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Das Regime in Algerien versucht, seinen Kurs trotz der Proteste beizubehalten: Erste Berufsverbände und Gewerkschaften organisieren Streiks, Demonstrationen gehen weiter, Armee droht…

Der gemeinsame Nenner aller Proteste Ende Februar 2019 in Algerien: Kein 5. Mandat!Seit Freitag, dem 1. März 2019, ist  in Algerien und auch in der französischen Berichterstattung die Behauptung „Bouteflika oder das Chaos“ verschwunden. Drei Millionen Menschen zogen an dem Tag durch alle Städte des Landes. Es war – nach dem 22. Februar  – die zweite Massendemonstration gegen das Machtkartell. An jedem Tag hatte es weitere Demonstrationen gegeben, von Student*innen, Anwält*innen, Journalist*innen und vielen anderen Gruppen. (…) Am gestrigen Sonntag ließ Bouteflika vom Bett in einem Genfer Krankenhaus aus mitteilen, dass er an seiner Kandidatur („5. Mandat“) festhalte, aber dass er „verstanden“ habe. Er finde die Demonstrationen der letzten Tage gut und werde die gesamte kommende Legislaturperiode abkürzen – ohne einen Zeitrahmen zu nennen –, und eine Versammlung zur Verfassungsüberarbeitung einberufen – ohne akzeptierbare Veränderungsdetails mitzuteilen. Die Antwort auf diese Worte Bouteflikas waren wütende Massendemonstrationen  in der Nacht von Sonntag auf Montag, die nach 23 Uhr ihren größten Zufluss erhielten. Oppositionspolitiker rufen nunmehr dazu auf, solche Nachtdemonstrationen zu unterlassen. Es wird wahrscheinlich, dass die April-Wahlen verschoben werden. (…) Die Regierungen in der EU sind auf das Höchste besorgt, aber hüllen sich in Schweigen. Deutschlands laufende milliardenschwere Rüstungsexporte nach Algerien stehen auf dem Spiel. Die EU-Staaten fürchten den Kollaps der militärischen Küstenwache und der Gendarmerie längs der Küste und die kommende Reisefreiheit, die sich vor allem die Jugendlichen nehmen werden…“ – aus dem Beitrag „Algerien: Die Angst ölreicher algerischer Militärs und migrationsfeindlicher EU-Staaten“ am 04. März 2019 bei FFM-Online externer Link über die Reaktionen auf Bouteflikas Beharren – und die Nichtreaktionen… Zu den Reaktionen auf die Entscheidung der algerischen Machthaber weitere aktuelle Beiträge und der Hinweis auf unseren ersten Bericht dazu, der ein Schwergewicht auf der Rolle der unabhängigen Gewerkschaften in dieser Protestbewegung hatte:

„Algérie: les promesses du président Bouteflika n’apaisent pas la colère“ am 04. März 2019 bei RFI externer Link war die erste Meldung über die Reaktionen auf das Beharren des Regimes auf Bouteflikas erneuter Kandidatur: Während die Regierungspartei FLN in Bouteflikas Stellungnahme zu verkürzter Amtszeit im Falle der Wiederwahl eine Antwort auf die Proteste sah, blieb sie damit allein. Erste Streikaufrufe – etwa der Anwaltsvereinigung, aber auch der Gewerkschaften im Schulwesen ab Dienstag, 5. März – werden in der Meldung ebenfalls berichtet.

„« Pouvoir assassin ! » : quand la jeunesse algérienne se révolte“ von David Labica am 04. März 2019 bei Révolution Permanente externer Link ist ein Beitrag über die besondere Rolle, die die jungen Menschen in den aktuellen Protesten in Algerien spielen: Unter dem Slogan „Heute Abend gehen wir aus“ sammeln sie sich trotz aller Verbote und Aufmärsche zu immer neuen Demonstrationen – jene Generation also, die den blutigen Kampf des Regimes gegen den bewaffneten Fundamentalismus nur aus der Erzählung kennt, ein Kampf der lange Jahre der Legitimierung der Herrschaft diente…

„Algeria: No to the presidential election! No to systemic continuity ! For the election of a constituent assembly!“ am 04. März 2019 bei Europe Solidaire externer Link dokumentiert, ist eine Erklärung der PST Algeriens, in der statt der Präsidentschaftswahl die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung gefordert wird, als einzige Möglichkeit der Reaktion auf den „schlechten Witz“ mit dem das Regime auf die Massenproteste der letzten Tage reagiert habe.

