Artikel aus der Broschüre Meine Zeit ist mein Leben, Neue betriebspolitische Erfahrungen zur Arbeitszeit, Denkanstösse, IG Metaller in der IBM, Februar 1999. Wir bedanken uns beim Autor für die Freigabe dieses Artikels.

Klaus Peters:
Woher weiß ich, was ich selber will?

Die Abschaffung der Stempeluhr bei IBM
und die Frage nach den Interessen der Arbeitnehmer

 

Gliederung:

1. Die Abschaffung der Zeiterfassung

2 Die indirekte Steuerung: Der Willen und das Unwillkürliche

3. Neue Voraussetzungen für die Auseinandersetzung über die Arbeitszeit

 

1. Die Abschaffung der Zeiterfassung

Am 16. Dezember 1998 meldete die Stuttgarter Zeitung, daß bei IBM die Stempeluhren abgeschafft werden. Die Geschäftsführung hat sich in den laufenden Tarifverhandlungen mit ihrer Forderung durchgesetzt, daß die Arbeitszeit der Beschäftigten nicht mehr erfaßt werden soll.

Das wirft eine Menge Fragen auf. Die wichtigste davon ist die erste, - und sie wird besonders leicht übersprungen: Wie kommt es denn eigentlich, daß die Arbeitgeber ein Interesse an der Abschaffung der Zeiterfassung entwickeln?

 

1.1 Die Funktion der Stempeluhr im Kommandosystem

Man muß sich hüten, das allzu schnell selbstverständlich zu finden. Einleuchtend wäre ja genau das Gegenteil! Schließlich bezahlt der Unternehmer den Beschäftigten Lohn für ein bestimmtes Quantum Arbeitszeit. Und daraus folgt ganz natürlich, daß er ein Interesse daran hat zu überprüfen, ob er auch bekommt, was er bezahlt hat.

Muß er denn fürchten, daß die Beschäftigten die Arbeitszeit nicht einhalten, wenn er sie nicht überwacht?

Ja, das muß er in der Tat! Es liegt aber nicht an irgendeiner prinzipiellen Unehrlichkeit der Arbeitnehmer, sondern es liegt am Prinzip der herkömmlichen Unternehmensorganisation, genauer gesagt: es liegt am System von Command-and-Control. Dieses System operiert mit der Unterordnung des Willens der Arbeitnehmer unter den Willen von Vorgesetzten, Chefs, Managern, Unternehmensvorständen. Eine Vielzahl von Menschen, von denen jeder tut, was er selber will, bilden aus der Sicht dieses Systems nur einen unorganisierten Haufen. Erst durch die Unterordnung des Einzelwillens unter den tonangebenden Willen eines anderen wird aus einem solchen Haufen eine Organisation.

Darum unterscheiden sich Arbeitszeit und Freizeit gerade durch ihr gegensätzliches Verhältnis zum Willen des Einzelnen: in der Freizeit kann jeder tun, was er selber will, - in der Arbeitszeit muß er tun, was jemand anders will. Dafür, daß man sich das gefallen läßt, wird man bezahlt, und weil man bezahlt werden will, läßt man sich das gefallen.

Weil aber die Arbeitszeit, die Zeit der Unterordnung unter einen fremden Willen ist, wird sie auch nicht aus eigenem Willen eingehalten. Das gehört im eigentlichen Sinne des Wortes zum System. Und also braucht der Unternehmer ein Kontroll- und Überwachungsmittel, das genauso zum System gehört: die Stempeluhr. Sie markiert die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Tun-was-jemand-anders-will und Tun-was-man-selber-will. Sie ist insofern ein unverzichtbares Organ des Kommandosystems und erfüllt für ein Unternehmen ungefähr dieselbe Funktion, die ein Zaun für eine Weide erfüllt oder eine Mauer für einen Knast.

 

1.2 Die Funktion der Stempeluhr für die Mitbestimmung

Nun ist das aber keineswegs schon die ganze Wahrheit über die Stempeluhr, denn die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften haben sich in die Sache eingemischt und der Stempeluhr eine Art zweites Gesicht verpaßt. Auf dem Fundament gewerkschaftlicher Gegenmacht und erkämpfter gesetzlicher Bestimmungen wurde das Überwachungsinstrument des Arbeitgebers gleichzeitig zu einem Überwachungsinstrument des Arbeitnehmers: wenn die vereinbarte Arbeitszeit abgelaufen ist, erlischt das Weisungsrecht des Arbeitgebers - und zwar ohne Rücksicht auf irgendwelche sachlichen Probleme, die sich am Arbeitsplatz noch stellen. Mit Hilfe der Stempeluhr kann der Arbeitnehmer kontrollieren, ob der Arbeitgeber die Zeit seiner Befehlsgewalt überzieht und sich unbezahlte Arbeit aneignet.

Wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeit über das vereinbarte Maß hinaus ausdehnen will, muß er dafür nicht nur mehr zahlen als sonst, sondern er muß auch bei den Arbeitnehmern, also bei seinen Befehlsempfängern, anfragen, ob er das darf. Überstunden müssen vom Betriebsrat genehmigt werden. Die Kommandierten schützen sich also mit Hilfe der Kontrollinstrumente des Kommandosystems gegen Übergriffe ihrer Kommandeure.

Darum gibt es so etwas wie eine politische Ambivalenz der Stempeluhr.

Sie gibt dem Arbeitgeber auch ein erstes Motiv, die Stempeluhr abzuschaffen: er beseitigt damit ein bedeutendes Instrument in der Hand der Betriebsräte, ein Element der politischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer, ein Mittel zur Verhinderung unbezahlter Arbeitszeit und gesundheitsschädigender Überarbeitung.

Das ist aber erst das zweite, was man hier fest im Auge behalten muß. Das erste ist, daß der Arbeitgeber dem Betriebsrat dieses Mittel der Gegenwehr nicht aus der Hand schlagen kann, ohne damit zugleich auf sein eigenes, zentrales Überwachungsinstrument zu verzichten. Und das wirft eben die Frage auf, warum, um alles in der Welt, er sich diesen Verzicht leisten kann?

 

1.3 Die Stempeluhr als Behinderung neuer Managementformen

Damit diese entscheidende Frage möglichst von niemandem gestellt wird, haben die Arbeitgeber neuerdings das Wort "Vertrauen" auf ihre Fahnen geschrieben. Auch in den jüngsten Erklärungen der IBM zum Verzicht auf die Zeiterfassung taucht es auf. Kontrolle, heißt es da, solle jetzt durch Vertrauen ersetzt werden! Eine schöne Parole, die aber nur zudeckt, worauf es eigentlich ankommt: daß nämlich die Arbeitgeber auf die Zeiterfassung nur deswegen verzichten, weil sie vorher Bedingungen geschaffen haben, unter denen sich dieser Verzicht für sie rechnet. Vertrauen allerdings! Aber sie vertrauen nicht der Belegschaft, sondern sie vertrauen ihren neuen Managementtechniken.

Und zwar zu recht! Es handelt sich darum, daß das Organisationsprinzip von Commandand-Control, in dem die Zeiterfassung für die Arbeitgeber tatsächlich völlig unverzichtbar war, ersetzt wird durch ein völlig neues Organisationsprinzip, das sich auf völlig neue Weise zum Willen des einzelnen Beschäftigten verhält. Das neue System will den eigenen Willen des einzelnen Arbeitnehmers nicht mehr unterordnen unter den Willen eines anderen (Vorgesetzten, Chefs usw.), sondern es will ihn nutzen. Es will ihn nicht mehr unterdrücken, sondern es will ihn instrumentalisieren für die Steigerung der Produktivität des Unternehmens. Der Arbeitnehmer der Zukunft soll die Arbeitszeit nicht mehr auf Anordnung eines Chefs überschreiten, sondern - von sich aus!

Inzwischen ist bekannt, daß das keine Zukunftsmusik oder ein Wolkenkuckucksheim übergeschnappter Unternehmensberater ist, sondern daß genau dieses Phänomen in den Unternehmen mehr und mehr um sich greift und sich unter anderem darin ausdrückt, daß Arbeitnehmer die Stempeluhr betrügen - aber nicht etwa zu ihren eigenen Gunsten, sondern zu Gunsten der Arbeitgeber! Nach Ablauf der Arbeitszeit stempeln sie ihre Karte ab und gehen an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Stempeluhr verwandelt sich dabei aus einem für den Arbeitgeber unverzichtbaren Kontrollinstrument in ein Hindernis für die Instrumentalisierung des eigenen Willens der Beschäftigten und damit in eine Bremse für die Gewinnmaximie rung, und darum - und nur darum! - soll sie abgeschafft werden.

 

2. Die indirekte Steuerung: Der Willen und das Unwillkürliche

Mit Vertrauen-statt-Kontrolle hat das offenkundig nichts zu tun. Die neuen Managementtechniken erreichen diesen Effekt vielmehr dadurch, daß sie an die Stelle - der Unterordnung des einen Willens unter einen anderen Willen - die indirekte Steuerung des Willens durch unwillkürliche Prozesse setzen.

Statt "unwillkürlich" kann man auch "spontan" sagen. Die wissenschaftliche Fachterminologie spricht seit ein paar Jahren von "selbstorganisierten" Prozessen. Weniger mißverständlich ist es, wenn man - Prozesse, die man selbst in Gang setzt, unterscheidet von Prozessen, die sich von selbst abspielen.

