Re-Politisierung der Leistungsfrage?

Neue Entgeltsysteme, mehr Aufgaben, weniger Mitbestimmung / Von Wolfgang Menz

 

Am Beispiel der Entwicklungen bei Hoechst untersucht Wolfgang Menz, Sozialwissenschaftler an der Uni Frankfurt, die Veränderungen neuer Entlohnungssysteme und geht dabei vor allem auf die bereits mehrfach im Rahmen der express-Debatte aufgeworfene Frage nach den Chancen für eine Politisierung der Entlohnung ein. Sein ernüchterndes Fazit: Zwischen ökonomischer Makro- und individueller Mikroebene kommt die "Meso-Ebene" kollektiver Auseinandersetzung abhanden – unausweichlich?

 

In weiten Bereichen der Industriearbeit steht der tayloristische Leistungskompromiss gegenwärtig unter starkem Veränderungsdruck. Als kennzeichnend für das tayloristische Modell der Leistungs- und Lohnpolitik gilt gemeinhin die eindimensionale Definition dessen, was als betrieblicherseits "erwartbare" Leistung – oftmals als reine Mengenleistung – angesehen wird, die Vorab-Festlegung der Arbeitsschritte sowie der Zeit, die für die einzelnen Arbeitsschritte veranschlagt wird. Leistung wird somit als mess- und standardisierbar angesehen, und durch die meist proportionale Kopplung von Arbeitsoutput und Lohnhöhe werden Leistung und Lohn in eine direkte rechnerische Relation zueinander gestellt. Leistung erscheint also als berechenbare, versachlichte Größe, die kalkulier- und handhabbar gemacht werden kann. Damit ist im tayloristischen Modell der Leistungspolitik den betrieblichen Akteuren zugleich eine Verhandlungsgrundlage an die Hand gegeben, auf deren Basis sich die Auseinandersetzungen im Betrieb eher als Auseinandersetzungen um die "sachgesetzliche" Anwendung vereinbarter Kalkulationsvorschriften und Messmethoden denn als genuin "politische" Verhandlungen und Konflikte um Verteilung vollziehen (vgl. Siegel/Schudlich 1993). Der grundsätzlich politische Charakter von Verteilungsauseinandersetzungen und Leistungs-/Lohnkonflikten bleibt auf betrieblicher Ebene hinter vermeintlichen Sachgesetzlichkeiten verborgen und wird lohnpolitisch neutralisiert – so zumindest die Logik des tayloristischen Modells, dem die betriebliche Praxis freilich nicht immer folgte.

Der tayloristische Kompromiss impliziert zugleich ein spezifisches Verhältnis von betrieblicher und tariflicher Arbeits- und Leistungspolitik, das sich als "lohnpolitische Arbeitsteilung" bezeichnen lässt. Auf tariflicher Ebene wird einerseits über die kollektive Entgelthöhe, d.h. die Beteiligung der Beschäftigten an den Produktivitätssteigerungen oder in anderen Worten: die Verteilung des Wertprodukts zwischen Arbeit und Kapital entschieden; andererseits werden hier die formalen Bedingungen der individuellen Leistungsentlohnung geregelt. Die betriebliche Arena wird damit – zumindest im "Idealfall" – von Konflikten um die Lohnhöhe und um die Definition der Leistungsgrundsätze freigehalten. Hier werden die Prinzipien der Leistungsentlohnung "objektiv" umgesetzt und angewendet, bestenfalls besonderen betrieblichen Erfordernissen angepasst. Eine Überschreitung der Normalleistung bedeutete automatisch eine proportionale Erhöhung des auf tariflicher Ebene vorab definierten Grundlohns. Konflikte konnten sich somit im Betrieb weniger an den eher normativen Fragen der Lohnhöhe oder der Leistungsgrundsätze entzünden, sondern betreffen nur die "richtige" Anwendung der – weitgehend auch von den Gewerkschaften – als "wissenschaftlich", "gerecht" und "objektiv" akzeptierten Methodik. Auseinandersetzungen um Lohn und Leistung und um die Beteiligung der Lohn-abhängigen an der Produktivitätssteigerung werden aus dem Bereich der betrieblichen Arbeitsbeziehungen herausdefiniert und der Kompetenz der Akteure auf Tarifebene zugewiesen.