„Bouteflikas Brief als Provokation“ von Stefan Ehlert am 05. März 2019 im Deutschlandfunk externer Link hebt kommentierend hervor: „Europa kann sich schon mal auf Flüchtlinge aus Algerien einstellen. Und zwar auf solche mit vollem Asylanspruch. Nach meinem Eindruck hat das Regime dort die Absicht, das Land vor die Wand zu fahren. Die gestrige Ankündigung des Staatsoberhaupts noch einmal zur Wahl anzutreten, zu einer fünften Amtszeit, könnte wirken wie Kerosin im Feuer. Per Brief wurde die Kandidatur bestätigt, und kaum einer kann nachprüfen, dass Abdelaziz Bouteflika den Brief auch geschrieben hat, oder auch nur mitgeschrieben. Nur eine kleine Geste zur Authentifizierung hätte ja gereicht, ein Lächeln im Krankenhausflur, zehn Worte in eine Kamera. Aber selbst das scheint nicht möglich zu sein. Zu viel der Ehre für eine zutiefst verunsicherte und zornige Bevölkerung. Wie die Demonstrationen der vergangenen Nacht und auch heute am Tage wieder gezeigt haben, lassen sich die Algerier aber nicht für dumm verkaufen. Ihr 82-jähriger Präsident weilt zur Behandlung in der Schweiz, ist schwer krank und seit sechs Jahren kaum mehr öffentlich aufgetreten. Er selbst soll den Bürgern aber geschrieben haben, dass er im Fall einer Wiederwahl große Reformen anschieben werde, die größten seit Jahrzehnten, bis hin zu einer Verfassungsänderung. Politik, Wirtschaft und Soziales – alles soll besser werden. Eine Nationalversammlung, unabhängig und inklusiv, also extrem zerstritten, soll Vorschläge erarbeiten und dann vorzeitig Neuwahlen ansetzen. So werde der große alte Mann ein bestelltes Haus hinterlassen, klang in dem ominösen Schreiben an – es wurde unter anderem im Fernsehen verlesen. Die vorlesende Sprecherin warf danach ihren Job hin…“

„Groteske Kandidatur“ von Philip Sofian Naceur am 04. März 2019 in der taz externer Link zur Reaktion auf die Reaktion des Regimes: „Zehntausende StudentInnen hatten sich derweil schon am Sonntag Mittag an zahlreichen Universitäten des Landes versammelt. Anschließend zogen sie lautstark protestierend durch die Straßen und verliehen damit ihren Forderungen nach einem Ende der Präsidentschaft Bouteflikas Nachdruck. Nachdem sich im Laufe des Tages abgezeichnet hatte, dass dessen Entourage offenbar keineswegs gedenkt, einfach so einzulenken, versuchten StudentInnen vor den Sitz des Verfassungsrates im Stadtteil Ben Aknoun in Algier zu ziehen. Großräumig um das Stadtviertel postierte Einsatzkräfte der Polizei drängten die aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmenden DemonstrantInnen jedoch teils höflich, teils etwas ruppig zurück und setzten vereinzelt Pfefferspray ein. Nachdem sich bis zum frühen Abend die Versammlungen der StudentInnen aufgelöst hatten und selbst die Polizei von den Hauptstraßen verschwunden war, kehrte jedoch nur kurzzeitig der Alltag wieder ein. Denn am späten Abend zogen landesweit abermals zehntausende Menschen auf die Straßen und forderten lauthals einen Rückzug Bouteflikas von dessen Kandidatur. In Skikda, Constantine, Guelma, Sétif, in mehreren Städten der Kabylei sowie in Algier formierten sich spontane Großproteste gegen ein fünftes Mandat. Bis spät in die Nacht kreisten Polizeihelikopter über dem Stadtzentrum von Algier. Befürchtungen, dass es in der Nacht zu Ausschreitungen kommen könnte, bestätigten sich nicht…“

„Présidentielle en Algérie: l’armée déterminée «à garantir la stabilit黓 am 05. März 2019 bei Radio France International externer Link ist eine Meldung, über die Bekundung des Chefs des Generalstabs, der bei einer Rede vor der Militärakademie die Entschlossenheit der Armee betonte, „die Stabilität zu garantieren“ – noch deutlicher musste die Drohung nicht wurden, er wurde aber noch deutlicher…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=145256
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