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Updated: 18.12.2012 15:51
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Eine Frage des Profits?

Siegfried Dierke* zum Umbau des Gesundheitssystems

Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit vollzieht sich im Bereich der Gesundheitsversorgung ein drastischer und rapider Umbau. Im folgenden Beitrag zeigt Siegfried Dierke, auf welchen Ebenen und mit welchen Mechanismen dieser Umbau erfolgt und welche bedrohlichen Folgen dies u.a. für Versicherte, PatientInnen und Beschäftigte hat. Neben der Aushöhlung und Umgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung spielen Privatisierungen im Krankenhausbereich, die Sterbehilfediskussion, Schuldzuweisungen an die Individuen sowie der Appell an die »Eigenverantwortlichkeit« dabei eine große Rolle. Angesichts der bislang eher fragmentierten Proteste plädiert Dierke für einen erweiterten, gesellschaftlich gefassten Gesundheitsbegriff und für eine neue ethische Fundierung als Voraussetzung für gemeinsamen Widerstand von Beschäftigten des Gesundheitswesens und PatientInnen.

Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte wird oftmals ein verklärtes Bild der gesundheitlichen Versorgungslandschaft in (West-)Deutschland gezeichnet: fast umfassende Gesundheitsversorgung für gesetzlich Versicherte, solidarische Finanzierung der Krankenversicherung, paritätische Beteiligung der Arbeitgeber und Erfüllung eines gesamtgesellschaftlichen Auftrags durch Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft. Dieses Bild eines in den Grundzügen nach sozialen Gesichtspunkten ausgerichteten Gesundheitssystems ist allerdings nur ansatzweise richtig.

Denn schließlich gab es in der bundesrepublikanischen Gesundheitsversorgung schon immer eine Zwei- (bzw. Drei-)Klassen-Medizin, mit Privatversicherten einerseits, KassenpatientInnen andererseits sowie z.B. Flüchtlingen mit einer noch weiter eingeschränkten Krankenbehandlung. Gleiche Zugangschancen sind also nur sehr bedingt gegeben; ebenso wird die Solidarität infolge der Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenze nur in »gedeckelter« Form praktiziert. Behandlungsablauf und -ausrichtung sind und waren gekennzeichnet durch ein paternalistisches Ärztegebaren. Medizinische Standards, Behandlungsmethoden und Forschung sind fast durchgängig ausgerichtet an Männern mittleren Alters. Der Medizin- und Forschungsapparat diente somit stets mehr der Festigung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse als sozialen Ansprüchen.

Und die niedergelassenen ÄrztInnen sind nicht erst in den letzten Jahren zu UnternehmerInnen und Geschäftsleuten geworden: Schon immer waren sie neben dem Wohle ihrer PatientInnen auch dem Anwachsen ihres Geldbeutels bzw. ihres Kontostands verpflichtet. Erst recht haben Pharmaindustrie und Medizingerätehersteller - heute wie auch früher - einzig und allein die Mehrung ihres Profits als Ziel. Eine ökonomische Ausrichtung des Gesundheitssystems ist somit nichts Neues, verpflichtet das Sozialgesetzbuch doch auch Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte zu einem wirtschaftlichen Verhalten.

Veränderungen

Von einer neu einsetzenden Ökonomisierung des Gesundheitssystems kann also nicht gesprochen werden. Neu ist jedoch, in welchem Maße nun alle Bereiche der gesundheitlichen Versorgung ökonomischen Prinzipien unterworfen und von Effizienzkriterien durchdrungen, Solidarprinzipien entsorgt sowie Krankheitsrisiken privatisiert werden sollen. Gesundheitsversorgungsstrukturen entziehen sich dabei immer stärker einer öffentlichen Steuerung und Kontrolle. Hierbei wird ein Denken durchgesetzt, dass Gesundheit nicht (mehr) als öffentliches Gut betrachtet und Gesundheitsversorgung nicht mehr als gesellschaftliche Aufgabe definiert. Das Bereitstellen gesundheitlicher Versorgungseinrichtungen wie z.B. Kliniken soll nunmehr rein nach Rentabilitätskriterien erfolgen. Aber auch falsch verstandene Vorstellungen von Patientenautonomie bzw. Selbstbestimmung befördern diesen Wandel genauso wie gesundheitspolitische Vorgaben, in denen individuelles gesundheitsbewusstes Verhalten bzw. Verschulden von Krankheitsverursachung gegenüber sozialen Faktoren zunehmend überbetont wird. Im Folgenden werden einzelne Ebenen dargestellt, auf denen dieser neoliberale Umbau vollzogen wird.