Im Zuge der Umsetzung neuer Managementstrategien, veränderter Markterfordernisse sowie produktions- und datentechnischer Innovationen wird gegenwärtig dieses hier nur grob skizzierte Arrangement der Lohn- und Leistungspolitik zur Disposition gestellt. Mit diesen Erosionsprozessen werden von Seiten der Gewerkschaften und der kritischen Sozialwissenschaft nicht nur Risiken – etwa der Bedeutungsverlust der erkämpften Mitbestimmungsregelungen im Bereich der tayloristischen Leistungsentlohnung – verbunden. Vielmehr könnten sich auch spezifische Chancen ergeben: Wenn das (vorgeblich) wissenschaftlich-kalkulatorische Modell der Leistungsdefinition verabschiedet wird, erweitert sich auch das betriebliche Verhandlungsfeld der Leistungspolitik wieder: "Betriebliche Leistungs(lohn)politik und überhaupt die Definition von Leistung (tritt) wieder als das in Erscheinung, was sie ist: Politik" (Siegel 1995, S. 190).

Die Konsequenzen, die dies für die Beschäftigten hat, lassen sich in ihrer gesamten Reichweite bislang kaum umfassend einschätzen. Ebenso wenig finden sich einfache Antworten auf die Frage, ob die geäußerten Hoffnungen einer "Re-Politisierung" der Entgeltpolitik in der Praxis erfüllt werden. Ob zudem der Taylorismus wirklich ein Modell der Vergangenheit ist, wird heute von kritischen Stimmen zunehmend bezweifelt. Von einer allgemeinen Entwicklungstendenz zur Ent-Taylorisierung, die alle Branchen, Beschäftigtensegmente und Betriebe umfasst, kann jedenfalls nicht gesprochen werden. Unübersehbar sind jedoch wesentliche leistungspolitische Veränderungen. Der Bedeutungsverlust des klassischen Akkordlohns, die Diversifizierung der betrieblichen Leistungsziele, die zunehmende Verbreitung von Vergütungsmethoden, die auf die Produktivität einzelner Abteilungen oder das Unternehmensergebnis bezogen sind, die Installierung von neuen Zielvereinbarungs- und Personalbeurteilungssystemen usw. sind Tendenzen, die heute nicht mehr auf Einzelfälle oder wenige Branchen beschränkt sind. In dieser Hinsicht lohnt ein Blick auf die chemische Industrie, wo aufgrund spezifischer produktionstechnischer Bedingungen die Abkehr von tayloristischen Leistungsprinzipien vergleichsweise früh erfolgte. Am Beispiel des Frankfurter Stammwerks der Hoechst AG soll hier die Entwicklung der betrieblichen Leistungs(lohn)politik seit den 70er Jahren nachverfolgt werden. Dabei lassen sich grob drei Abschnitte unterscheiden (vgl. Menz/Becker/Sablowski 1999, S. 153ff.):

 

1. Vom Taylorismus ...

Unter den Anforderungen von Produkt- und Arbeitsmärkten der fordistischen Prosperitätsphase stellten klassische Leistungslohnformen wie der Akkordlohn bzw. der (in der chemischen Industrie stärker verbreitete) Prämienlohn die adäquate Vergütungsmethode im ausführenden Produktionsbereich dar. Indem der Lohnanreiz auf die optimale bzw. maximale Produktionsmenge abzielte, die auf stabilen bzw. sogar expandierenden Massenmärkten abgesetzt werden konnte, konnten die Produktionsnormen mit den Markterfordernissen in spezifischer Weise in Einklang gebracht werden. Flankiert wurde die tayloristische Leistungslohnpolitik durch ein ausgeprägtes System bedürfnisorientierter betrieblicher Sozialleistungen, das die Probleme der Arbeitkräfterekrutierung zur Zeit der Vollbeschäftigung lösen sollte. Im Zuge der nachlassenden ökonomischen Dynamik und der anwachsenden Arbeitslosigkeit am Ende der 60er Jahre erwies sich dieser Zusammenhang aus tayloristischem Leistungslohn und integrativer Sozialpolitik zunehmend als dysfunktional.

