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Updated: 18.12.2012 15:51
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Das politische Streikrecht

Wie wir es verloren haben und warum wir es gerade jetzt brauchen – von Werner Sauerborn*

Rund 100 Aktive aus Gewerkschaften und Betrieben waren am 30./31. Oktober letzten Jahres dem Aufruf der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken zu ihrem elften Kongress »Gewerkschaftspolitik in der Krise – Kämpfen statt verzichten« in Stuttgart gefolgt. Das dort gehaltene Referat von Werner Sauerborn zum Thema politische Streiks dokumentieren wir im Folgenden in leicht überarbeiteter Form als Beitrag zur Diskussion über gewerkschaftliche Antworten auf die Krise. Weitere Beiträge zu der Tagung sowie die Abschlusserklärung können in dem mittlerweile erschienenen und im Labournet Germany verfügbaren Kongressreader pdf-Dateinachgelesen werden, so die Referate von Bernd Riexinger zur Tarifpolitik in der Krise am Beispiel des ErzieherInnen-Streiks, von Christa Hourani zum Selbstverständnis der Gewerkschaftslinken, von Matthias Fritz zu betrieblichen Auseinandersetzungen im Jahr eins nach der Krise und von Daniel Behruzi über Strategien der Arbeitszeitverkürzung.

Der Forderung nach politischem Streikrecht oder Streiks haftet in der deutschen politischen Diskussion etwas Verruchtes, Illegales, Umstürzlerisches an, während dies in anderen Ländern Teil wirtschaftlicher Normalität ist. Auch wenn die Bundeskongresse von ver.di und jüngst der IG BAU sich zum politischen Streikrecht bekannt haben, gilt der politische, also nicht gegen Arbeitgeber oder Arbeitgeberverbände, sondern gegen den Staat bzw. den Gesetzgeber gerichtete, Streik bis tief ins gewerkschaftliche Denken hinein als illegitim.

Woher kommt diese Einschränkung unserer Handlungsmöglichkeiten, und warum müssen wir uns gerade jetzt von ihr befreien?

Streikrecht – ein Rückblick

Der Kampf um das Streikrecht ist so alt wie die ArbeiterInnenbewegung. Dabei war es nie ein Ziel für sich, sondern wurde Stück für Stück, immer als Instrument für inhaltliche Ziele erweitert, erkämpft – teilweise auch wieder verloren, wie im Zeitungsstreik 1952, bei dem mit dem Kampf um eine erweiterte Betriebsverfassung auch der Kampf um das politische Streikrecht verloren ging (s.u.).

Bis dahin ging es immer um ein universelles Streikrecht, das erkämpft wurde, sowohl entlang ökonomischer Auseinandersetzungen, wie dem Kampf um den 8-Stunden-Tag, um Lohnerhöhungen oder Massenentlassungen, als auch entlang politischer Forderungen wie dem allgemeinen Wahlrecht, der Verteidigung der Demokratie (12 Mio. gegen den Kapp-Putsch 1920) oder gegen steigende Preise (9 Mio. in Hungerstreiks im November 1948). Das ganze Spektrum der Streiks vor dem ersten Weltkrieg – vom Bergarbeiterstreik in Pennsylvania 1900 bis zum Kampf von 100000 ArbeiterInnen in Sankt Petersburg für politische Freiheiten und den 8-Stunden-Tag –, in denen sich politische und arbeitgeberbezogene (»ökonomische«) Elemente oft verschränken, beschreibt Rosa Luxemburg in ihrer Rede auf der Generalversammlung der Freien Gewerkschaften 1910 in Hagen (»Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften«).

