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Updated: 18.12.2012 15:51
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Ausbruch aus dem Paradies

Piloten, Ärzte, Lokführer – wer traut sich als Nächstes?

Erst kollektiv krankfeiern, dann wollen sie auch noch mehr Geld, schaffen Unruhe, gefährden Aufschwung, Wachstum und die Ruhe im Paradies der Sozialpartnerschaft und proben den Aufstand gegen die Einheitsgewerkschaft – und das auch noch mitten im Sommer, wenn alle in ihren wohlverdienten Urlaub fahren wollen! Das grenzt an Terrorismus, meinen Unternehmensvertreter und rufen nach dem starken Staat, um das ohnehin schwache Arbeitskampfrecht noch weiter einzuschränken – im Namen von Einheitsgewerkschaft und Flächentarifverträgen. Im express Nr. 6/07 hatte Willi Hajek über das Phänomen französisch lernender S-Bahner geschrieben: »Krank aus Verantwortung«. Im Folgenden wirft er einen Blick auf den Arbeitskampf der Lokführer und dessen Wahrnehmung im In- und Ausland.

Der Sommer und die Lokführer. Unabhängig davon, ob und wie die Streiks weitergehen: Zumindest wird europaweit über die EisenbahnerInnen in Deutschland geredet und geschrieben. Im Café auf Formentera, einer kleinen Insel auf den Balearen, sitzend und vor mir die Vanguardia – eine große bürgerliche Tageszeitung in Spanien, eher kein demokratisches Blatt, sondern mit Franco-Geschichte behaftet und der Rechten nahestehend – steht dann unter »perspectiva international«: »Europa limita la huelga en el sector publico« – Europa beschränkt das Streikrecht im öffentlichen Dienst. Und darunter: Frankreich und Deutschland verändern ihre Gesetzgebung, um Streiks im öffentlichen Dienst zu erschweren.

Im Lichte Europas

Im Vergleich werden die beiden Länder vorgestellt, aber auch die Lage der Eisenbahner in beiden Ländern wird anschaulich beschrieben, vor allem die der Lokführer und des Begleitpersonals. Und da werden vor allem die Unterschiede in den sozialen Errungenschaften zwischen den beiden Ländern sichtbar. Das ist natürlich auch für die Formenteser überraschend: »Die Eisenbahner in Deutschland sind ja viel schlechter dran! Aber die cheminots in Frankreich sind auch wirklich viel kämpferischer!«, höre ich als Nachsatz von meinem mitlesenden Nachbarn.

Auch in französischen Zeitungen finden sich sehr genaue Berichte über die Vorgänge in der BRD. Es wird über die Privatisierung der Bahn geschrieben und über das Gewerkschaftsbündnis von Transnet und GDBA, das nach all den schlechten Erfahrungen in England dennoch offensiv für die Privatisierung der Bahn eintrete. Frank Schmidt, Bezirksleiter der GDL in Nordrhein-Westfalen, gibt ein Interview, in dem er über eine andere Vorstellung von gewerkschaftlichem Engagement spricht: »Seit langem informieren wir die Eisenbahner über die Gefahren der Privatisierung, und wir fühlen uns auch gestärkt durch die Urabstimmung, in der die große Mehrheit des bei uns organisierten Fahrpersonals die Streikvorbereitungen unterstützt und vor allem sich aktiv und selbständig beteiligen will.«

Solche Worte, Sätze und Gedanken hören und lesen unsere KollegInnen der Sud-Rail wie auch andere EisenbahnerInnen in Frankreich gerne. Die Interviews und Artikel wurden im gesamten Eisenbahner-Netzwerk verbreitet. Berichte aus der nicht eben für ihre Streikbereitschaft bekannten BRD sind mit Sicherheit eine Ermutigung für alle GewerkschafterInnen von Italien bis Spanien.

