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Der neue Geist des Kapitalismus

Kreativität und Initiative als moderne Arbeitstugenden

Wie kommt es, dass Menschen sich (mehr oder minder) freiwillig einer irrationalen und zerstörerischen Maschinerie unterwerfen? Diese Frage stellen sich die beiden SozialwissenschaftlerInnen Luc Boltanski und Eve Chiapello. Vier Jahre lang, von 1995 bis 1999, haben sie an ihrem Essay Le nouvel esprit du capitalisme ("Der neue Geist des Kapitalismus") gearbeitet. Herausgekommen ist ein dicker Wälzer, der mit erheblichem Erkenntnisgewinn zu lesen ist.

Für die Fortsetzung des kapitalistischen Verwertungsprozesses, so Boltanski und Chiapello, sind gesellschaftliche Legitimations-Mechanismen nötig, welche ihre Wirkungskraft nicht aus dem kapitalistischen Akkumulationsprozess selbst schöpfen können. Diese Mechanismen fußen daher auf außerhalb der Verwertung selbst angesiedelten sozialen, ideologischen oder moralischen Glücksverheißungen, Antrieben, Regeln, Geboten und Verboten.

Die Autoren halten sieben unterschiedliche Modalitäten der Regulierung gesellschaftlichen Handelns unter kapitalistischen Bedingungen fest (die Autoren sprechen von Cités, d.h. "Gemeinwesen" als idealförmigen Gesellschaftskonzepten). So konstatieren sie die Existenz einer Gesellschaftsordnung, die auf religiös-spirituellen Legitimationsformen fußt, neben einer "häuslichen", d.h. auf familiären Gesellschaftsformen fußenden Sozialordnung (die gesellschaftliche Rollenverteilung wird durch Abstammung, Verwandtschaftsgrade und Altershierarchien bestimmt). Drittens findet Legitimation statt durch gesellschaftliche "Ehren"kodexe und - zum Vierten - durch "staatsbürgerliche", d.h. politische, Rechtfertigungsmodelle.

Mobile Gewinner, langsame Verlierer

Die fünfte Cité ist die "marktförmige", d.h. rein auf den Austausch konzentrierte Regulationsform (Austausch unter gleichwertigen Handelspartnern, was die Gewährleistung freier Konkurrenz und formal gleicher Ausgangsbedingungen voraussetzt); die sechste ist die "industrielle". Sie basiert nicht auf Tausch und Handel wie die vorangegangene, sondern auf der Organisierung einer möglichst rationalen Produktionsform und der Erzielung höchstmöglicher Effizienz im technischen Sinne. Sie ist mit planwirtschaftlichen (staatlichen) Formen ebenso vereinbar wie mit einer Produktionsweise, die auf zentralisierten (kapitalistischen) Großbetrieben beruht. Als siebte Organisations- und Legitimationsform kommt eine neue hinzu, die nach Ansicht der Autoren erst im Entstehen begriffen ist - und die sie konkret aus Textanalysen der Management-Literatur ableiten, die sich an die leitenden Angestellten, Manager und "Leistungsträger" richtet. Diese taufen sie la Cité par projets, also das "durch Projekte begründete Gemeinwesen".

Es ist das Idealbild einer Gesellschaft, die von dauerhaften Bindungen frei ist, in welcher alle Akteure ein Maximum an individueller Mobilität aufweisen und sich auf die für sie profitabelste Weise miteinander "vernetzen" - aber jeweils nur auf Zeit. Eine solche Gesellschaft, die (nur) auf den ersten Blick ein Chaos darstellt, ist nicht frei von Hierarchien. Denn jene, die am mobilsten und autonomsten sind, finden sich ganz oben in der Hierarchie und nutzen die von ihnen und anderen geknüpften "Netzwerke" zu ihrem eigenen Profit - ob es sich um Individuen handelt oder um multinationale Konzerne. Benachteiligt sind hingegen die anderen: die Langsamen, jene, die sich nicht schnell genug anpassen - Personen ebenso wie Nationalstaaten und arbeitende Bevölkerungen.

Nach Analyse der Autoren dominierten im französischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 vor allem die "familiäre" und die "marktförmige" Legitimations-Dimension. Diese Phase ist (in Frankreich) geprägt durch eine Produktionsstruktur, die zum größeren Teil auf Familienbetrieben und der persönlichen Führung durch "große" Unternehmer-Persönlichkeiten und -Familien (Michelin, Renault ...) beruht.