Die politischen Debatten dieser Zeit drehten sich nicht um die Legitimität politischer Streiks, sondern erstens um die Frage, ob das Streikrecht zuvörderst ein Instrument und Machtmittel der politischen Parteien der ArbeiterInnenbewegung oder eins der Gewerkschaften ist (»Massenstreikdebatte«), und zweitens um die Frage der Organisation: Setzen Streiks die Organisiertheit der ArbeiterInnenbewegung voraus, wie es die LeninistInnen vertraten, oder zeigen Streiks als spontaner Ausdruck eines Massenwillens, dass Avantgardeorganisationen entbehrlich sind, dass Streiks gar das Ziel selbst sind, wie es Bakunin bzw. die AnarchistInnen sahen, oder entwickeln sich die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bzw. das Verständnis für ihre Notwendigkeit in dialektischer Weise erst im Streik, wie es Rosa Luxemburg vertrat?

Auf diese Weise erkämpft, fand das Streikrecht als universelles Recht (mit spezifischen Einschränkungen, wie z.B. im Beamtenrecht) Eingang in das moderne Verfassungsrecht. Es ist Standard in den Verfassungen fast aller demokratischen Industrieländer (in Europa überall, außer in Dänemark und Großbritannien), es ist indirekt, aber unbestritten in der Weimarer Verfassung wie im Grundgesetz und übrigens auch in der Europäischen Sozialcharta und dem EU-Verfassungsvertrag verankert (Hensche 2004, 2006).

Dass in Deutschland nach 1952 dennoch das politische Streikrecht via allgemein akzeptiertem Richterrecht untersagt wurde, ist eine vordemokratische Einschränkung eines Grundrechts und wird auch immer öfter von unverdächtiger Seite als solche bewertet. So sieht eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von 2006 im deutschen Arbeitskampfrecht einen Verstoß gegen die Europäische Sozialcharta. Die ILO wertet seit Langem und bei vielen Gelegenheiten das deutsche Verbot politischer Streiks als Verstoß gegen die ILO-Prinzipien (Butterwegge 2008).

Der verfassungsrechtliche Blick auf die Geschichte des (politischen) Streikrechts ist wichtig, weil er die Maßstäbe zurechtrückt: Die Forderung nach politischem Streikrecht ist keine Maßlosigkeit und keine linksradikale Phrase, sondern ein Grundrechtsanspruch, der Versuch, einen vordemokratischen Missstand zu überwinden und zur demokratischen Normalität zurückzukehren. Für die wesentliche, nämlich politische Frage, wie wir diese Einschränkung unserer Handlungsmöglichkeit überwinden und das politische Streikrecht wieder zurückgewinnen können, ist von Interesse, wie und unter welchen Rahmenbedingungen wir es verloren haben.

Die Niederlage im Kampf um die Betriebsverfassung

1952 kann als das Schlüsseljahr angesehen werden, in dem sich der Klassenkompromiss der Nachkriegszeit, später Rheinischer Kapitalismus genannt, herausschälte. Ging es in den ersten Nachkriegsjahren noch um die Systemfrage, so konnte diese spätestens 1952 als entschieden gelten. Unterstützt von der US-amerikanischen Besatzungsmacht war es den alten Machteliten und Altbesitzern gelungen, die Verfügungsmacht über die industrielle Produktion und mit den Schlüsselfiguren Adenauer und Erhard auch die politische Hegemonie zurückzugewinnen. In den Auseinandersetzungen des Jahres 1952 ging es bereits nur noch um die Frage des relativen Einflusses der Gewerkschaften im wieder sattelfesten Kapitalismus.