Doch kehren wir zurück zum Hier und Jetzt und fangen mit einem schönen Leserbrief aus der taz an:
»Betr: im August wollen die Lokführer streiken«, taz, 20. Juli 2007
Lokführer fordern mehr Geld. Ist das unverschämt? Aber selbstverständlich, denn immerhin wollen sie 31 Prozent mehr Lohn (diese Prozente beinhalten allerdings schon sämtliche Nachtzuschläge, usw.). Dass sich die Führungsköpfe des Bahnvorstandes ihre Gehälter mal eben so um etwas mehr als 260 Prozent erhöht haben, spielt natürlich hierbei keine Rolle. Nun gibt es Leute, die sagen: ‚Ich verdiene so wenig und arbeite so viel, deshalb soll es dir nicht anders gehen«. Das ist die richtige Einstellung und freut den deutschen Arbeitgeber – Unrecht muss mit Unrecht ausgeglichen werden.

Ein Lokführer, der für unzählige Leben verantwortlich ist, der in drei Schichten ohne jeglichen Rhythmus arbeitet und dafür je nach Alter mit 1900 bis 2100 Euro brutto nach Hause geht, ist aber auch zu unverschämt, wenn er mehr Lohn fordert (zum Vergleich: eine Briefzustellerin im Beamtenverhältnis in den westlichen deutschen Bundesländern bekommt etwa 2300 Euro netto). Auch grenzt es an Dekadenz, einen eigenen Tarifvertrag für Lokführer zu fordern – er soll gefälligst zufrieden sein, dass seine Interessen mit denen der in der Verwaltung arbeitenden Büroangestellten – fünf Tage-Einschicht-Woche – gleichgestellt werden, sprich: Sie, die Lokführer werden einfach nicht wahrgenommen. Und das ist auch gut so. Für die Chefs. Weil kostengünstiger. Die nächste Gehaltserhöhung für den Vorstand darf ja nun mal nicht flöten gehen! Keiner regt sich auf, dass ein Fußballer in drei Spielzeiten – oder weniger – mehr als ein Lebensarbeitsentgelt eines Otto-Normalverdieners bekommt, keiner regt sich über Topmodels auf, die Millionen verdienen, weil sie Schlüpfer vorführen oder anderweitig kreativ sind. In diesem Sinne: allzeit gute Fahrt und vielleicht ein wenig weniger Frust, wenn der Zug mal später kommt.
Petra Glinka, Berlin«

Der Sommer hat es gebracht. Die Republik hat etwas dazugelernt. Viele wissen jetzt, unter welchen Belastungen heute Lokführer ihre Arbeit leisten und was sie für diesen Dienst als Lohn bekommen. Vor einiger Zeit waren es die Ärzte, die auf der Straße und in der Medienöffentlichkeit über ihren Tagesablauf berichteten, vorher schon die Fluglotsen und die Piloten. Wir können nur hoffen, dass in Zukunft immer mehr normale, »gewöhnliche« Alltags-Menschen über die Zumutungen ihres Lohn-Arbeits-Alltags berichten. Eines ist klar, jede/r, der ein wenig mehr weiß von dem Anderen, der vorne in der Lok sitzt, über dessen Arbeitsbedingungen, dessen Belastungen, seine Ängste, steigt anders in einen Zug ein als vorher.

Nicht von ungefähr existieren Traumagruppen von Lokführern, die ständig Angst haben vor Selbstmördern auf der Strecke oder auf dem U-Bahnsteig. Gleichzeitig wird in Großstädten wie Berlin das Bahnsteigpersonal auf den S-Bahnhöfen weitgehend abgebaut, und die Lokführer übernehmen die gesamte Einstiegskontrolle der Fahrgäste. Hieraus resultiert auch die ungeahnte Aufmerksamkeit so vieler alltäglicher BahnnutzerInnen, die über die Flugblätter, die Presse und das Fernsehen von den Löhnen, den Arbeitszeiten und Belastungen der LokführerInnen bzw. des gesamten Zugpersonals erfahren haben. Dieser Konflikt kann ein weiterer Verstärker werden für die selbständige soziale Dynamik der Beschäftigten in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei gehe es um das öffentliche Sichtbarmachen unwürdiger Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, um die Bloßstellung von Leitungsarroganz und gewerkschaftlicher Anpassung.