 

2. ... zur "bürokratischen Kontrolle"

1974 wurden die betrieblichen Vergütungsmethoden durch die Einführung des ‘Monatslohns Hoechst’ drastisch umgestaltet. Die Anwendbarkeit von Akkord- und Prämienlöhnen wurde nicht nur durch die fortschreitende Integration des technisch-organisatorischen Produktionsablaufs erschwert. Vielmehr war durch die Lohnreform auch intendiert, die zu Beginn der 70er Jahre eingetretene schleichende Erhöhung der Leistungslohnsätze einzudämmen. Das Lohnsystem von 1974, dessen Grundzüge – von eher marginalen Änderungen abgesehen – bis 1995 zur Anwendung kamen, war gekennzeichnet durch eine starke Verregelung und Systematisierung der Lohnbestimmung, langgezogene betriebliche Aufstiegswege und eine hohe qualifikations-, status- und tätigkeitsbezogene Differenzierung der Belegschaft. Die Leistungsmotivation sollte in erster Linie durch die Chance zum innerbetrieblichen Aufstieg als "langer Marsch" durch die hierarchisch angeordneten, differenzierten betrieblichen (Zwischen-)Lohngruppen erreicht werden. Auf kurzfristigen Schwankungen gegenüber empfindliche Formen des Lohnanreizes – wie Akkord- und Prämienlohn – wurde weitgehend verzichtet. Die Arbeitsbewertung erfolgte für die gewerblich Beschäftigten mittels der "analytischen" Methodik, die eine genaue Zergliederung der Tätigkeiten in einzelne Belastungs- und Anforderungsfaktoren vornahm und die detaillierte, zentrale Kontrolle und Transpa-renz der Arbeitsbedingungen gewährleistete. Die betrieblichen Sozialleistungen, die vor allem die langfristige Unternehmensbindung der Kernbelegschaft sicherstellen sollten, wurden zunehmend monetarisiert. Diese Form der bürokratischen Segmentierung und Hierarchisierung der Belegschaft bei gleichzeitiger Sicherung ihrer Unternehmensloyalität erwies sich im Kontext relativ stabiler Absatzbedingungen als adäquat für die hochgradig integrierte Organisationsform der Hoechst AG.

Durch die zunehmende Dynamik der Unternehmensreorganisation und den fortschreitenden Arbeitsplatzabbau in den 90er Jahren wurde diesem System der "bürokratischen Kontrolle" (Richard Edwards), das wesentlich auf der Stabilität der Betriebsorganisation, der langfristigen Unternehmenszugehörigkeit der Beschäftigten, kalkulierbaren Aufstiegswegen und konstanten Arbeitsplatzangeboten basierte, die Grundlage entzogen.

Die Einführung des neuen Entgeltsystems von 1995 bedeutete eine partielle Rücknahme der tätigkeits- und statusbezogenen Segmentierung und eine erhebliche Stärkung der auf den Markt sowie die individuelle Leistungsfähigkeit bezogenen Differenzierung der Belegschaft. Die neuen Entlohnungsmethoden für die Tarifbeschäftigten sind im Wesentlichen durch zwei Elemente charakterisiert: Die bisherigen betrieblichen Entgeltbestandteile, die an die Tarifentwicklung gekoppelt waren, werden weitgehend gestrichen, und die dadurch frei gewordene Lohnsumme wird als Budget für die Vergabe einer individuellen Leistungszulage durch die direkten Vorgesetzten verwendet. Gleichzeitig werden die betrieblichen Zwischenlohngruppen für die gewerblich Beschäftigten abgeschafft und die Tätigkeiten nunmehr direkt in die Entgeltgruppen des Bundesentgelttarifvertrags von 1987 eingestuft.

Für die Bestimmung dessen, was als zu entlohnende Leistung gilt, sind nunmehr drei Faktoren konstitutiv, die durchaus in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen können: 1. die individuelle Arbeitsleistung, 2. der jeweilige Beitrag des entsprechenden Bereichs zum Unternehmenserfolg und 3. die Marktsituation des Unternehmens insgesamt. Charakteristisch für die neue Entlohnungsform ist dabei das tendenzielle Auseinandertreten von Beurteilung der Beschäftigten und Bewertung der beurteilten Leistung (vgl. Bender 1997). Beurteilt werden die Beschäftigten durch die direkten Vorgesetzten anhand eines in der Betriebsvereinbarung definierten Kriterienkatalogs, bei der sie einer von fünf Beurteilungsstufen zugeordnet werden. Die Bewertung der abgeschätzten Leistung, d.h. die Zuweisung eines konkreten Geldwertes zu der jeweiligen Beurteilungsstufe, erfolgt anhand einer vom Management aufgestellten Tabelle, die eine nach Entgeltgruppenzugehörigkeit unterschiedliche Geldsumme für die Bewertungsstufen vorsieht. Gleichzeitig ist die Gesamtsumme, die für die Verteilung der Leistungszulage zur Verfügung steht, durch das vom Vorstand festgelegte Budget, das sich an der ökonomischen Lage des Unternehmens orientieren soll, begrenzt.