Von den 30er bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hingegen dominiert, jedenfalls in Frankreich, klar die "industrielle" Legitimationsform, kombiniert mit der "staatsbürgerlich"-politischen. Einige der Elemente seiner Kritiker und Gegenmodelle (der Stalinischen UdSSR und des faschistischen Etatismus) aufgreifend, integriert der Kapitalismus neue Dimensionen: jene der langfristigen und zentralisierten Planung der Produktion, der Konzentration in Großbetrieben. Daneben tritt eine soziale Absicherung der Lohnabhängigen durch Arbeits- und Sozialgesetze.

Nach einigen Jahrzehnten gerät auch dieses Modell in die Krise. In Frankreich (mit der Systemkrise im Mai 1968), aber auch in den anderen westlichen Industrieländern kommen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre tiefe Krisenprozesse zum Ausdruck. Materiell (relativ) abgesichert und mit langfristig garantierten Arbeitsplätzen versehen, revoltieren bedeutende Teile der abhängig Beschäftigten, vor allem der jungen Generationen gegen die gesellschaftliche Ordnung. Ihr Aufbegehren bringt neuartige Forderungen hervor. Dem als monoton und abstumpfend empfundenen Fabrikleben wird, neben kollektiven sozialen Forderungen, auch das Verlangen nach mehr Individualität, Kreativität und persönlicher Entfaltung (wie freier Sexualität, mehr Fantasie im Alltag usw.) entgegen gehalten. Und gleichzeitig gerät die Einöde-Idylle des bürgerlichen (Klein-)Familienlebens, das bis dahin die Grundlage und "Keimzelle" jeder kapitalistischen Gesellschaftsformation gebildet hatte, unter den Beschuss massiver Kritik. In den darauf folgenden Jahrzehnten ist seitdem ein Prozess im Gange, der eine neue (bisher noch unvollendete) Konfiguration des Kapitalismus hervorbringt - die vor allem auf der siebten Legitimationsform, der Cité par projets, beruht.

Für Boltanski und Chiapello ist der Kapitalismus im Laufe seiner Geschichte vier grundlegend unterschiedlich motivierten Kritikformen ausgesetzt. Für den jüngeren Zeitraum teilen die beiden Autoren "die Kritik" in zwei Kategorien ein. Die eine hat die wirtschaftlich-sozialen Aspekte zum Gegenstand (die Kritik an der auf dem Markt herrschenden Ungleichheit und an der Kälte und dem Egoismus der vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft); die andere thematisiert die Aspekte der freien persönlichen Entfaltung (Kritik an der Unterdrückung des Individuums durch Organisationsformen - Fabrik, bürgerliche Familie - und an der mangelnden "Authentizität" des Lebens im Kapitalismus auf Grund dessen Tendenz zur Vermarktung). Beide wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts laut, aber - so die Grundthese der Autoren - vom Kapitalismus erfolgreich gegeneinander benutzt. Die Autoren sprechen auf der einen Seite von der critique sociale und auf der anderen von der critique artiste (Kritik des Künstlers), weil der idealtypische Vorläufer dieser Kritikform im 19. Jahrhundert durch den Künstler und, mehr noch, den Bohemien verkörpert wird, der außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit sein Leben führt und seiner Fantasie und Kreativität freien Lauf lässt.

In den Jahren um und nach 1968 reagierten die Funktionäre des Kapitals zunächst auf die Ereignisse, indem sie in den sozialen Ausbrüchen einen Ausdruck der ihnen bis dahin bekannten und gewohnten Kritik sahen - der critique sociale, getragen durch Gewerkschaften und Linksparteien. Folglich zeigten sie sich zu einigen materiellen Zugeständnissen bereit, um die Konflikte in den gewohnten Bahnen zu regeln: durch Lohnerhöhungen, Arbeitsplatz-Sicherheit usw. Doch die Kritik beruhigte sich nicht, im Gegenteil, die drohende "Unregierbarkeit" in den Fabriken nahm zu. Den Einschnitt der Ölkrise 1973/74 nutzend, machte das Lager der Kapitalvertreter eine Kehrtwende und nahm in zunehmendem Masse bisher gemachte Zugeständnisse an die "soziale Kritik" zurück.

Denn ebenso wie eine Reihe von Beobachtern - namentlich Arbeitssoziologen - analysierten sie nunmehr diese Konflikte als solche eines neuen Typs, in deren Mittelpunkt tendenziell eher die von den Autoren so getaufte critique artiste stand. Namentlich die jungen Beschäftigten (unter den Arbeitern, aber auch unter dem Nachwuchs an Führungsfunktionären des Kapitals) wollten vor Bevormundung und sinnentleert erscheinende Fabrikhierarchien überwinden und ihre Persönlichkeit entfalten, einschließlich ihrer im Schul- und Studienleben erworbenen Kapazitäten. Letztere galt es zu nutzen und, auf längere Frist hin, Gewinn bringend einzusetzen.