Krankenversicherung und Solidarität

Die Leistungsfähigkeit der (zumindest in einigen Grundzügen) solidarisch finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung GKV wird weiter ausgehöhlt: Dazu tragen u.a. unsinnige finanzielle Belastungen (wie durch das Scheitern einer Positivliste für Arzneimittel) bei, doch nicht zuletzt auch gesetzliche Regelungen wie Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze, die Besserverdienende aus der Solidarität entlassen und andere Personengruppen erst gar nicht einbeziehen.

Zudem wird das System einer solidarischen Krankenversicherung in der politischen Debatte totgeredet: Immer wieder (und immer wieder falsch) wird die Mär einer Kostenexplosion ausgebreitet, die aufgrund einer Überalterung der Gesellschaft, kostenträchtiger medizinisch-technischer Weiterentwicklungen und zu hoher Inanspruchnahme medizinischer Leistungen eine gesetzliche Krankenversicherung in der uns bekannten Form nicht finanzierbar machen würde. Ein über 25 Jahre nahezu gleich bleibender Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt belegt aber das Gegenteil. Auch im internationalen Vergleich ist zu sehen, dass bspw. Schweden mit einer eher ungünstigen Alterstruktur in der Bevölkerung relativ geringe Gesundheitsausgaben hat.

Die Akzeptanz der GKV in der Bevölkerung wird außerdem geschwächt durch die wachsende Zahl an Leistungsausgrenzungen, Zuzahlungen und »Eigenleistungen«. Der so genannte Arbeitgeberanteil liegt längst weit unter 50 Prozent, die Kapitalseite wird mehr und mehr entlastet, zuletzt z.B. um über vier Mrd. Euro durch den so genannten »Zusatzbeitrag« in Höhe von 0,9 Prozent, der seit 1. Juli 2005 alleinig von den Versicherten aufzubringen ist. Diejenigen, die sich in eine Privatversicherung verabschieden können, tun dies nun in wachsender Zahl; und diejenigen, die in einer gesetzlichen Krankenversicherung bleiben (müssen), werden immer unzufriedener mit dem Leistungsangebot, da ihnen zusätzlich immense, privat zu tragende Kosten aufgebürdet werden.

Der Einstieg in ein Modell privater Zusatzversicherungen scheint da nur folgerichtig. Das FDP-Programm sieht neben einer obligatorischen Basisversicherung gleich nur noch privaten, kapitalgedeckten Krankenversicherungsschutz vor, mit persönlicher Wahlfreiheit je nach Vorlieben (und Portemonnaie). Auch die CDU plant mit ihrem zynischerweise »solidarische Gesundheitsprämie« genannten Modell eine Beerdigung des Solidarprinzips: Alle Erwachsenen sollen nämlich einkommensunabhängig die gleiche Kopfpauschale für ihren Krankenversicherungsschutz einbezahlen.

Der »freie Markt« soll's richten

Wenn nun so der Boden bereitet ist dafür, dass ein radikaler Umbau zwar Unmut aber nicht gleich große Protestwellen in der Bevölkerung hervorruft, finden auch weitere Vokabeln schneller offene Ohren:

»Wahlfreiheit«, sowohl für die Versicherten bei der Auswahl ihrer Kasse, aber auch für die miteinander konkurrierenden Krankenkassen hinsichtlich des angebotenen Leistungsspektrums sowie »Vertragsfreiheit«, d.h. die Kassen können entscheiden, bei welchen Kliniken und ÄrztInnen ihre Versicherten behandelt werden können

Abschaffung »obrigkeitsstaatlicher Kontrolle«; bessere Gesundheitsleistungen durch »Konkurrenz« und kundenorientierte privatwirtschaftliche Anbieter sowohl im stationären wie im ambulanten Bereich