 

Vermarktlichung der Lohnbestimmung

Indem die Budgethöhe von der ökonomischen Lage des Unternehmens abhängig gemacht wird, fließt in das Leistungsentgelt also nicht nur die eingeschätzte individuelle Leistung ein, sondern ebenso die ‘Bewertung’ des Produktionsergebnisses durch den externen Markt. Die Definition von "Leistung" entkoppelt sich damit tendenziell von der individuellen Arbeitskraftverausgabung, die Arbeit wird erst durch den Erfolg auf dem Markt "in Wert gesetzt". Die Lohnabhängigen werden dadurch von reinen Verkäufern ihrer Ware Arbeitskraft zugleich zu Verkäufern des gefertigten Produkts und somit zu Teilhabern am Realisationsrisiko, zu "Intrapreneurs", allerdings ohne dass sie – wie das begriffliche Vorbild des Entrepreneurs suggeriert – ihren "Kapitalertrag" individuell wirklich beeinflussen könnten, denn die strategischen Entscheidungen, die die Position des Unternehmens am Markt und somit den Preis der eingesetzten Arbeitskraft (mit) bestimmen, bleiben von den Beschäftigten im Kern unbeeinflussbar. Die Widersprüchlichkeit des Kapital/Arbeit-Verhältnisses wird dadurch tendenziell in die Lohnabhängigen selbst hinein verlagert, ohne dass aber die Strukturbedingungen kapitalistischer Lohnarbeit aufgehoben wären. Zu den typischen Merkmalen der Lohnarbeit – die Abhängigkeit der Reproduktion vom Verkauf der Arbeitskraft und die Notwendigkeit der Unterwerfung unter die betrieblichen Kontrollverhältnisse – tritt das unternehmerische Risiko der Unsicherheit des Erfolges am (Produkt-)Markt hinzu, allerdings ohne Teilhabe an den "Privilegien" der Kapitalseite.

Dieses Einfließen der Marktbewertung in den individuellen Leistungslohn findet allerdings nicht allein auf Unternehmensebene statt, sondern wird auf die einzelnen Unternehmensbereiche und Profit-Center heruntergebrochen, indem das Budget auf die verschiedenen Bereiche je nach ihrem Beitrag zum Gesamtergebnis aufgeteilt wird. Dies bedeutet zugleich den endgültigen Abschied vom tayloristischen Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, der "gleichen Lohn für gleiche Leistung" implizierte. Betrachtet man die Beurteilung der Beschäftigten der verschiedenen Produktionsbereiche vor ihrer Quasi-Externalisierung oder ihrer vollständigen ökonomisch-organisatorischen Ausgliederung, so sind hier bereits die Differenzen in der ökonomischen Lage zwischen den später selbständigen Gesellschaften des "Netzwerk-Konzerns" vorweggenommen: Wer in den Randbereichen des Hoechster Betriebsgeflechts arbeitet, bekommt dies auch direkt in seinem Geldbeutel zu spüren.

 

