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Updated: 18.12.2012 15:51
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Hartz-IV-Empfänger gegen Kofferbomber

Neue Wunderwaffen im Anti-Terror-Kampf: Videoüberwachung und Datenspeicherung

Seitdem am 31. Juli in zwei Regionalzügen in Dortmund und Koblenz Sprengsätze gefunden wurden, hat die Schraube sich verschärfender Sicherheitsgesetze eine weitere Drehung erfahren. Die SicherheitspolitikerInnen von CDU/CSU und SPD hatten schon zuvor eine Verlängerung der zwei nach dem 11. September 2001 in Kraft getretenen umfangreichen "Anti-Terror"-Gesetzespakete geplant, die gleichzeitig erweitert werden sollen. (vgl. ak 508) Unter dem Eindruck der missglückten Kofferbomben-Anschläge geht man jetzt noch einen Schritt weiter.

Nach dem Fund der Kofferbomben blieb es erst mal ruhig. Ermittlungsergebnisse drangen kaum in die Öffentlichkeit. Drei Wochen später änderte sich das Bild. Am 18. August erklärte die Bundesanwaltschaft (BAW), sie vermute eine "inländische terroristische Vereinigung" hinter den versuchten Anschlägen. Generalbundesanwältin Monika Harms betonte, die für die Kofferbomben erforderliche komplizierte logistische Vorbereitung lasse darauf schließen. Die ErmittlerInnen fahndeten nach zwei Männern, die die Koffer in den Zügen deponiert haben sollen. Das BKA veröffentlichte Videobilder, die am 31. Juli auf dem Kölner Hauptbahnhof aufgenommen worden waren. Darauf sind zwei Männer zu sehen, die im Abstand von einigen Minuten in die beiden Züge steigen.

Nun ging es Schlag auf Schlag. Innerhalb von nur fünf Tagen erfolgte die Festnahme beider Tatverdächtiger. Gut 16 Stunden nachdem die öffentliche Fahndung angelaufen war, wurde Youssef E. in Kiel festgenommen. Nach offizieller Darstellung soll er zuvor bei Familienmitgliedern im Libanon angerufen und seine Flucht angekündigt haben. Der libanesische Militärgeheimdienst habe das Gespräch mitgehört, hieß es, und wenig später die Deutschen informiert, die den Zugriff einleiteten.

Radikalisierte Einzeltäter oder Al-Qaida-Terroristen?

Am Donnerstag, den 24. August, stellte sich im Libanon der zweite Tatverdächtige den Behörden - freiwillig, wie es hieß. Laut Berliner Zeitung hätten libanesische Behörden das Haus der Familie von Jihad H. seit einer Woche observiert. Der Tipp sei aus Deutschland gekommen. ( Berliner Zeitung , 25.8.06) Allerdings will das BKA Jihad H. erst am 20. August identifiziert haben. Wusste also etwa der Bundesnachrichtendienst mehr als die Ermittler vom Bundeskriminalamt? Bundeskanzlerin Angela Merkel lobte gegenüber dem Nachrichtensender N24 jedenfalls die schnelle Festsetzung der beiden Tatverdächtigen als "einen sehr, sehr großen Erfolg unserer Dienste" und hob ausdrücklich die gute Kooperation "mit ausländischen Institutionen" hervor.

Nur einen Tag später erfolgte die Festnahme zweier weiterer Verdächtiger. Neben einem jungen Mann aus Konstanz wurde ein 24-Jähriger im Libanon auf Grund der Aussagen des einen Tag zuvor im nordlibanesischen Tripoli festgenommen Jihad H. gestellt. Eine Festnahme mit Ankündigung: "Wir sind sehr zuversichtlich, dass er sein Schweigen brechen wird", sagte am Morgen BKA-Präsident Jörg Ziercke in der ARD. Gleichzeitig beteuerte der BKA-Chef, wenn bei den Vernehmungen Druck auf den mutmaßlichen Terroristen ausgeübt würde, würden anwesende BKA-Beamte und Bundesanwälte sofort eingreifen: "Folter darf es nicht geben."

