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Updated: 18.12.2012 15:51
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Unter den Rädern des Ökonomismus

Neoliberalismus und Finanzkrise bleiben ohne soziale Kämpfe unverstanden

Bereits ein kurzer Streifzug durch den linken Blätterwald zeigt, dass die allermeisten Analysen zur Finanz- bzw. Weltwirtschaftskrise ökonomistisch imprägniert sind: Die in der neoliberalen Epoche erfolgte Aufblähung der Finanzmärkte wird primär im Horizont einer bis heute andauernden Verwertungskrise des Kapitals rekonstruiert - ohne substanzielle Einbettung in gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnisse geschweige denn soziale Kämpfe. Umgekehrt fallen Überlegungen zu etwaiger Widerständigkeit in Sachen Krise nicht selten überschäumend, ja voluntaristisch aus. Beides ist irreführend und muss auf den Prüfstand.

Einer derjenigen, welche die stockende Kapitalakkumulation ins (alleinige) Zentrum ihrer Analyse rücken, ist der attac - und IL -Aktivist Werner Rätz. Unter dem Titel "Wohin mit dem ganzen Geld?" argumentiert er streng werttheoretisch: Danach sei in den fordistischen Fabriken der 1950er und 1960er Jahre ein derart großer "Überhang an akkumuliertem Kapital" entstanden, dass dieser nicht mehr profitabel hätte re-investiert werden können. Zum "reinen Schatz" degradiertes Kapital sei aber "der kapitalistische Gau" schlechthin, deshalb sei das überschüssige Geld in fiktives Kapital verwandelt, d.h. auf die Finanzmärkte verschoben worden.

Einziger Haken: Die dort erzielten Gewinne müssten ebenfalls aus der sogenannten Realwirtschaft bedient werden, insofern sei die "Geschichte des modernen Finanzkapitalismus, oder wenn man so will des Neoliberalismus, (...) die Geschichte davon, wie der Ausbruch der Krise von Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre bis heute hinausgezögert wurde." ( SoZ 11/2008)

Gesellschaft als umkämpftes Terrain

Auch der Politologe Georg Fülberth - immerhin einer der profiliertesten Kenner der Arbeiterbewegung - kommt in seiner Beschreibung der Finanzkrise ohne jeden Bezug auf die Frage aus, in welchem Zusammenhang die jeweiligen Profitabilitätsraten des Kapitals mit den (rebellischen) Aktivitäten der LohnarbeiterInnen oder anderer sozialer Bewegungen stünden. Vielmehr heißt es kurz und bündig: "Die Rezession von 1975 wurde dadurch überspielt, dass das Kapital gleichsam arbeitsscheu wurde: Zu erheblichen Teilen verzog es sich aus der Produktion in die Zirkulation und trug zur Aufblähung des Finanzsektors bei. Dadurch ließen sich sogar hohe Wachstumsraten erzielen, allerdings schließlich unter Bildung einer Blase, die jetzt geplatzt ist." ( Freitag 51/2008)

Erwähnt sei zu guter Letzt Lucas Zeise - linker, ja prominenter Kolumnist bei der Financial Times Deutschland : In seinem äußerst lesenswerten Buch zur Finanzkrise ("Ende der Party", vgl. ak 533) hält er zwar an zentraler Stelle fest, dass "ein relativ stärker wachsender Finanzsektor eine Konsequenz ungleicher werdender Einkommensverhältnisse" sei, dennoch bleibt Entscheidendes auf der Strecke: Die von ihm in dürren Worten adressierte Einkommensschere zwischen Löhnen und Gewinnen ist kein Automatismus im Lichte sinkender Profitraten gewesen. Sie musste erst, spätestens seit Ende der 1970er Jahre, gegen den erbitterten Widerstand der Weltarbeiterklasse durchgesetzt werden - so wie im Übrigen auch hohe Löhne alles andere als eine Selbstverständlichkeit sind bzw. waren.