Re-Personalisierung der Leistungskontrolle

Neben der Vermarktlichung der Lohnbestimmung beinhaltet das Entgeltsystem von 1995 eine Re-Hierarchisierung der Beziehungen im unmittelbaren Arbeitsprozess. Die Verkopplung der Leistungsprämie mit einem neuen Personalbeurteilungssystem wertet die Rolle der direkten Vorgesetzten, die nun über einen erheblichen Teil der Vergütung ihrer Beschäftigten praktisch frei entscheiden können, erheblich auf und schafft dadurch neue Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse. Im Vergleich zur klassischen tayloristischen (Akkord- bzw. Prämien-)Lohnform bedeutet die neue Vergütungsmethode damit zugleich eine Re-Personalisierung des Kontrollmodus. An die Stelle (vorgeblich) objektiver, methodisch nachvollziehbarer Arbeits- und Leistungsbewertungsmechanismen tritt die subjektive, kaum kontrollierbare Einschätzung des Leistungsverhaltens der Beschäftigten. Dies geht einher mit der Abkehr von der konkreten Definition und detaillierten Vorgabe einzelner Arbeitsaufgaben und der Verlagerung der Leistungskriterien in den Persönlichkeitsbereich. Die analytische Leistungsbeurteilung ist nicht mehr wie die traditionellen Leistungslohnformen angewiesen auf die Exante-Planbarkeit der Arbeitskraftverausgabung im Sinne der Bestimmung einer konkreten Arbeitsmenge pro Zeiteinheit, sondern honoriert die Akzeptanz und Internalisierung von Werthaltungen und Verhaltensnormen, die in vorab unbestimmt bleibenden Situationen die unternehmenszieladäquate Arbeitskraftverausgabung erwarten lassen. An die Stelle der kontinuierlichen Leistungsüberwachung anhand des Mengenergebnisses oder Maschinennutzungsgrads tritt eine Prüfung der individuellen Einstellungen und Orientierungen, die sicherstellen soll, dass die arbeits- und produktionsorganisatorisch notwendig gewordene partielle Autonomie mittels internalisierter (Selbst-) Kontrolle flexibel im Sinne des Unternehmensziels genutzt wird.

Insofern schon die analytische Leistungsbeurteilung die Erfüllung bestimmter Ergebnisziele durch Wert- und Verhaltensorientierungen als Leistungsnorm ersetzt, ist diese Entlohnungsform durchaus auch kompatibel mit neuen sozialtechnischen Strategien, die auf die Etablierung eines unternehmenseinheitlichen Wertehorizonts als Motivations- und Selektionsinstrument zielen, wie sie in der "Unternehmenskultur"-Debatte propagiert werden. Die analytische Leistungsbeurteilung kann in diesem Zusammenhang als Instrument zum Abtesten erwünschter unternehmens- und gruppenkonformer Einstellungen dienen und die Einpassung der Beschäftigten in die "Unternehmenskultur" honorieren. Der sozialtechnische Charakter der Leistungsbeurteilung zeigt sich insbesondere in ihrer Verbindung mit ‘Mitarbeitergesprächen’, die im beschriebenen Fall keineswegs zur Aushandlung von Leistungsnormen oder irgendeiner anderen Form der Beschäftigtenbeteiligung, sondern allein zur Vermittlung betrieblicher und unternehmensbezogener Ziele und Werthaltungen dienten.

 

"Privatisierung" der Lohnfindung statt Politisierung der Leistungsfrage

Die neue Entlohnungsform hat die paradoxe Konsequenz der gleichzeitigen Auf- und Entwertung der betrieblichen Interessenvertretung. Aufgewertet wird die Rolle des Betriebsrats durch die Entkopplung der betrieblichen Entgeltbestandteile von der Tarifdynamik, die eine weitere Verbetrieblichung der Entgeltpolitik und somit einen Bedeutungszuwachs der betrieblichen Interessenvertretung bedeutet. Andererseits kann der Betriebsrat diese neue Aufgabe immer weniger im Sinne einer effektiven Vertretung der entgeltpolitischen Interessen der Beschäftigten wahrnehmen. Durch die "Privatisierung" der Leistungsbeurteilung und die Vermarktlichung der Leistungsbewertung wird die betriebliche Entgeltpolitik gewissermaßen auf zwei Ebenen aufgeteilt: in den Mikrobereich der individuellen Leistungsbeurteilung als persönliches Verhältnis zwischen den einzelnen Beschäftigten und ihren Vorgesetzten und in den Makrobereich der Lohnbudgetbestimmung als marktbezogene Entscheidung auf der zentralen Ebene des Unternehmens andererseits. Durch diese gegenläufigen De- und Re-Zentralisierungsprozesse verliert die mittlere Ebene des Betriebs, wo der Betriebsrat traditionell über am besten ausgebaute Mitbestimmungs- und Einflussmöglichkeiten verfügt, wesentlich an Bedeutung, ohne dass er bislang neue Handlungsfelder im Mikrobereich der individuellen Arbeitsbeziehungen und im Makrobereich des Unternehmens aufbauen konnte.