Für DB-Chef Mehdorn dagegen sind diese Streiks terroristische Maßnahmen. Solche Entgleisungen haben heute Methode: Auch die Sachbeschädigung von drei Bundeswehrfahrzeugen durch Gegner der militärischen »Friedensaktion« in Afghanistan wird von der Bundesanwaltschaft als terroristische Aktion mit dem § 129 a verfolgt. Zeitgleich melden die Arbeitgeberverbände Bedarf an nach gesetzlichen Maßnahmen, um Streiks gerichtlich (noch leichter) verbieten zu lassen.

Ein Nichts zu sein, alles zu werden...

Es wird leicht vergessen, dass dieser Prozess, dieser Konflikt eine lange Vorgeschichte hat. Gewerkschaften wie die GDL stehen seit einigen Jahren unter verstärktem Druck ihrer organisierten Mitglieder, die reale Verbesserungen ihres Arbeitsalltags wollen. Andreas Tannhäuser, ehemaliger BR-Vorsitzender der S-Bahn-Berlin und einstmals im Transnet-Vorstand, hat diese Vorgänge sehr gut beschrieben in seinen Enthüllungen auf der website von »www.bahnvonunten.de externer Link«.

Schon vor Jahren wollte der Transnet-Vorstand eine Tarifvereinbarung mit weitreichenden Verschlechterungen für das gesamte Zugpersonal unterschreiben. Diese Vereinbarung wurde damals durch die öffentliche Verbreitung unter dem betroffenen Zugpersonal gestoppt. Die GDL hatte den Text des Tarifvertrags vorher allen zugänglich gemacht. Auch hier traten innerhalb einer Woche Hunderte von Bahnern aus der Gewerkschaft Transnet aus. Der Transnet-Vorstand zog daraufhin die Unterschrift zurück, er wagte es nicht mehr zu unterschreiben.

Die Lokführer und die Zugbegleiter können eine Dynamik auslösen, so dass auch andere Bereiche innerhalb der Bahn und in der gesamten Gesellschaft sich outen und ihre Belastungen in solidarischer Manier sichtbar machen, nach der Devise: »Auch wir haben Anspruch auf besondere Beachtung und Anerkennung unserer zusätzlichen Belastungen«.

Daran haben natürlich weder der Bahn-Vorstand noch Teile der Medien und auch der Gewerkschaftsapparat von Transnet und GDBA ein Interesse. Sie wollen umgekehrt die ›privilegierten‹ LokführerInnen mit ihren ›Sonderinteressen‹ kleinkriegen und gesellschaftlich isolieren. Die Journalisten suchen deshalb eifrig nach solchen MitarbeiterInnen bei der Bahn, die ihnen genau das auch ins Laptop formulieren.

... das werden wir Euch austreiben

Der Stern hat Bahner aufgespürt, die eine Mentalität zum Ausdruck bringen, auf die Transnet wie auch die DB-Konzernleitung ihre Hoffnungen richten. Der Beitrag »Die Ich-Gewerkschaften« (Stern, 16. August 2007) setzt damit ein, dass Lokführer bislang als schweigsame Menschen galten, die einsam ihre Arbeit verrichteten. Jetzt plötzlich träten sie in die Öffentlichkeit und kämpften entschlossen um höhere Löhne. Dann geht der Artikel über in Erzählungen aus dem Inneren des Bahn-Arbeitsalltags aus subjektiver Sicht: »›Wenn die 30 Prozent mehr Geld bekommen, dann haben wir bald eine Gewerkschaft der Fahrdienstleiter‹, sagt Severin Disput, der die Bahn liebt. Er ist kein Lokführer, sondern Bezirkschef der Fahrdienstleiter. Das sind die Menschen, die das tun, was man gemeinhin vom Lokführer vermutet. Sie steuern die Züge. ›Wenn wir streiken, geht gar nichts mehr‹. Früher haben hier normalerweise 3 oder 4 Kollegen gearbeitet, jetzt sind es noch zwei. Wir können theoretisch auch auf die Barrikaden gehen, meint sein Kollege.«

Weiter heißt es im Stern, ein Lokführer sei »vor allem ein Befehlsempfänger«, ein Lokführer könne »seinen Dienst selbst mit geschlossenen Augen verrichten«. »Wir steuern alles«, so der Fahrdienstleiter über seine streikenden Kollegen.