Sicherlich, sämtliche der skizzierten Fakten und Zusammenhänge sind zutreffend, mithin zentral. Dennoch scheint es angebracht, von ö konomistischen Untiefen zu sprechen, einfach deshalb, weil Elementares nicht bzw. allenfalls am Rande Erwähnung findet und somit ein schiefes Gesamtbild zu entstehen droht:

1. Rätz, Fülberth & Co. versäumen es, Gesellschaft als umkämpftes Terrain zu konzeptualisieren, als einen Ort, an dem gesellschaftliche Akteure um Interessen ringen - beispielsweise um ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, um Papiere oder um politische Teilhaberechte. Konsequenz ist, dass die Ende der 1960er Jahre ausgebrochene Krise des Fordismus nicht als Ausdruck gesellschaftlicher (Klassen-)Kämpfe, sondern als kapitalimmanente Verwertungsproblematik bestimmt wird, welche ihrerseits in die neoliberale und nunmehr implodierte Finanzialisierung des Kapitalismus eingemündet wäre. Demgegenüber gilt es, den seit rund 30 Jahren währenden Prozess der globalen Neoliberalisierung mit David Harvey als ein "von oben" eingefädeltes und politisch umkämpftes Projekt zur "Wiederherstellung kapitalistischer Klassenmacht" zu begreifen. (1) Und somit auch als einen Vorgang, welcher - je nach konkretem Kräfteverhältnis - geografisch und zeitlich ganz unterschiedliche Ausprägungen angenommen hat.

2. So einprägsam - jedenfalls auf den ersten Blick - die allenthalben bemühte Metapher der "aufgeschobenen Krise" ist, sie entpuppt sich bei näherem Hinsehen als bagatellisierende Nebelkerze. Denn aufgeschoben wurde lediglich jene bereits vor drei Jahrzehnten aufgetretene Verwertungskrise des Kapitals. Ansonsten dürfte sich das allermeiste fundamental verändert haben: Ob durch Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Marktöffnungen oder Privatisierung öffentlicher bzw. staatlicher Güter, die Neoliberalisierung hat rund um den Globus tiefe Spuren hinterlassen, insbesondere hat sie durch systematische Umverteilung von unten nach oben Kapitalmassen in einem Ausmaß geschaffen, wie es Anfang der 1970er Jahre selbst abgebrühtesten ZeitgenossInnen undenkbar erschienen wäre.

Militante Streiks und fordistischer Pakt

Kurzum: Anstatt auf strukturelle Analogien zu pochen - nicht selten im Gestus linker Genugtuung - sollten vielmehr Kontinuitäten wie Diskontinuitäten gleichermaßen herausgearbeitet werden. Einerseits um voreilige Rückschlüsse über das etwaige Ende des Neoliberalismus zu vermeiden - ein Umstand, welcher vornehmlich in politisch-praktischer Hinsicht bedeutsam ist. Andererseits um das Gespür für die Ergebnisoffenheit historischer Prozesse wachzuhalten.

Konkreter: Dem Neoliberalismus hat zu keinen Zeitpunkt so etwas wie ein Masterplan innegewohnt. Im Gegenteil, er hat sich - wie noch deutlich werden sollte - Zug um Zug durchlaviert, sei es, dass ihn (Klassen-)Kämpfe immer wieder in die Defensive gezwungen haben, sei es, dass historische Großereignisse überraschend die Bühne der Weltgeschichte betreten haben wie zum Beispiel die von China Anfang der 1980er Jahre vollzogene Öffnung gegenüber dem Weltmarkt oder sei es, dass es das Platzen der Dot.com-Blase im Jahr 2000 gewesen ist, welche das allgemeine Zinsniveau in den Keller getrieben und somit eine neue, völlig aus dem Ruder gelaufene Runde kreditfinanzierter Aufblähung der Finanzmärkte eröffnet hat. Linke Gesellschaftskritik, die das verkennt, droht indessen - wenn auch unfreiwillig - zum ideologischen Wiedergänger des neoliberalen Credos der Alternativlosigkeit zu mutieren.

3. Bei vielen der bisherigen Beiträge zur Finanzkrise sticht ihre Metropolenfixiertheit ins Auge - von zuverlässigen Ausnahmen wie Elmar Altvater oder Karl-Heinz Roth ausdrücklich abgesehen (um nur zwei der bekanntesten Namen zu nennen). In erster Linie hat das mit dem bis heute allenfalls punktuell revidierten Kollaps internationalistischer Perspektiven zu tun, welcher nicht nur die deutsche Linke Anfang der 1990er Jahre ereilt hat. Aber auch die eingangs als ökonomistisch titulierten, insbesondere an den krisenhaften (Nicht-)Metamorphosen des Kapitals interessierten Lesarten der Finanzkrise dürften - sicherlich unbeabsichtigt - ihre diesbezüglichen Scherflein beigetragen haben.