Durch die "Privatisierung" der Leistungslohnpolitik bleibt die betriebliche Interessenvertretung in der Praxis – trotz formal garantierter Beschwerde- und Beteiligungsrechte – weitgehend ohne Einfluss auf die Beurteilung der Leistung und ihre monetäre Bewertung. Der Nachweis von "Fehleinschätzungen" in der individuellen Leistungsbeurteilung ist für die Vertreter des Betriebsrats schon allein deswegen schwer zu erbringen, weil sie im Regelfall an den jeweiligen betrieblichen Arbeitsprozessen nicht beteiligt sind. Während die Vorgesetzten gewissermaßen als "Experten" für die konkreten Fälle auftreten können, verbleibt den Interessenvertretern nur die Position der Außenstehenden. Die Durchsetzung des individuellen lohn- und leistungspolitischen Interesses kann daher kaum mehr mittels Stellvertreterpolitik durch die betriebliche Interessenvertretung gelingen. Die Beschäftigten bleiben meist allein auf ihre persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen verwiesen.

Ähnlich problematisch gestalten sich die Mitbestimmungsmöglichkeiten auf der zentralen Makroebene des Unternehmens. Im Vergleich zum tayloristischen Modell der "lohnpolitischen Arbeitsteilung" zwischen Betriebs- und Tarifebene beinhaltet die neue Entlohnungsform eine deutliche Verbetrieblichung. Die Frage der Produktivitätsbeteiligung der Beschäftigten wird aus dem Tarifbereich tendenziell auf die mitbestimmungsrechtlich erheblich schwächere Betriebsebene verlagert. Dies ist insbesondere deswegen problematisch, weil die rechtlichen und institutionellen Möglichkeiten der Beschäftigtenvertretung weiterhin an der "lohnpolitischen Arbeitsteilung" des Taylorismus orientiert bleiben und im Bereich der Be-triebspolitik gegenwärtig keine ausreichenden rechtlichen Bestimmungen bestehen, um die Interessen der Beschäftigten effektiv durchzusetzen: weder für die Bestimmung der Lohn/Leistungsrelation (d.h. bei der Definition der Geldwerte für die einzelnen Beurteilungsstufen), noch für die zentrale Frage der kollektiven Leistungslohnsumme (d.h. bei der Festlegung des Lohnbudgets). Beteiligungsansprüche werden hier von Seiten der Interessenvertretung allerdings mehrheitlich auch gar nicht gestellt. Das heißt, kurz gesagt, dass die Definition der Leistungslohnsumme – und damit die Frage der Produktivitätsbeteiligung der Beschäftigten – als Bereich möglicher Politisierung und verstärkter Aushandlung überhaupt nicht in Erscheinung tritt und allein der Unternehmensleitung überantwortet bleibt. Die einseitige Schließung dieses möglichen Politisierungs- und Aushandlungsfelds zugunsten der Unternehmensseite gelingt letztlich durch die Konstruktion einer Vorstellung, nach der der Lohn als abhängige Variable ökonomischer Sachgesetzlichkeiten begriffen wird. Die Höhe der Leistungslohnsumme wird damit nicht mehr – sei es durch legitimierende Berufung auf ‘Wissenschaftlichkeit’ oder – als ‘Legitimation qua Verfahren’ – durch Beteiligung der Belegschaft als ‘faires’ Ergebnis von Aushandlungsprozessen begriffen; vielmehr genügt der Verweis auf eine nicht diskussionsfähige ökonomische Rationalität. Was dabei überhaupt als ökonomische Notwendigkeit gilt, wird allerdings allein von Arbeitgeberseite entschieden.

 

Einzelfall Hoechst oder allgemeine Entwicklungstendenz?

Inwieweit können die geschilderten Erfahrungen mit den Hoechster Entlohnungsmethoden verallgemeinert und auf andere Branchen oder Betriebe übertragen werden? Ein neues, allgemeines, übergreifendes System der Entgeltpolitik, wie es das tayloristische einst darstellte, ist gegenwärtig nicht in Sicht. Zudem stellten die geringe leistungspolitische Regelungsdichte der Chemie-Tarifverträge, die sozialpartnerschaftliche Orientierung der Hoechster Mehrheitsbetriebsräte, sowie die paternalistisch-integrative Tradition des Hoechster Betriebspolitik, die nicht zuletzt auch eine der Ursachen für die weitgehende Passivität der Belegschaft ist, keinesfalls optimale Bedingungen für eine effektive Durchsetzung der Beschäftigteninteressen dar; insofern muss eine Entwicklung wie bei Hoechst nicht zwangsläufig eintreten.