»Der Führerstand eines ICE ist weniger schwer zu verstehen als das Armaturenbrett eines japanischen Kleinwagens. Dagegen sehen die großen Betriebszentren der Bahn aus wie die Flugsicherung: ›Man muss verrückt sein, um hier zu arbeiten‹, meint der Chef der Betriebszentrale. (...)

›Die Lokführer, die sind doch nichts, wir sind alles. Ohne uns läuft nichts‹«, sagt wiederum der Fahrdienstleiter. Er fühlt sich als der wichtigste Mitarbeiter überhaupt im ganzen Bahnbetrieb. Sie, die Fahrdienstleiter, sollten und könnten zwar mehr fordern, aber das tun sie nicht – aus Fürsorge und Verzichtsbereitschaft für das Unternehmen. Die gegenseitigen Trennungen zwischen den Beschäftigtengruppen werden noch weiter geschürt, anstatt sie produktiv und solidarisch in einer gemeinsamen Bewegung aufzuheben.

»Sie haben die größere Verantwortung als die Lokführer, und wenn sie wollten, könnten sie den Lokführern das Leben schwer machen«, so der oben zitierte Chef der Betriebszentrale. Kein Wort über ihre eigenen Belastungen, über ihre eigenen Vorstellungen von Verbesserungen, über die Notwendigkeit, die Tür, die die Lokführer geöffnet haben, noch weiter zu öffnen, sie zu unterstützen in ihrem Konflikt. Nein. Es geht um die Perspektive: Wir Fahrdienstleister dienen, wir sind die Wichtigsten im ganzen Konzern, und die Lokführer hauen auf die Pauke. Das ist der deutsche Blick, der feige Untertanenblick. Anstatt die Aktivitäten der Lokführer aufzugreifen, selbst die eigene Stellung innerhalb der Gesamt-Arbeitsteilung der Bahn deutlich zu machen mit der besonderen Verantwortung, die jedem Teil und jedem Akteur zukommt, wird herabgesetzt, um sich selber fast größenwahnsinnig aufzuwerten. In ruhigeren Zeiten erkennen diese Bahner an, dass es Belastungen für das gesamte Zugpersonal gibt – aber jetzt nicht, wo es um Solidarität oder Trennung, Spaltung und Isolierung der Streikenden geht.

Offensichtlich springt der Solidaritätsfunke nur über, wenn begriffen und gefühlt wird, dass die Eisenbahner eine Tür geöffnet haben auch für andere Teile der Lohnabhängigen. Es ginge in diesem Konflikt darum, das Zusammenwirken der Akteure in einem Unternehmen sichtbar zu machen, und da gibt es verschiedene Aufgaben und Verantwortungen, die es der Gesellschaft bzw. den Nutzern auch zu vermitteln gilt.

Das ist die Aufgabe einer anderen, egalitären Gewerkschaftspraxis, die gerade diese Trennungen produktiv überwinden will im Hinblick auf eine andere Art von gesellschaftlicher Zusammenarbeit, in der sich zwischen den Akteuren Respekt und Egalität breit macht.

Genau so würden ständische Einstellungen, Privilegien und dümmlicher Eigendünkel abgebaut und Respekt untereinander, eine solidarisch-kooperative Gesellschaftlichkeit aufgebaut.

Wie wichtig wäre in solchen Momenten eine branchenübergreifende, basisbezogene und handlungsfähige Gewerkschaftsbewegung, die genau diesen Suchprozess als Grundlage nimmt für ihr Denken und Handeln, um die Gemeinsamkeiten herzustellen zwischen den verschiedenen Teilinteressen der einzelnen Akteure. Die gleichzeitig aber auch mit all ihren Mitteln die Selbsttätigkeit und den Selbstermächtigungsprozess der einzelnen Beschäftigtengruppen fördert und unterstützt.

Das heißt französisch lernen!

Willi Hajek ist Mitarbeiter des tie-Bildungswerks e.V., lebt und arbeitet in Berlin.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/07


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