»Selbstbestimmung« oder Risikoverantwortung für alle BürgerInnen

Dabei wird unterschlagen, dass Marktwirtschaftlichkeit den Kostendruck noch erhöhen und die Ressourcenkrise verschärfen kann. Denn so entstehen falsche Anreize zu gewinn-maximierenden Maßnahmen, die medizinisch vielleicht gar nicht angebracht sind und nicht zum Wohlergehen beitragen, aber kostenträchtig sind. Erwähnt sei hier bspw. ein unsinnig hoher Einsatz von technologischen Geräten wie Computertomografie, aber auch der Ausbau von Lifestyle-Medizin. Die Konkurrenz unter den Kassen führt zudem dazu, dass sich ihr Angebot ausrichtet an denjenigen Versicherten, die eher mehr einzahlen, als sie an Gesundheitskosten verursachen bzw. daran, welche Leistungen entsprechend honoriert werden, und eben nicht daran, welche essentiellen Bedürfnisse kranke Menschen haben.

Also geht es um Profit-Absicherung und nicht um einen »freien Markt«, über den dann eine optimale Gesundheitsversorgung geregelt würde. Deutlich wird dies beim Schutz von Monopolen oder Oligopolen im Bereich der Pharmaindustrie oder dem Ausschluss unerwünschter Konkurrenz aus der Alternativmedizin. Zudem sollen Altlasten und bestehende »Schulden« kommunaler Krankenhäuser vor einer Privatisierung von der Öffentlichkeit getragen werden; das alte Spiel somit: Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Schulden bzw. Ausgaben.

Krankenhausfinanzierung nach DRG

In der nächsten Zeit wird die gesamte Finanzierung der stationär erbrachten Leistungen (mit Ausnahme der Psychiatrie) nach so genannten Diagnosis Related Groups (Fallpauschalen) erfolgen. D.h. die Kliniken erhalten diagnosebezogen eine einheitlich fixe Summe erstattet, unabhängig davon, welches Angebot diese Einrichtung insgesamt für die Bevölkerung vorhält, welche PatientInnen versorgt werden und welcher Aufwand hierfür erforderlich ist. Damit werden Behandlungskosten nicht nur kalkulierbar, was nicht an sich das Problem ist, sondern auch zwischen den unterschiedlichen Abteilungen eines Krankenhauses verrechenbar. Ein »Krankheitsfall« wird auf diese Weise warenförmig organisiert. Dies garantiert für die PatientInnen einen Behandlungsablauf, der auf ihren individuellen Gesundheitszustand kaum mehr Rücksicht nimmt. Eine Verkürzung der Behandlungsdauer kann eine baldige Wiederaufnahme bedingen (»blutige Entlassung«). Für die Beschäftigten hat das neue Abrechnungswesen einen erhöhten arbeitsorganisatorischen Druck und z.T. auch gewaltige Lohneinbußen bzw. Entlassungswellen zur Folge. Insbesondere in privatisierten Unternehmen ohne tarifvertragliche Bindungen ist dies der Fall. Viele kleinere kommunale Krankenhäuser werden aufgrund mangelnder »Rentabilität« geschlossen oder eben privatisiert werden.

Privatisierung der Krankenhauslandschaft

Die Einführung der DRGs bevorteilt die privaten Klinikbetreiber; Kliniken in öffentlicher Trägerschaft müssen sich in der Unternehmensführung entweder angleichen (auch als Vorbereitung für eine Privatisierung), werden geschlossen oder von privaten Aktiengesellschaften geschluckt. Absehbar werden ein oder zwei Handvoll Groß-Konzerne demnächst einen Großteil der deutschen Krankenhauslandschaft besitzen, die Löhne drücken, die Arbeitsbedingungen verschärfen und ggf. die vorgehaltene Versorgung einschränken (zumindest was die Erreichbarkeit und Wohnortnähe anbelangt). Im Sinne der Aktionäre geht es dabei zum einen um eine direkte Gewinn-Abschöpfung; die Rendite für das eingesetzte Kapital liegt im zweistelligen Prozentbereich. Zig Millionen Euro aus dem Gesundheitsetat wandern so schon jetzt Jahr für Jahr auf die Konten der Aktionäre, obwohl derzeit erst ca. acht Prozent der Krankenhäuser privatwirtschaftlich betrieben werden. Zum anderen aber betreiben einige der großen privaten Krankenhaus-Aktiengesellschaften auch ein Eindringen in den Bereich der Forschung und Ausbildung. So versuchen sie, Behandlungsstandards und Leitlinien unter ihrer Regie festzulegen, nicht zuletzt im Interesse von Privatversicherungskonzernen, Geräteherstellern oder der Pharmaindustrie, die z.T. in den Vorständen dieser Krankenhaus-AGs sitzen.