Pikant ist jene Leerstelle vor allem in zweierlei Hinsicht: Eines von mehreren Motiven, weshalb vor allem die USA Anfang der 1970er Jahre die Liberalisierung des Kapitalverkehrs vorangetrieben hat, war das Bestreben (Stichwort: Kämpfe), die sich politisch wie ökonomisch emanzipierende Peripherie mittels finanzieller Macht einmal mehr in ihre Schranken zu weisen. Umgekehrt hat sich diese imperiale Zielsetzung auf geradezu gespenstische Weise bewahrheitet - davon zeugen nicht nur die globale Verschuldungskrise in den 1980er Jahren, sondern auch die zahlreichen Finanzkrisen, welche seit den frühen 1990er Jahren unterschiedliche Weltregionen mit großer Regelmäßigkeit erschüttert haben.

Gewiss, das Thema ist zu umfangreich, als dass es im Rahmen des vorliegenden Artikels befriedigend abgehandelt werden könnte, unter anderem im Hinblick darauf, was es bedeutet, dass allein seit 1980 5,4 Billionen US-Dollar an Schuldenzahlungen auf die Konten westlicher Banken geflossen sind. Dennoch sollen die entsprechenden Fragestellungen zumindest angeschnitten werden - nicht zuletzt unter Rückgriff auf das von David Harvey in die Debatte eingeführte Konzept der "Akkumulation durch Enteignung".

4. Spätestens seit deutlich geworden ist, dass die Welt auf eine epochale Krise der globalen Ökonomie zusteuert, ist nicht nur in linksradikalen Kreisen ein regelrechter Hype um womöglich aufziehende Krisenstreiks, ja -kämpfe ausgebrochen. Das ist um so bemerkenswerter, als die Beteiligung an realen Klassenauseinandersetzungen bis vor Kurzem nicht sonderlich hoch im Kurs stand - ein Umstand, welcher im Übrigen auch, ob gewollt oder nicht, in der ökonomistisch verengten Analyse der Krise zum Ausdruck kommt.

Kapitalismus in der globalen Defensive

Insofern ist es kaum überraschend, dass die aktuelle Begeisterungswelle - jedenfalls bislang - ohne tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Erbe von drei Jahrzehnten Neoliberalismus einhergeht, also damit, was es heißt, dass (nicht nur) die Weltarbeiterklasse in den letzten 20-30 Jahren viel von ihrer vormaligen Schlagkraft eingebüßt hat - organisatorisch genauso wie programmatisch und mental. Allein: Eine solche Verständigung ist unabdingbar, droht doch ansonsten die Rede der "Krise als Chance" zur bloßen Worthülse zu werden, ein Dilemma, auf das unter anderem die Sozialwissenschaftlerin Stefanie Hürtgen in einem Interview mit der trefflichen Überschrift "Co-Management statt Klassenkampf" hinweist. ( ak 534)

Ende der 1960er Jahre ist es zur viel zitierten Krise des Fordismus gekommen - oder klassischer formuliert: zu "Stagnationstendenzen des Monopolkapitalismus" (Altvater). Ausdruck hat das in einem signifikanten Einbruch der Profitraten gefunden, woraus seinerseits eine Überakkumulationskrise hervorgegangen ist, also überschüssiges Kapital, welches nicht mehr profitabel reinvestiert werden konnte und deshalb - gleichsam als Exit-Option - auf die noch jungen Finanzmärkte drängte.

Gemeinhin wird die damalige Profitklemme auf drei Gründe zurückgeführt: erstens nicht ausgelastete Produktionskapazitäten im Zuge schärfer gewordener Konkurrenz - insbesondere zwischen europäischen, japanischen und US-Unternehmen; zweitens ausklingender Nachkriegsboom und somit gesättigte Konsumgütermärkte sowie drittens erschöpfte Produktivitätsreserven, gemeint ist, dass angesichts gesättigter Märkte und massiver Konkurrenz Produktivitätssteigerungen nicht mehr zu Extra-Profiten, sondern zu schlichter Überproduktion geführt hätten. Indes: Das ist nur die eine Seite der Medaille - jene der kapitalimmanenten Widersprüchlichkeiten .

Es fehlt die Seite des Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit . Sie wird ungleich seltener oder allenfalls indirekt erwähnt: Meist nur dann, wenn davon die Rede ist, dass das Kapital im Lichte seiner Profitabilitätskrise die Löhne gesenkt habe - eine Feststellung, welche ihrerseits Fragen aufwirft. Einerseits weil sie sachlich irreführend ist, andererseits weil so aus dem Blick gerät, dass hohe Löhne keineswegs eine neutrale Angelegenheit, sondern das Ergebnis von Klassenkämpfen sind.

