung beschlossen haben. Im weiteren werden in dem Beitrag auch noch verschiedene kritische Stellungnahmen gewerkschaftlicher Organisationen dokumentiert.

„Dia 5 é dia de mobilização, paralisações e protestos CONTRA A REFORMA DA PREVIDÊNCIA“ am 04. Dezember 2017 beim Gewerkschaftsbund CTB externer Link ist eine gemeinsame Erklärung von 8 Verbänden im nördlichen Bundesstaat Pará, dass sie am Aktionstag auch am Streikaufruf festhalten – darunter auch alle jenen regionalen Verbände, deren jeweilige Zentrale die Aussetzung beschlossen hatte.

„Nota da FNP contra o cancelamento da Greve Nacional de 5 de dezembro“ am 01. Dezember 2017 bei der Nationalen Föderation der Ölarbeitergewerkschaften externer Link (dem kleineren, linkeren, nicht der CUT angeschlossenen Verband der Ölgewerkschaften) ist eine Erklärung, in der die Streikabsage heftig kritisiert wird – und darauf verwiesen, dass für die Petrobras und ihr zugehörige Unternehmen ohnehin ein Streikbeschluss bestehe.

 „Nota da Oposição Unificada da Apeoesp contra cancelamento da greve nacional do dia 05, e chamado ao ato unificado“ am 02. Dezember 2017 bei Esquerda Diario externer Link ist die Dokumentation einer Erklärung der Opposition in der LehrerInnen-Gewerkschaft des Bundesstaates Sao Paulo gegen die Streikabsage, worin unterstrichen wird, dass man in jedem Fall, überall, wo man die Kraft dazu habe, zum Streik mobilisieren werde.

„Parlament in Brasilien debattiert neoliberale Rentenreform“ von Jan Marinko am 05. Dezember 2017 bei amerika21.de externer Link fasst nochmals zu den Auswirkungen der reaktionären Rentenreform zusammen: „Nachdem sich gegen den ursprünglichen Gesetzestext Widerstand unter den Parlamentariern formiert hatte, wurde der Vorschlag überarbeitet. Der neue Text soll weniger drastische Änderungen enthalten. Allerdings zeichnet im Kongress wegen des Einfrierens des Staatshaushaltes, die umstrittene Initiative zur Arbeitsreform sowie der Korruptionsvorwürfe gegen Temer weiterhin Widerstand ab. Dies könnte es der Regierung erschweren, die notwendigen Stimmen zusammenzubekommen. Die Reform sieht vor, dass die Rentenbeiträge erhöht und das Renteneintrittsalter für Frauen bei 62 Jahren und für Männer bei 65 Jahre liegen soll, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. Bisher liegt es bei 55 Jahren für Frauen und 60 Jahren für Männer. Die minimale Beitragszeit soll von 15 auf 25 Jahre erhöht werden und eine Rentenzahlung des vollen Gehalts nur möglich sein, wenn man 49 Jahre eingezahlt hat. Die Abgeordnete Jandira Feghali sagte: „Der neue Vorschlag bestraft besonders die Klassen, die die Leistungen am meisten benötigen““.

„Camponeses fazem greve de fome contra a Reforma (sic) da Previdência“ am 05. Dezember 2017 im Blog von PH Amorim externer Link ist einer der zahllosen Berichte über Proteste am (streikfreien) Dienstag – heir der Beginn eines Hungerstreiks der Bewegung der Kleinbauern gegen die Rentenreform vor dem Parlament in Brasilia – das Motto der Aktion: „Lieber ein paar Tage hungern, als ein ganzes Leben lang“…

„SP: Trabalhadores relatam impactos da reforma da Previdência em ato contra a medida“ am 05. Dezember 2017 bei Brasil de Fato externer Link ist ein Bericht über die Protest-Demonstration gegen Rentenreform in Sao Paulo – die auch ein Beweis dafür ist, dass De-Mobilisierung wirkt, wenn gerade einmal 2.000 Menschen sich in der Riesenstadt beteiligen.

„5 de dezembro: trabalhadores se mobilizam e fazem greves, protestos e manifestações por todos o país, com destaque para Aracaju (SE) e São Luís (MA)“ am 05. Dezember 2017 beim Gewerkschaftsbund CSP Conlutas externer Link ist ein Überblick über die Proteste des Tages, aus dem deutlich wird, dass in den ärmeren Gebieten des Landes die Mobilisierung trotz allen „undurchschaubaren Winkelzügen“ massiv war…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=124900
nach oben