»Autonomie« oder: Patienten als »Kunden«

Wahlfreiheit und Selbstbestimmung sind die Schlagworte, mit denen u.a. FDP und Arbeitgeberverbände nicht nur den Ausstieg aus einer (zumindest annähernd) solidarischen Krankenversicherung anstreben, sondern auch im gesellschaftlichen Bewusstsein eine Neu-Definition des Status von PatientInnen durchsetzen wollen: Nicht mehr eine »gängelnde Staatsbürokratie« oder paternalistische ÄrzteInnen dürfen über die Gesundheitsversorgung entscheiden, sondern jedes einzelne Individuum soll »frei« auswählen können, welche Krankheitsrisiken in welchem Maße versichert werden und welche Behandlung durchgeführt wird.

Diese sehr populistischen Formulierungen beinhalten natürlich gleich eine ganze Reihe von Fehlern: Krankheitsrisiken sind für Einzelpersonen kaum vorhersehbar. Die Wahl derjenigen Erkrankungen, die versichert sein sollen, kann kaum nach rationalen Überlegungen hinsichtlich einer Wahrscheinlichkeit und Schwere erfolgen, sondern wird durch die finanzielle Situation jedes Einzelnen gesteuert. Gerade die Schlechterverdienenden werden somit ein ungleich höheres Risiko eingehen (müssen), bei einer bestimmten Erkrankung nicht versichert zu sein und dementsprechend keine adäquate Behandlung zu bekommen.

Eine größere Patientenbeteiligung bei den Entscheidungen im Behandlungsablauf ist sicherlich eine unter-stützenswerte Forderung. Wenn aber hier aus PatientInnen KundInnen werden, denen im Krankenhaus oder in der Praxis eine Produktpalette angeboten wird zur Auswahl, wird der Begriff Patientenautonomie in falscher Weise gewendet. Die Alternative zur Vorstellung, PatientInnen als hilfsbedürftige Mündel ärztlicher und pflegerischer Fürsorge zu betrachten, darf nicht darin bestehen, sie nun zu selbstbestimmten, »befreiten« und eigenverantwortlichen »UnternehmerInnen des eigenen Körpers« (Frigga Haug) zu machen. Stattdessen muss es darum gehen, die Erkrankten in einem partnerschaftlichen Verhalten zu befähigen, die bestmögliche Entscheidung für sich treffen zu können. Alleingelassen fehlen den allermeisten Menschen die Kompetenz und das Wissen, erst recht in einer Notlage. Das Pochen auf »Eigenverantwortung« der PatientInnen darf also nicht die BehandlerInnen aus ihrer Verantwortung der kranken Person gegenüber entlassen. Ärztliche und pflegerische Tätigkeit muss das Patientenwohl zum unumstrittenen Ziel haben, ohne den Zwang, betriebswirtschaftlich denken zu müssen oder den Ehrgeiz, wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen von Experimenten zu erhalten, aber auch ohne in alte paternalistische Modelle zurückzufallen.