Die Bühne für diese Auseinandersetzung war der Kampf um ein neues Betriebsverfassungsgesetz. Das Kabinett Adenauer hatte Gesetzesentwürfe vorgelegt, die sogar noch hinter die Betriebsverfassung der Weimarer Republik zurückfielen und die Spaltung in Personalvertretungs- und Betriebsverfassungsrecht vorsahen (Schmidt 1978, S.41ff). Der DGB wollte sich nicht noch weiter abdrängen lassen und beschloss, gegen dieses Gesetz bis hin zum (politischen) Streik zu mobilisieren. Adenauer warnte den DGB-Vorsitz-enden Christian Fette (Hans Böckler war ein Jahr zuvor gestorben) mit dem klassischen Argument gegen den politischen Streik, »der Parlamentsmehrheit den gewerkschaftlichen Willen aufzuzwingen«. Die Arbeitnehmer sollten ihre politische Einflussnahme auf die Stimmabgabe bei Wahlen beschränken (Lucie Redler 2004, S. 39). Die Belegschaften schienen ein gutes Gespür für die historische Dimension dieser Auseinandersetzung zu haben und beteiligten sich weit über die Erwartungen hinaus an den Protesten und Warnstreiks (350000 TeilnehmerInnen Mitte Mai, weitere Hundertausende im Juni). Aus dieser Protestbewegung entwickelte sich – typisch für den Zusammenhang von Massenbewegungen und politischem Streik – vom 27. bis 29. Mai der Streik der Drucker und Setzer. Bereits im Vorfeld hatten die Arbeitgeber mit massiven Schadensersatzforderungen gedroht: Der Streik sei illegal, weil politisch.

Unter dem Eindruck dieser Drohungen und auf eine vage Verhandlungszusage von Adenauer hin brach die DGB-Führung den Streik ab. Ein lehrbuchmäßiger Fehler, der die Niederlage einleitete. Adenauer hielt die Gewerkschaften mit belanglosen Verhandlungen bis eine Woche vor der entscheidenden Bundestagssitzung hin, um dann, ohne dass die Gewerkschaften die Chance gehabt hätte, die Mobilisierung wieder aufzunehmen, seine Version des Betriebsverfassungsgesetz im Parlament beschließen zu lassen.

Um die Niederlage der Gewerkschaften bei dieser guten Gelegenheit auch noch auf die Frage des politischen Streikrechts auszudehnen, reichten die Arbeitgeber Schadensersatzklagen ein, obwohl es sich beim Zeitungsstreik zwar um einen politischen, aber nach nur zwei Tagen nicht um einen Erzwingungsstreik, sondern eher um einen Demonstrationsstreik gehandelt hatte, der auch noch weit von einem branchenübergreifenden Generalstreik entfernt war. Diese Klagen flankierten sie mit aufwendigen Gutachten der (nazibelasteten) Verfassungsrechtler Ernst Forsthoff und später Carl Nipperdey, gegen die der DGB ein Gutachten von Wolfgang Abendroth ins Feld führte.

Die restaurative Rechtswissenschaft war längst wieder mainstream, die gewerkschaftliche Mobilisierung war abgesagt, sodass die Gerichte, einschließlich des BAG, sich im Wesentlichen der Arbeitgebersicht anschlossen. Die Niederlage der Gewerkschaften war komplett und wurde von diesen als künftige Geschäftsgrundlage auch anerkannt. So formulierte Walter Freitag, der dem wegen seiner desaströsen Strategie im Kampf um die Betriebsverfassung abgelösten Christan Fette als DGB-Vorsitzender gefolgt war, in seiner Neujahrsansprache 1953: »Der DGB erneuert seine Bereitschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern. Die Gewerkschaften wünschen (!) aber ausdrücklich, dass jeder Klassenkampf von oben aufhört. Andernfalls werden die nächsten Bundestagswahlen zeigen, wie sich das Verhalten der Unternehmer auszahlt.«

So eindeutig die Niederlage beim Primärziel Mitbestimmung und beim Mittel-zum-Zweck-Ziel politischer Streik war, so markiert das Jahr 1952 dennoch nicht den Untergang der ArbeiterInnenbewegung, sondern schreibt vielmehr das Niveau eines Klassenkompromisses fest, in dessen Rahmen sich die Republik in den folgenden 20 bis 30 Jahren bewegte. Die Mitbestimmung wurde nicht abgeschafft, sondern auf das Niveau von Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetz beschränkt (mit Ausnahme der Montanmitbestimmung). Das politische Streikrecht wurde zwar abgeschafft, das tarifliche aber ausdrücklich anerkannt, womit auch das Prinzip der Tarifautonomie und damit verbunden die weitgehende Anerkennung von Einheitsgewerkschaft und Flächentarifvertrag zur Geschäftsgrundlage des später so genannten Modells Deutschland oder Rheinischen Kapitalismus wurden.