Neue Herausforderung: 24-Stunden-Dienst

Allerdings hatten weder BAW noch BKA Gelegenheit, den Beschuldigten zu befragen bzw. konnten ihn nur kurz sehen. Ganz offensichtlich weiß man beim BKA um die spezielle Verhörtechnik und Beweisführung in Beirut. Wie in anderen Fällen auch stört man sich nicht daran, sondern scheint eher froh, dass andere sich die Hände schmutzig machen - mit Segen von ganz oben. Im Deutschlandfunk lobte Ex-Innenminister Otto Schily die "kriminalistische Meisterleistung": "Ich bin sehr stolz auf das BKA." (4.9.06) Inzwischen hat ein libanesischer Richter Haftbefehle gegen insgesamt sechs Verdächtige, darunter die zwei in Deutschland Inhaftierten, verhängt. Von einer Auslieferung der Verdächtigen aus dem Libanon nach Deutschland ist nicht mehr die Rede.

Klar ist: Die schnellen Festnahmen beruhen ganz offensichtlich auf der Zusammenarbeit mit libanesischen Behörden sowie auf Geständnissen und Aussagen, die die angeblichen Bombenleger in Beirut gemacht haben. Ergebnisse - wenn man so will - klassisch-kriminalistischer Arbeit. Videotechnik, Rail-Marshalls, Gepäckkontrollen auf Bahnhöfen - all das hat keine Rolle bei der Aufklärung gespielt. Auch die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Diensten war ohne eine von Geheimdiensten und Polizei bestückte Anti-Terror-Datei möglich. Gleichwohl beherrschten diese und andere Vorschläge die Diskussion der letzten Wochen. Höhepunkt war wohl die Idee von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee, Hartz-IV-EmpfängerInnen in Bussen und Bahnen patrouillieren zu lassen.

Offiziell wird man allerdings nicht müde zu behaupten: Hinter Youssef E. und Jihad H. stehe eine terroristische Organisation. Aus den Ereignissen müsse man die "notwendige Konsequenzen" ziehen, dazu gehöre auch die Einrichtung einer "Anti-Terror"-Datei, um den Datenaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten zu verbessern, so Innenstaatssekretär August Hanning. Er wies ausdrücklich auf die Bedeutung der Videoüberwachung für die Aufklärung der vereitelten Straftaten hin. ( Spiegel Online , 21.8.06) Auch Angela Merkel lobte die Technik: "Sie hat jetzt aller Wahrscheinlichkeit dazu geführt, einen der beiden Täter zu identifizieren." ( FAZ , 21.8.06)

Das Trommelfeuer hatte Erfolg: Am 4. September beschlossen die Innenminister von Bund und Ländern, die Videoüberwachung auf Bahnhöfen sowie Flug- und Seehäfen auszubauen. Gleichzeitig einigten sie sich auf die Einrichtung einer "Anti-Terror"-Datei, die sowohl von der Polizei als auch von allen 19 Geheimdiensten bestückt und gemeinsam genutzt werden soll. Neben einem direkten Zugriff auf einen Indexdatensatz ist nach Anfrage bei der speichernden Stelle die Einsicht in einen erweiterten Datensatz möglich, der u.a. Telekommunikationskontakte, Bankverbindungen sowie die Angabe der Religionszugehörigkeit enthalten soll. Geheimdienste können aus Quellenschutzgründen die Einsichtnahme verwehren - Ausnahme: bei "Gefahr im Verzug". In der Datei sollen "terrorismusverdächtige" Personen sowie deren Kontaktpersonen gespeichert werden. Hamburgs Innensenator Udo Nagel will die Daten von "maximal bis zu 2.000 Personen aus Hamburg" bundesweit zugänglich machen. ( Die Welt , 5.9.06) "Sicherheitsexperten" gehen davon aus, dass in der Datei insgesamt die Daten von rund 20.000 Verdächtigen und Kontaktpersonen zusammengefasst werden.

Schon wurde bekannt, dass Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble den Etat des Verfassungsschutzes um 50 Mio. Euro aufstocken will. Das scheint bitter nötig: Wie "Experten" gegenüber der Welt ausplauderten, wird die neue "Anti-Terror"-Datei vor allem zu weit reichenden Umwälzungen im Beamtenalltag bei den Landesämtern für Verfassungsschutz führen. Hier müssen erst einmal ein 24-Stunden-Dienst eingerichtet und MitarbeiterInnen für die Dateneingabe abgestellt werden.

mb.

Erschienen in ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 509 / 15.9.2006


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