Selbstbestimmung der PatientInnen sollte als Orientierungspunkt für BehandlerInnen mit ihrem Heilauftrag dienen, eine Handlungsautonomie möglichst weitgehend herzustellen. Schmerzen, Angst, Leiden und Verletzbarkeit führen zu einer Abhängigkeit von den behandelnden ÄrztInnen und Pflegekräften. Das erfordert ein persönliches Vertrauensverhältnis und ein Vertrauen auf deren unbedingtes ethisches Verhalten. Dieser Schutzanspruch findet in dem liberalen Markt- und Kunden-Verständnis keinen Platz. Die Rolle des Kunden ist im Krankheitsfall völlig unangebracht. Jedoch ist sie ein wichtiger Puzzlestein für die Durchsetzung neoliberaler Denkmuster im Gesundheitswesen.

»Würdevolles Sterben«, Sterbehilfe, sozialverträgliches Frühableben und Gesundheitsideale

Geplant ist auch, die Reichweite von Patientenverfügungen auszudehnen und nicht auf den unmittelbaren Sterbeprozess oder sicher tödlich verlaufende Erkrankungen zu beschränken. Deklariert als »Selbstbestimmung für ein würdevolles Sterben« sollen nach den Vorstellungen von FDP und Teilen der SPD neue gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden: Für jede mögliche Erkrankung, Behinderung oder Unfallfolge sollen Menschen im Vorhinein die Einstellung lebensrettender oder -erhaltender medizinischer Behandlung beschließen können, wenn sie eine solche Situation vorab als unerträglich einschätzen. Diesen (potentiell) erkrankten Menschen geht es aber zumeist nicht um würdevolles Sterben, sondern um die Angst, unter den gegebenen sozialen Verhältnissen, in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft, bei unzulänglicher Bereitstellung von Hospizplätzen oder Schmerztherapie und unter dem Kostendiktat oft un-menschlicher Pflege nicht mehr würdevoll leben zu können oder aber den Angehörigen zu sehr auf der Tasche zu liegen. Ergänzt mit einem europaweiten Vordringen der Sterbehilfediskussion (siehe Eröffnung einer Filiale der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas in Hannover) werden Voraussetzungen zu einem »sozialverträglichen Frühableben« geschaffen. Hier geht es um die Entledigung von »Überflüssigen« und nicht um Förderung von Selbstbestimmung auch beim Sterben.

Gesellschaftliche Verantwortlichkeit

Glaubt man den Äußerungen vieler GesundheitspolitikerInnen, aber auch von KrankenkassenvertreterInnen und ÄrztInnen, so ist ein Großteil aller Erkrankungen zurückzuführen auf individuelles Fehlverhalten und Selbstverschulden. Gesunderhaltung sei deshalb in großem Maße steuerbar z.B. durch bewusste Ernährung oder entsprechendes Sport- und Freizeitverhalten. Gesellschaftliche Ursachen für Krankheitsverursachung werden von den neoliberalen Strategen ausgeblendet. Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung werden verstärkt auf der individuellen Ebene der Verhaltensänderung eingesetzt, statt als soziale Querschnitts-Aufgabe verstanden, die insbesondere sozial Benachteiligten zugute kommen und an den Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen ansetzen muss. Ein Rollback und zunehmende Medikalisierung bzw. Medizinisierung findet bei Erkrankungen statt, für die zuvor auch von der Ärzteschaft eine gesellschaftliche (Mit-)Bedingtheit anerkannt wurde, wie z.B. beim Magengeschwür. So entsteht eine Entvergesellschaftung und Entsolidarisierung; Gesellschaft, Kapital und Politik werden aus ihrer Verantwortung für die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit entlassen. Sozial bedingte Risiken (aufgrund von Wohn-, Arbeits- oder Einkommensverhältnissen, Zugang zu Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, gesellschaftlichem Status und sozialer Verankerung) werden ignoriert und/oder privatisiert.

Umformung des Gesundheitsbegriffs

Unter Gesundheitsversorgung wird vom Verfasser die Bereitstellung aller medizinischer und nicht-medizinischer Maßnahmen bzw. Rahmenbedingungen verstanden, die notwendig sind, um der gesamten Bevölkerung eine möglichst uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe und Mobilität zu gewährleisten. Dies muss insbesondere für diejenigen mit Behinderung oder bleibender schwerer Erkrankung gelten und darf nicht in einen überhöhten und damit ausgrenzenden Gesundheitsbegriff münden. Demgegenüber versucht die Wissenschafts- und Machtelite einen Gesundheitsbegriff zu formen, der »eigenverantwortliches« gesundheitsbewusstes Verhalten zur Grundlage sowie »Gesundheit« zur Norm macht. Die Verantwortung und Schuld für Erkrankungen wird dabei dem Individuum zugeschoben. Wer nicht dazu passt, hat nicht nur Pech, sondern ist zudem selber schuld.