Rheinischer Kapitalismus ohne politisches Streikrecht

Dass der Kompromiss von 1952 eine solche historische Rolle spielen konnte, lag daran, dass beide Seiten ihn akzeptieren konnten, weil er ihnen vor dem Hintergrund der ökonomischen Wachstumsbedingungen in den Folgejahren relative Vorteile verschaffte. Die Gewerkschaften konnten in diesem Rahmen tarifliche Verbesserungen in Form von Reallohnsteigerungen und deutlichen Verkürzungen der Arbeitszeit (Wochenarbeitszeit, freier Samstag, Urlaubsverlängerungen) durchsetzen, die Massenarbeitslosigkeit konnte durch die Arbeitszeitverkürzungspolitik gebannt werden, der Sozialstaat wurde ausgebaut. Die Arbeitgeberseite hatte Ruhe an der sozialen Front, störende Streiks waren selten, die kapitalistische Restauration konnte sich unbehindert vollziehen. Und mit Flächentarifen und Einheitsgewerkschaften konnten die Arbeitgeber gut leben, weil und solange ein entscheidendes Kriterium erfüllt war, dass nämlich alle Konkurrenten auf den Warenmärkten den gleichen Tarif- und Sozialstandards unterworfen waren, wie jeder von ihnen selbst.

Dass dieser Kompromiss solange Bestand haben konnte, erklärt sich auch dadurch, dass beide Seiten auch die mit ihm verbundenen Einschränkungen akzeptierten, ja sich zu eigen machten. So die Gewerkschaften vor allem den Verlust des politischen Streikrechts. Dass der politische Streik verboten sei, dürfte immer noch zum fest verankerten gewerkschaftlichen Selbstverständnis der meisten haupt- und ehrenamtlichen Funktionäre gehören.

Klassenkompromiss aufgekündigt

An Verträge, auch an politische, muss man sich sicher halten, Schattenseiten eingeschlossen. An Zugeständnissen aber auch dann noch festzuhalten, wenn die Gegenseite den Vertrag bereits aufgekündigt hat und man nicht mehr von dessen Vorteilen profitiert, ist ein Fehler oder eine Dummheit.

Eben dies ist beim politischen Streikrecht der Fall: Der Klassenkompromiss des Rheinischen Kapitalismus ist perdu. Die Arbeitgeberseite, die »politische« Klasse, hat ihn aufgekündigt. Die Arbeitgeber verlassen die Arbeitgeberverbände, entziehen sich der Bindungswirkung von Flächentarifen, puschen gelbe Gewerkschaften und antigewerkschaftliche Listen bei Mitbestimmungs- oder Sozialwahlen. Spätestens mit der rot-grünen Agendapolitik werden die Fundamente des Sozialstaatskompromisses angegriffen, indem die Parität der sozialen Sicherungssysteme aufgekündigt und ein Niedriglohnsektor etabliert wird, der den Zweck, zumindest den objektiven Effekt hat, die Tarifmächtigkeit der Gewerkschaften zu unterlaufen. Der Abbruch der Arbeitszeitverkürzungspolitik und ihre Ersetzung durch Arbeitszeitverlängerungen (tariflich, Rente mit 67) hat Massenarbeitslosigkeit zu einer Dauererscheinung gemacht, die die Gewerkschaften zusätzlich in die Defensive getrieben hat.