Konkreter: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war durchgehend von militanten Konflikten zwischen Kapital und Weltarbeiterklasse geprägt. Weithin bekannt dürften Oktober- oder Novemberrevolution sein. Aber wer weiß schon, dass in den 1920er Jahren in der damals bereits globalisierten Textilindustrie heftige Auseinandersetzungen getobt haben - im Übrigen als Reaktion auf konkurrenzbedingte Rationalisierungsmaßnahmen. Oder dass ein Streik bei General Motors im Februar 1937 die wöchentliche Produktion von ca. 16.600 auf 125 Autos drosselte, mit der Konsequenz, dass General Motors seine gewerkschaftsfeindliche Haltung aufgeben und Verträge für ArbeiterInnen in 20 Werken aushandeln musste?

Neoliberalisierung als Offensive

Die Breite, die Militanz und die Durchschlagskraft dieser und vieler weiterer Klassenauseinandersetzungen waren der zentrale Grund (zusammen mit der sich früh abzeichnenden Systemkonkurrenz zwischen Ost und West), weshalb es nach dem Zweiten Weltkrieg in den kapitalistischen Ländern zum "fordistischen Klassenkompromiss" gekommen ist: Danach versprachen die Regierungen , auf nationaler Ebene Vollbeschäftigung zu fördern, die Unternehmen sicherten zu, einen Teil der durch Produktivitätssteigerungen gewachsenen Profite als steigende Reallöhne an die ArbeiterInnen weiterzureichen und die Gewerkschaften erklärten sich bereit, mit ihren Aktivitäten innerhalb dieses Kompromisses zu verbleiben.

Der Kompromiss war jedoch stets umkämpft, etwa als General Motors und Ford bereits in den 1950er Jahren Teile ihrer Produktion nach Rüsselsheim und Köln auslagern mussten, um sich dem enormen Lohndruck der US-AutomobilarbeiterInnen zu entziehen (Stichwort: Kapital flucht ). Wie brüchig das Eis tatsächlich war, wurde deutlich, als Ende der 1960er Jahre insbesondere die migrantischen Teile der globalen Arbeiterklasse mit offenen Revolten auf den Versuch des Kapitals reagierten, die sinkenden Profite unter anderem durch Erhöhung des Arbeitstempos zu kompensieren. Nicht nur in Europa, auch in den USA entwickelten sich hieraus in den folgenden Jahren eine Vielzahl offensiver Lohnkämpfe - und das, obwohl sich die Weltwirtschaft bereits im freien Fall befand.

In den USA kam es sogar - trotz leerer Haushaltskassen - zur Ausdehnung der Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Darüber hinaus wurden außerplanmäßig staatliche Sozialprogramme aufgesetzt, nachdem sich die Bewegung gegen den Vietnamkrieg immer stärker der sozialen Frage zugewandt hatte. Doch es blieb nicht bei bloßen Lohnkämpfen, auch weitgehende Beteiligungsrechte wurden erstritten: Bei FIAT in Italien musste etwa das Management mit "Delegiertenräten" über Stückzahlen, Arbeitstempo oder Einführung neuer Technologien verhandeln. Und in Schweden stand der sogenannte Rhein-Meidner-Plan im Zentrum der öffentlichen Debatte: Er sah eine 20-prozentige Steuer auf Unternehmensgewinne vor, wobei die Gelder in einen von den Gewerkschaften kontrollierten Lohnarbeiterfonds fließen und von dort in das Unternehmen reinvestiert werden sollten.

Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte deutlich werden, dass Krisen nicht einzig aus kapitalimmanenten Widersprüchlichkeiten ableitbar sind. Denn wären sie es, hätten die Unternehmen Ende der 1960er Jahre das aus ihrer (jeweils individuellen) Sicht Naheliegendste getan und zunächst einmal die Löhne gesenkt. Doch daran war nicht zu denken, vielmehr mussten sie eine buchstäbliche Lohnexplosion in Kauf nehmen - wollten sie nicht vollends die Kontrolle über die rebellischen ArbeiterInnen verlieren.