Gleichwohl kommen in der Vermarktlichung der Lohnbestimmung und der Re-Personalisierung des Kontrollmodus’ Tendenzen zum Ausdruck, die nicht nur die Entgeltpolitik der Hoechst AG betreffen. Auch in anderen Betrieben und Branchen finden sich gegenwärtig ähnliche Entwicklungen, die auf eine Abkehr vom arbeitskraftbezogenen Leistungsbegriff des Taylorismus’ abzielen. Das organisational vermittelte, meist strategisch konstruierte Durchgreifen externer Marktzwänge auf Leistungsvorgaben und Lohngrößen bedeutet, dass "Leistung" jeweils situations- und unternehmensspezifisch im Kontext der ökonomischen Zwänge und organisatorischen Anforderungen bestimmt wird. Dies bedeutet in der Regel eine Dynamisierung der Leistungsstandards und die Flexibilisierung der Lohnhöhe. Diese (vermeintlichen) Zwänge von Markt und Organisation werden allerdings nicht allein an "objektiv" ermittelten Kennzahlen oder gar – wie im tayloristischen Modell – vorgeblich wissenschaftlich berechneten Leistungsgrößen festgemacht. Vielmehr werden Marktvorgaben und betriebliche Zielhierarchien, wie etwa bei Personalbeurteilungssystemen oder Zielvereinbarungen, durch personalisierte Kontrollmethoden und betriebliche Sozialtechniken ‘übermittelt’. Angesichts dieser neuen leistungs- und lohnpolitischen Instrumente werden zugleich die Chancen zur Durchsetzung der leistungspolitischen Interessen der Beschäftigten deutlich eingeschränkt, weil die formalen Mitbestimmungsmöglichkeiten wie oftmals auch die Handlungsstrategien der betrieblichen Interessenvertretungen immer noch weitgehend am tayloristischen Leistungskompromiss orientiert sind. Dringliche Aufgabe ist daher die verbindliche tarifliche Regelung der neuen leistungs- und lohnpolitischer Instrumentarien, die Entwicklung betrieblicher Einflussmöglichkeiten auf unternehmensökonomische Entscheidungen und nicht zuletzt der Aufbau basisnaher Handlungsmacht der Beschäftigten selbst.

 

Literatur

Becker, Steffen / Menz, Wolfgang / Sablowski, Thomas (1999): »Ins Netz gegangen. Industrielle Beziehungen im Netzwerk-Konzern am Beispiel der Hoechst AG.« In: Sydow, Jörg / Wirth, Carsten (Hg.): »Arbeit, Personal und Mitbestimmung in Unternehmungsnetzwerken.« München, Mehring, S. 337-364

Bender, Gerd (1997): »Lohnarbeit zwischen Autonomie und Zwang.« Frankfurt/M, New York

Siegel, Tilla (1995): »Schlank und flexibel in die Zukunft. Überlegungen zum Verhältnis von industrieller Rationalisierung und gesellschaftlichem Umbruch.« In: Aulenbacher, Brigitte / Siegel, Tilla (Hg.): »Diese Welt wird völlig anders sein. Denkmuster der Rationalisierung.« Pfaffenweiler, S. 175-195

Siegel, Tilla / Schudlich, Edwin (1993): »Hinter den Kulissen Ungewissheit: Betriebliche und gewerkschaftliche Lohnpolitik im Wandel.« In: Mitteilungen des IfS, Februar 1993, H. 2, S. 45-62

Menz, Wolfgang / Becker, Steffen / Sablowski, Thomas (1999): »Shareholder-Value gegen Belegschaftsinteressen. Der Weg der Hoechst AG zum "Life-Sciences"-Konzern«. Hamburg

Der vorliegende Artikel ist im Kontext zweier Forschungsprojekte an der Uni Frankfurt entstanden, der Untersuchung "Unternehmerische Vernetzung und der Wandel der Beschäftigungsverhältnisse" unter der Leitung von Wilhelm Schumm mit den Mitarbeitern Steffen Becker und Thomas Sablowski sowie dem Projekt "Leistungs- und Interessenpolitik aus der Perspektive von Beschäftigten" unter der Leitung von Tilla Siegel mit dem Mitarbeiter Mathias Vogel.

Erschienen in: "express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit" Heft 2/2000

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