Auf den historischen Umbruch, den diese Vertragsaufkündigung darstellt, reagieren die Gewerkschaften nicht, indem sie ihrerseits auf die Grundlinie zurückkehren – etwa dadurch, dass sie ihre »Konzession«, den Verzicht auf das politische Streikrecht, aufkündigen –, sondern indem sie die Vertragskündigung quasi nicht annehmen und – mal bittend, mal ultimativ – eine Rückkehr zu den Grundlagen des Kompromisses fordern.

Diese Hoffnung hat bereits in den letzten Jahren getrogen, ihr weiter anzuhängen, wird die Gewerkschaften gerade unter den Bedingungen der Krise immer mehr zu Statisten, bestenfalls Co-Managern, einer weiteren Umverteilung von unten nach oben machen. Die gewerkschaftliche Hoffnung auf eine Wiederherstellung der alten Bedingungen basiert auf einem Missverständnis der Beweggründe der Gegenseite, sich von dieser Geschäftsgrundlage zu verabschieden. Die Gründe für die Vertragskündigung der Arbeitgeber liegen nicht im Subjektiven, in der Gier etwa (hatten sie die vorher nicht?), oder in einer neuen Ideologie (fällt der Neoliberalismus vom Himmel?), sondern im Umbruch, ja der Revolutionierung der ökonomischen Rahmenbedingungen seit den achtziger Jahren, also in der materiellen Basis des Kapitalismus. Die kapitalistische Konkurrenz findet national wie global in völlig neuen Strukturen und Märkten statt. Die Gewerkschaften können inzwischen eine für die Arbeitgeber wichtige Zusage nicht mehr einhalten, dass sie nämlich die ihnen abverlangten Standards auch für alle Konkurrenten gleichermaßen garantieren. War im Rheinischen Kapitalismus die Einhaltung eines Flächentarifvertrags für den Arbeitgeber kein Problem, weil er für seine Konkurrenten im Prinzip auch galt, wird sie heute zu einem spürbaren Konkurrenznachteil. Konnte vorher mit Flächentarifverträgen der Lohn aus der kapitalistischen Konkurrenz herausgehalten werden, ist er heute, wo die Tarife nur noch Teile oft globaler Branchen abdecken, in den Mittelpunkt des kapitalistischen Wettbewerbs geraten.

Die Einhaltung von Sozial- und Arbeitsbedingungen aus Tarifverträgen war für das Kapital noch nie eine Frage der Moral. Jetzt ist sie zu einem Wettbewerbsrisiko geworden, von dem man sich befreien will, indem man Flächentarife abschüttelt, sozialstaatliche Belastungen abbaut, hinderliche Mitbestimmung loswerden will. Der Weg zurück zum alten Kompromiss ist unter diesen veränderten Bedingungen ein aussichtsloses Unterfangen. Es bleibt nur der Weg nach vorn. Die Gewerkschaften müssen sich strategisch neu sortieren. Die relative Gemütlichkeit des Rheinischen Kapitalismus ist vorbei. Daraus müssen viele Konsequenzen gezogen werden. Eine der ersten muss sein, die eigene Konzession beim politischen Streikrecht zurückzunehmen und sich dieses Recht wieder zurückzuerobern.

Gegenmachtoption in der Krise

Dies ist nicht nur im Sinne der Wiederherstellung einer abstrakten Kräftebalance nötig, sondern auch jetzt, wo es um die Verteilungsfragen beim Abtragen der Krisenfolgen geht, ganz praktisch von hoher Dringlichkeit. Ein großer, vielleicht der größte Teil des ins Haus stehenden Umverteilungsvolumens wird über die sogenannte sekundäre Einkommensverteilung, also über Verschiebungen auf der Einnahme- und Ausgabeseite der öffentlichen und Sozialversicherungshaushalte erfolgen – oder zu verhindern sein. Entscheidungsinstanz wird mehr denn je der Gesetzgeber auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene, auch auf EU-Ebene sein. Das gilt für die Steuer- und Finanzpolitik und ganz zentral, orientiert man sich am schwarz-gelben Koalitionsvertrag, für die Gesundheitspolitik.