Grundsätzlich ist dies als Ausdruck von Klassenmacht zu interpretieren, auch wenn nicht unter den Tisch fallen sollte, dass es sich um eine Art Phyrrussieg gehandelt hat: Denn das Kapital hat die erhöhten Lohnkosten in Gestalt steigender Verbraucherpreise überwiegend weitergegeben, was zusammen mit den in die Höhe geschnellten Ölpreisen der zweite Grund für die hohe Inflation in den 1970er Jahren war und somit einen entscheidenden Beitrag zur damaligen Weltwirtschaftskrise geleistet hat.

Die hier präsentierte Perspektive mag überraschen, gilt doch die Krise des Fordismus als Wiege des Neoliberalismus. Begründet wird dies üblicherweise damit, dass 1973 die Wechselkurse weitgehend freigegeben und anschließend der Kapitalverkehr scheibchenweise liberalisiert wurde - beides Akte, welche die bereits seit den 1960er Jahren betriebene Devisenspekulation und das Wachstum der internationalen Finanzmärkte erheblich forciert haben.

Hinzu kam, dass die Gold-Anbindung des US-Dollars aufgehoben wurde (weil die USA ansonsten ihrer US-Dollar-Gold-Umtauschpflicht nicht mehr hätte nachkommen können), was strukturell die weit über das Eigenkapital hinausgehende Kreditschöpfung der Banken erst ermöglicht hat - mit dramatischen Konsequenzen, wie spätestens seit der US-Immobilienkrise hinlänglich bekannt ist.

Gewiss, all dies ist zutreffend, und auch waren es die internationalen Finanzmärkte, welche in großem Stil Betriebsauslagerungen in sogenannte Niedriglohnländer mittels Krediten finanziert und so den bis heute andauernden Standortwettbewerb eröffnet haben. Allein: Das ist nur die eine Seite der Medaille, genauso wahr ist, dass sich in dieser Zeit noch keine neoliberale Politik durchsetzen ließ, im Gegenteil: Die Krise wurde mittels Inflation bekämpft (in den USA ist sogar die inflationsfördernde Notenpresse zum Einsatz gekommen) - und nicht etwa auf deflationäre Weise, wie es dem neoliberale Drehbuch entsprochen hätte.

Krise der globalen Arbeiterklasse

Kurzum: Es bestand eine klassische Pattsituation, und genau das hat den ökonomischen und politischen Eliten Angst gemacht: Auf der einen Seite verlor das Geld ständig an Wert, und auch drohten äußerst bescheidene Dividenden und Profite zur Norm zu werden. Auf der anderen Seite war der politische Druck erheblich, wobei nicht aus dem Blick geraten sollte, dass politische und ökonomische Dynamiken (nicht nur damals) auf das Allerengste verzahnt waren.

Die von Salvador Allende eingeleitete sozialistische Transformation in Chile konnte nur mit einem Putsch (1973) vereitelt werden, der Vietcong hatte die US-Armee 1975 endgültig zum Rückzug gezwungen und die OPEC hatte mit ihrer 1973/74 verfügten Erhöhung der Erdölpreise um 237 Prozent erstmalig Klauen gezeigt - um nur einige der prominentesten Beispiele zu nennen. Hinzu kamen Wahlerfolge sozialistischer bzw. eurokommunistischer Parteien unter anderem in Spanien, Portugal, Italien und Frankreich - von den im Zuge der sogenannten 68er Bewegung entstandenen sozialen Bewegungen ganz zu schweigen.

Lutz Hachmeister, der Biograf von Hans-Martin Schleyer - jenem von der RAF 1977 erschossenen Boss der Bosse - bringt die damalige Stimmung unter den Eliten in einem Interview pointiert auf den Punkt: "Dieses Milieu fühlte sich real bedroht durch die Studentenbewegung und ihre radikalen Ausläufer. Man fühlte sich real bedroht durch Entführungen, durch Übernahmen von Betrieben durch Arbeiter, durch kommunistische Gruppen. Das war eine Art von Paranoia, die man ernst nehmen muss."