Um eine Art "Revolution von oben" zu starten, lancierten die Kapitalverbände eine Reihe von Untersuchungen und wissenschaftlicher Studien. Ein französischer Verband von Direktoren und Personalchefs schickte sogar eine Delegation ins titoistische Jugoslawien, um zu studieren, wie unter den Bedingungen des dortigen "Selbstverwaltungs-Sozialismus" die Produktion funktionieren konnte. In Frankreich selbst begannen Kapitalorganisationen sich für die Thematik der autogestion ("Selbstverwaltung") zu interessieren, die zum zentralen Slogan diverser linksradikaler Bewegungen nach dem Mai 1968 geworden war.

Ex-Rebellen als nützliche Idioten

Während ab Mitte der 70er Jahre die großen Produktionsstätten in kleinere Einheiten zerlegt werden, versucht das Management gleichzeitig, bisher unerschlossene Kreativitätspotenziale bei den einzelnen Beschäftigten auszuschöpfen. Persönliche Initiative und Kreativität wird nunmehr ausdrücklich von den Arbeitenden gefordert - natürlich im Sinne einer Optimierung des Verwertungsprozesses.

Und schließlich sind die klassischen bürgerlichen Familienstrukturen vielfach gesprengt, ist die Mobilität und fehlende "Ortsverwurzelung" selbst zum Wert erhoben worden. Diese Entwicklung resultiert zugleich aus (vor allem nach dem "Kulturbruch" um 1968) veränderten Wünschen, Mentalitäten und Verhaltensweisen in der Gesellschaft - und insbesondere den jungen Generationen - wie auch aus veränderten Anforderungen, die das Arbeitsleben an die Angehörigen der Gesellschaft stellt: Diskontinuierliche Jobs und längere Phasen von Arbeitslosigkeit, daneben erhöhte Anforderungen an Mobilität und Anpassungsfähigkeit haben das Ihre dazu beigetragen, traditionelle Formen des Privat- und Familienlebens zu zerstören.

Die von den Autoren so genannte critique artiste schien, im Zuge der ab 1975 einsetzenden Veränderungen der vorherrschenden Gesellschaftsform, zunächst mit deren objektiver Entwicklungstendenz in Übereinstimmung (wenn nicht im Bunde) zu stehen. Und so ist es kein Wunder, wenn eine Anzahl jugendlicher "Revoluzzer" von gestern heute, mit ihrem rebellischen Gestus von damals, zu objektiven Begleitern und Fürsprechern der dominierenden ökonomischen Logik geworden sind. Jene hätten noch nicht bemerkt, schreiben die Autoren, dass "der Kapitalismus heute nicht mehr mit der Familie und der Religion, geschweige denn der Moral, liiert ist", weshalb ihr Rebellentum hohl und aufgesetzt sei - und zugleich prächtig in das Schema der Vermarktung passe. (Wer muss hier nicht an Daniel Cohn-Bendit denken ...!)

Die critique sociale wurde unterdessen vom gesellschaftlichen Zug abgehängt. Durch die Neustrukturierung des Kapitalismus überrollt und von diesem nicht mehr als Ansprechpartner ernst genommen, waren deren Träger (Gewerkschaften, Linksparteien) nicht mehr in der Lage, ihrem Publikum materielle Vorteile zu liefern. Es war letztendlich der Kapitalismus, und nicht der Kommunismus, der scheinbar auf viele der Wünsche und Forderungen der 68er Generation einging und ihnen neue Identitäts- und Konsumangebote zur Verfügung stellte. Die Idee eines kollektiven, sozialen Alternativprojekts schien damit als "rückwärts gewandt und spießig", dazu verdammt, in die Rumpelkammer der Geschichte geräumt zu werden.

Boltanski und Chiapello sehen eine Zukunftshoffnung darin, zugleich die critique sociale wieder aufleben zu lassen und analytisch auf die Höhe der veränderten Formen des Kapitalismus zu bringen - in Frankreich konstatieren sie einen Neuaufschwung dieser Kritikform seit Mitte der Neunziger Jahre - und die critique artiste von ihrer Instrumentalisierung durch das herrschende ökonomische System zu befreien. Denn früher oder später müsse sich herausstellen, dass der Kapitalismus die von der critique artiste formulierten Wünsche nach voller Entfaltung der dem Menschen innewohnenden Potenziale gar nicht einlösen könne, sondern lediglich darauf abziele, aus den Teilnehmern am Produktionsprozess "das Beste herauszuholen" und deren Kreativitätspotenziale optimal zu nutzen.

Bernhard Schmid, Paris

Luc Boltanski/Eve Chiapello: Le nouvel esprit du capitalisme; Paris (Gallimard) 1999, 843 Seiten, 195 Francs

Die Besprechung ist erschienen in: ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis ak 438 vom 16.5.2000

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