Andererseits richten sich schon immer und besonders jetzt in der Krise wesentliche Forderungen der Gewerkschaften an den Staat. Stichworte sind der gesetzliche Mindestlohn, Hartz IV-Sätze, Konjunkturprogramme, Finanzmarktregelung. Auch viele tarifliche Forderungen erfordern eine staatliche Flankierung, die es durchzusetzen gilt, vor allem in der Arbeitszeitpolitik. Bei der Altersteilzeit wie bei der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung werden große Schritte kaum möglich sein, ohne dass zugleich über Steuererleichterungen, staatliche Zuschüsse, Ausgleichsmechanismen und Garantien entsprechende Rahmenbedingungen für Tarifregelungen durchgesetzt werden.

Um auf all diesen krisenentscheidenden Themenfeldern handlungs- und durchsetzungsfähig zu werden, reicht weder das auf Tariffragen begrenzte Streikrecht, weil es die meisten Themen gar nicht erfasst, noch das außerbetriebliche Versammlungsrecht, das uns Massendemonstrationen ermöglicht, denen aber die ökonomische Druckentfaltungsmöglichkeit fehlt. Um wieder eine realistische Gegenmachtoption zu haben, brauchen wir die ultima ratio eines Streiks, der ökonomischen Druck auch für die genannten politischen Ziele ausübt (Sauerborn, 2006).

Ein Stück weit brauchen wir das politische Streikrecht nicht nur als Ergänzung, sondern auch als Kompensation für die zunehmende Wirkungslosigkeit des tariflichen Streikrechts. Während bei einem Arbeitskampf für eine Lohn- oder Arbeitszeitforderung die Belegschaften sehr schnell und leicht mit dem Argument der Standortkonkurrenz erpressbar sind und gegeneinander in Stellung gebracht werden, ist der politische Streik allgemeiner, weil branchenübergreifender. Gegen Zuzahlungen oder Kopfpauschale im Gesundheitswesen sind Belegschaften von Daimler, Audi, RWE oder REWE unabhängig von der kapitalistischen Konkurrenz mobilisierbar. Ein weiterer Schritt, sich der Erpressbarkeit durch die Konkurrenz zu entziehen, wäre natürlich, Forderungen und Ziele grenzüberschreitend, z.B. auf europäischer Ebene, zu formulieren und gemeinsam für sie zu mobilisieren, zumal sich immer mehr politische Forderungen, insbesondere Defensivforderungen, an den Staat im Sinne des Europäischen Gesetzgebers (EU-Richtlinien, Urteile des EU-Gerichtshofs) zu richten hätten.

Wiederaneignung Schritt für Schritt

So wie wir das politische Streikrecht 1952 nicht durch einen Richterspruch verloren haben, werden wir es auch heute weder durch einen Antrag im Bundestag noch auf rechtlichem Weg allein wiederbekommen. Letztlich ist es wie damals eine Frage des politischen Drucks und der Mobilisierung, die in folgenden Schritten erfolgen könnte:

  1. Die Gewerkschaften müssen das politische Streikrecht wollen, die Forderung danach zum Gegenstand ihres Leitbilds und zum Teil ihrer Strategie gegen die Abwälzung der Krisenfolgen machen. Dieser Wille muss sich in entsprechenden Anträgen und Beschlusslagen auf allen Ebenen der Gewerkschaften und, da es um die politische Ebene der Auseinandersetzungen geht, auch des DGB-Bundeskongresses 2010 niederschlagen. Der ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg hat via Bezirkskonferenz einen entsprechenden Antrag an den DGB Bundeskongress gerichtet.
  2. Entsprechende Beschlusslagen zu erreichen, ist, wie die bereits gefassten Beschlüsse bei ver.di und IG BAU zeigen, nicht schwer. Beschlossene Anträge müssen aber auch umgesetzt werden. Das ist heutzutage leider kein Automatismus mehr. Es muss darauf gedrungen werden, dass sich die Gewerkschaften die Forderung nach politischem Streikrecht auch real aneignen. Dazu gehört die Neubewertung des politischen Streiks bis in die Bildungsarbeit hinein, z.B. die argumentative Auseinandersetzung mit dem klassischen Argument gegen das politische Streikrecht, wie es Adenauer genauso bemühte wie heute die Arbeitgeber, der politische Streik setze demokratische gewählte Parlamente in ihrer Entscheidungsfreiheit unter Druck. Gegenzuhalten wäre, dass heutzutage Lobbyisten bis in die Formulierungen von Gesetzestexten hinein Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen und der Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb und die ersten Entscheidungen im Wachstumsförderungsgesetz geradezu Lehrstücke lobbyistischer Einflussnahme sind, die dringend eines Gegengewichts bedürfen. Gegenzuhalten wäre weiter mit dem Hinweis auf den großen Einfluss der »vierten Gewalt«, der Mainstream-Medien, auf die politische Willensbildung in bürgerlichen Gesellschaften.
  3. Politische Streiks sind keine separate Strategie oder Mobilisierungsschiene. Sie sind die Zuspitzung von und entstehen aus breiten Massenmobilisierungen. Auch das zeigt die Geschichte politischer Streiks, insbesondere der Zeitungsstreik von 1952. Breite Bündnisse entlang der Forderung, eine gut verankerte Protestbewegung, die erst ihre Möglichkeiten vom symbolischen Widerstand bis zur Großkundgebung ausgereizt haben muss, sind die Voraussetzung und der Unterbau eines erfolgreichen politischen Streiks, der die Belegschaften vor Sanktionen und die Gewerkschaften vor Schadenersatzforderungen schützen kann.
  4. Angesichts des hohen Rechtsrisikos, durch den Aufruf zu einem später für rechtswidrig erklärten Streik in Regress genommen zu werden, kann von den Gewerkschaften kein spektakulärer Showdown erwartet werden, indem in einer Großauseinandersetzung die Finanzen der Organisation oder gar diese selbst aufs Spiel gesetzt werden. So wie die Gewerkschaften das Streikrecht in tausenden Auseinandersetzungen step by step durchgesetzt haben, so wird auch nur das politische Streikrecht zurückzuholen sein. Erfolge sprechen für sich, Niederlagen müssen Lernprozesse in Gang setzen.

* Werner Sauerborn ist Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/10


Literatur:

Christoph Butterwegge: Vorwort zu Veith Wilhelmy: »Der Politische Streik – Materialien zu einem Tabu«, www.fhverlag.de externer Link, 2008

Rosa Luxemburg: »Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften«, www.mlwerke.de/lu/luc.htm externer Link

Detlef Hensche: »Politischer Streik illegal? – Detlev Hensche über die vermeintliche Rechtswidrigkeit politischer Streiks«, in: SoZ, März 2004, S. 5

Detlef Hensche: »Soziale Kämpfe sind stets auch Kämpfe um Verfassungspositionen«, in: Hans-Jürgen Urban / Michael Buckmiller / Frank Deppe (Hrsg.): »Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth«, VSA 2006

Joachim Perels: »Zur Aktualität der Sozialstaatsinterpretation von Wolfgang Abendroth«, in: Urban / Buckmiller / Deppe 2006

Lucie Redler: »Der politische Streik in Deutschland nach 1945«, Diplomarbeit HWP Hamburg, 2004, www.trend.infopartisan.net/trd0307/t100307.html externer Link

Werner Sauerborn: »Perspektive politischer Streik, vom Breitbandprotest zur Verhinderung der Rente mit 67«, in: express, 12/2006, www.labournet.de/express/2006/12/index.html

Eberhard Schmid: »Ordnungsfaktor oder Gegenmacht – die politische Rolle der Gewerkschaften«, suhrkamp, 1978


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