Wer also den Prozess der Neoliberalisierung verstehen möchte, sollte nicht verkennen, dass die Wiederherstellung profitabler Akkumulationsbedingungen eine äußerst steinige, mithin konfliktgeladene Angelegenheit gewesen ist. Wie es seit Ende der 1970er Jahre zum tatsächlichen Durchbruch des Neoliberalismus gekommen ist und wie dies in den 1990er Jahren umgekehrt mit einer "weltweiten Krise der Arbeiterbewegung" (Beverly Silver) einhergegangen ist (2), soll nunmehr entlang der wichtigsten Etappenschritte skizziert werden:

a) Als tatsächliche Geburtsstunde des Neoliberalismus dürften die Wahlerfolge von Margret Thatcher in Großbritannien (1979) und Ronald Reagan in den USA (1980) gelten. Denn erst jenes Duo war es, welches den neoliberalen Totalumbau der Gesellschaft als explizites Ziel auf seine Fahnen geschrieben hat - ein Umstand, an dem vor allem Margret Thatcher nicht den geringsten Zweifel ließ: "Die Wirtschaft ist nur die Methode, das Ziel hingegen ist es, die Seele zu verändern."

Im Zentrum ihrer Agenda stand zweierlei: Auf der einen Seite sollten die Profitraten des Kapitals wieder auf Trab gebracht werden - was nicht zuletzt die Erschließung zusätzlicher Anlagemöglichkeiten erforderte (ob in der Realwirtschaft oder auf den Finanzmärkten). Neben Steuersenkungen, Privatisierungen, Liberalisierungen des Kapitalverkehrs etc. dürfte die diesbezüglich wichtigste Einzelmaßnahme sicherlich die exorbitante Steigerung des allgemeinen Zinsniveaus gewesen sein - vor allem in den USA: Nicht nur, weil auf diese Weise die Inflation bekämpft und Kapital angelockt werden konnte (für Investitionen genauso wie Kredite). Nein, auch deshalb, weil hiervon die zweite Zielsetzung erheblich profitierte: Denn hohe Zinsen bedeuteten - und das war ausdrücklich einkalkuliert - Rezession und somit rasant steigende Arbeitslosigkeitsraten, welche ihrerseits (zusammen mit weiteren Deregulierungsmaßnahmen) Voraussetzung dafür waren, die in den Jahrzehnten zuvor erkämpften Lohn- und Arbeitsstandards offensiv in Frage zu stellen.

Mit anderen Worten: Die Neoliberalisierung ist in den USA und Großbritannien mit einem "Frontalangriff auf die Macht der Gewerkschaften" (David Harvey) einhergegangen. Erinnert sei lediglich an den Kampf der Fluglotsen 1981 in den USA oder den großen Bergarbeiterstreik 1984 in Großbritannien. Doch nicht nur hier mussten Niederlagen eingesteckt werden, vielmehr haben die meisten der in den 1980er Jahren primär defensiv geführten Kämpfe Schiffbruch erlitten - zumindest in den Metropolen.

b) Völlig anders verhielt sich die Situation in jenen Teilen der Peripherie, wohin nördliche Unternehmen bereits seit den späten 1960er Jahren Betriebsauslagerungen vorgenommen hatten: Immer wieder ist es dort - insbesondere in den 1980er Jahren - zu großen, teils mehrjährigen Streikzyklen gekommen. Auf diese Weise konnten in erster Linie beachtliche Lohnerhöhungen und die Anerkennung freier Gewerkschaften erkämpft werden, zudem ist so das kostensenkende, mithin neoliberale Kalkül des Kapitals erneut durchkreuzt worden. Dieser Zusammenhang ist nicht zuletzt von Beverly Silver am Beispiel der Autoindustrie in Südafrika, Brasilien und Südkorea detailliert rekonstruiert worden.

Pendelbewegungen des Kapitalismus

c) Indes: Besagte Streikerfolge sollten stets im Kontext betrachtet werden, haben sie doch allenfalls in Schwellenländern wie Südkorea oder Brasilien zu langfristigen Verbesserungen geführt, nicht aber prinzipiell den viel zitierten trickle-down-Effekt von Auslandsinvestitionen nach sich gezogen. Stattdessen ist der globale Süden - Stichwort: Akkumulation durch Enteignung - in den 1980er und 1990er Jahren mehrmals durch die globalen Finanzmärkte an die Kandare genommen worden: Erstmalig Anfang der 1980er Jahre, als zahlreiche Länder der Peripherie durch abrupt steigende Zinsen in den USA, horrende Ölpreise etc. in massive Verschuldungsspiralen abgerutscht sind.