Protest, Widerstand und Notwendigkeit einer ethischen Debatte

Der noch viel zu schwache Widerstand gegen den neoliberalen Angriff im Gesundheits- und Sozialbereich orientiert sich zumeist an einem Festhalten am bestehenden System und dem Einfordern alter errungener sozialer Rechte. Sicherlich wäre dies weitaus besser als das, was uns droht. Doch kann so aus dem Blick geraten, dass das defensive Beharren auf dem Status Quo der Zielsetzung eines solidarischen Gesundheitssystems kaum gerecht wird und nicht überzeugen kann.

Als Voraussetzung für die Durchsetzung einer sozialen Verantwortung für Gesundheit und Krankheit bedarf es zum einen eines Gesundheitsbegriffs, der neben biologisch-physikalischen Faktoren auch psycho-soziale und Umweltfaktoren einbezieht. Zum anderen aber besteht vornehmlich die Notwendigkeit einer Ethik-Debatte: Diskurse über Rationalisierung / Rationierung in der Medizin und Gerechtigkeitsmodelle (Leistungsge-rechtigkeit oder Verteilungs- bzw. Chancengerechtigkeit) dürfen nicht den bekennenden Kapitalisten überlassen werden. Aufgezeigt werden muss, dass utilitaristisches Kosten-Nutzen-Denken bzw. reine Kosten-Effektivitäts-Überlegungen im Gesundheitsbereich fehl am Platze sind. Diese Debatte muss in die Öffentlichkeit getragen werden unter Einforderung einer Liste unveräußerlicher individueller Rechte wie Garantie der Hilfe, Gleichbehandlung, Diskriminierungsverbot und besondere Förderung bzw. Schutzmaßnahmen für Benachteiligte. Damit dies nicht abstrakt bleibt und wirkungslos verpufft, müssen diese Forderungen nach Rechten eingebracht werden in die realen Kämpfe von PatientInnen, Beschäftigten und BürgerInnen allgemein.

Diese ethischen Prinzipien für die Ausgestaltung des Gesundheitssystems (im engeren Sinne) bzw. einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik können somit Leitbild, Messlatte und verbindende Klammer für all diejenigen sein, die sich an unterschiedlichsten Stellen gegen den neoliberalen Umbau zur Wehr setzen oder versuchen, Einfluss zu nehmen auf die Politik. So kann z.B. der Widerstand gegen Krankenhausprivatisierungen breitere Unterstützung gewinnen, wenn es um mehr als Besitzstandswahrung für die derzeit Beschäftigten geht. Auch die manchmal eher fragwürdige Partizipation von PatientenvertreterInnen oder NGOs in gesundheitspolitischen Gremien, Ethikkommissionen, bei der Verfahrensbeteiligung in Bürgeranhörungen oder Projekten im Rahmen des Healthy-City-Programms wie aber auch der Widerstand gegen Hartz IV können so gestärkt werden und eine neue gemeinsame Perspektive erhalten.

Dazu bedarf es einer klaren Analyse, um Fehlentwicklungen bzw. Missstände öffentlich zu machen bzw. laut zu skandalisieren. Reale Beteiligungsrechte müssen eingefordert und wahrgenommen werden. Die allgemeine Grundlage für gesundheitspolitische Forderungen und Aktivitäten muss dabei eine öffentlich und laut geführte Debatte um Ethik und Gerechtigkeit liefern. Nur so können wir es schaffen, eine umfassende Gesundheitsversorgung für alle herzustellen und nicht auch dieses existentielle Feld den Profitgeiern, Sozialplanern und Eugenikern zu überlassen.

* Siegfried Dierke ist Arzt, Gesundheitswissenschaftler und PatientInnenberater und lebt in Berlin

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/05


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