Nicht minder krass waren die diversen Finanzkrisen in den 1990er Jahren: Immer wieder sorgte eine Koalition (insbesondere) aus US-Investment-Banken, IWF und US-Finanzministerium dafür, dass Länder in die Strudel eigens inszenierter Finanz-Tsunamis gerieten - was vor allem dreierlei zur Konsequenz hatte: Erstens enorme Abflüsse von Geld, zweitens neoliberale, in der Regel vom IWF durchgepeitschte Strukturanpassungsprogramme sowie drittens kolossale Besitzübertragungen, indem pleite gegangene Firmen von westlichen Banken, Unternehmen oder Hedge Fonds aufgekauft wurden.

Kurzum: Der USA ist es gelungen, ihren seit den 1960er Jahren in der Produktion gegenüber Deutschland und Japan erlittenen Rückstand unter anderem durch gewaltige, in der Peripherie freigesetzte Geldströme zugunsten von US-Finanzmarktakteuren zu kompensieren (ohne dass hiermit jedoch gesagt wäre, dass europäische oder japanische Banken bzw. Unternehmen nicht ebenfalls kräftig mitgemischt hätten).

d) Spätestens im Laufe der 1990er Jahre ist die Neoliberalisierung zu sich selbst gekommen - wenn auch mit (ersten) Ambivalenzen. Auf der einen Seite konnten viele der genuin neoliberalen Ziele durchgeboxt werden, was sich nicht zuletzt an geradezu märchenhaften Profitraten zeigte: So betrug Ende der 1990er Jahr der Anteil des reichsten Hundertstel der Einkommen in den USA mit 15 Prozent fast das Niveau der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Insofern passt es auch, dass Beverly Silver unter Bezug auf eine von ihr mitaufgebaute Datenbank von einer Niederlage der globalen ArbeiterInnenbewegung spricht. Denn die Daten zeigen unmissverständlich, dass in den 1990er Jahren nicht nur in den Metropolen, sondern auch im Süden Arbeiterunruhen stark zurückgegangen sind.

Auf der anderen Seite ist der Neoliberalismus bereits Mitte der 1990er Jahre erstmalig ins diskursive Schlingern geraten, was sich unter anderem an der Entstehung der globalisierungskritischen Bewegung festmachen lässt - und somit auch an jenen Kämpfen, die zumindest in Lateinamerika Schritt für Schritt links ausgerichtete Regierungen in Amt und Würden gespült haben. Oder als Fazit: Der Neoliberalismus hat als defensives Projekt begonnen, insofern ist die operaistische Lesart, wonach soziale Kämpfe das Kapital in die Finanzmärkte getrieben hätten, durchaus plausibel. Doch dann ist der Neoliberalismus in die Offensive gekommen, und dort haben sich gerade die Finanzmärkte als schlagkräftiges Schwert, ja als unglaubliche Gewinnmaschine entpuppt. Das ist der Grund, weshalb das neoliberale Projekt als integraler Teil jener Pendelbewegung zwischen "Krise der Profitabilität und Krise der Legitimität" verstanden werden sollte, welche laut Beverly Silver den historischen Kapitalismus spätestens seit dem 19. Jahrhundert auszeichnet: "Eine Form der Krise kann nur durch Maßnahmen gelöst werden, die letztendlich die andere Form der Krise herbeiführt."

In der aktuellen Situation sollte ein Artikel nicht mit einem auf die Vergangenheit gemünzten Fazit enden. Denn gerade die aufziehende Weltwirtschaftskrise eröffnet ja die Chance , dass das Silver'sche Pendel einmal mehr seine Richtung wechselt. Allein: Erfolgreich werden etwaige Kämpfe nur sein, wenn die vielfältigen Erfahrungen miteinfließen, welche ArbeiterInnen (und soziale Bewegungen) in den letzten 40 Jahren gemacht haben - ihre Siege genauso wie ihre Niederlagen.

Nützlich dürften diesbezüglich nicht nur kritische Positionen aus der gewerkschaftlichen Linken sein, sondern auch Kampferfahrungen, die in jüngerer Zeit beispielsweise bei Gate Gourmet oder Strike Bike gemacht wurden, ganz zu schweigen von China, wo schon seit Längerem - nicht zuletzt seitens der WanderarbeiterInnen - die derzeit wohl explosivsten Klassenauseinandersetzungen überhaupt stattfinden.

Artikel von Olaf Bernau, alias Gregor Samsa (NoLager Bremen) im ak 535 vom 16.1.2009 - wir danken!

Anmerkungen:

1) David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Zürich 2007; Ders.: Der neue Imperialismus. Hamburg 2005

2) Beverly J. Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870. Berlin 2005


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