Diese Unterscheidung ist für ein Verständnis der qualitativen Veränderungen beim Arbeitszeitproblem grundlegend. Deswegen soll sie hier kurz erläutert werden. Zweckmäßigerweise macht man sich die Sache an einem besonders naheliegenden Fall klar, nämlich an sich selbst, wie man gerade geht und steht, und überträgt sie anschließend auf die Unternehmensorganisation.

 

2.1 Das Unwillkürliche als Voraussetzung des Willens

Wer einen Aufsatz über die Abschaffung der Stempeluhr liest, tut das, weil er es selber will. Aber während man ihn liest (und also tut, was man selber will), spielt sich gleichzeitig alles mögliche von selbst ab, - also ohne daß man es erst wollen müßte. Das sind zum Beispiel alle diejenigen Prozesse, die zu unserer Lebendigkeit gehören. Wir müssen uns nicht jedesmal neu entschließen, Luft zu holen, und wir müssen auch nicht eigens wollen, daß unser Herz schlägt. Das geschieht unwillkürlich, spontan, von selbst.

Diese Prozesse funktionieren überhaupt nur deswegen so gut, weil wir sie nicht willentlich steuern müssen! Schon die Bewegungen eines einzigen Organs, etwa des Herzens, würden unser Vermögen zur willentlichen Lenkung unendlich überfordern. Man kann darum ohne Übertreibung sagen: wenn unser Leben von unserem Willen abhinge, wären wir auf der Stelle tot.

Damit ergibt sich die erste Beziehung, die zwischen dem Willen und dem Unwillkürlichen, zwischen 'ich-selbst' und 'von-selbst' besteht: das Unwillkürliche ist nämlich dem Willen vorausgesetzt. Daß ich selbst etwas entscheiden kann, wird erst dadurch möglich, daß vorher sehr vieles von selbst abläuft.

 

2.2 Die Steuerung des Willens durch unwillkürliche Prozesse

Die zweite Beziehung zwischen beiden entdeckt man sofort, wenn einem jemand die Nase zuhält. Man entdeckt nämlich, daß das, was vorher von selbst abgelaufen ist, also ohne daß ich es will, sehr schnell zu etwas werden kann, was ich ich selber will (nämlich Luft holen). Noch deutlicher ist die Sache beim Essen: wenn ich mich sattgegessen habe, werde ich von selbst wieder hungrig, aber wenn ich hungrig bin, will ich selbst wieder etwas essen und treffe alle möglichen Willensentscheidungen, um dieses Bedürfnis zu befriedigen.

Die zweite Beziehung zwischen dem Willen und dem Unwillkürlichen liegt also darin, daß die unwillkürlichen Prozesse den Willen steuern können. Was ich selbst will, ist dann eine Folge und ein Ausdruck dessen, was von selbst geschieht.

Diese Entdeckung ist beunruhigend, weil sie die Frage aufwirft, ob wir überhaupt einen freien Willen haben oder ob nicht vielmehr unser Eindruck, wir hätten ihn, nur eine schmeichelhafte Einbildung ist, während wir in Wahrheit nur ein Spielball dessen sind, was in uns und um uns von selbst abläuft.

 

2.3 Die indirekte Steuerung unwillkürlicher Prozesse

Daß dieser Verdacht nicht ganz so stark ist, wie er auf den ersten Blick erscheint, kann man daran ablesen, daß nicht nur das Unwillkürliche im Rücken des Willens auftaucht, sondern auch umgekehrt der Willen im Rücken des Unwillkürlichen. Daß ein Prozeß von selbst abläuft, heißt nämlich nicht, daß ich selbst ihn nicht beeinflussen könnte! Und wenn ich ihn beeinflussen kann, kann ich in gewissen Grenzen selbst bestimmen, was sich von selbst abspielt,

Zum Beispiel dadurch, daß ich Medikamente oder Rauschmittel zu mir nehme. In solchen Fällen haben wir es mit einer bewußten, willentlichen Steuerung unbewußt und unwillkürlich ablaufender Prozesse zu tun. Natürlich schlägt mein Herz nicht schon deswegen schneller, weil ich es will. Aber ich kann willentlich etwas tun, worauf mein Herz von selbst mit schnelleren Schlägen reagiert. Ich kann es nicht direkt steuern wie eine Maschine, aber ich kann es indirekt steuern, indem ich in die Voraussetzungen eingreife, von denen es abhängt und auf die es selbständig reagiert.

Das ist die dritte Beziehung, die zwischen dem Willen und dem Unwillkürlichen besteht: die indirekte Steuerung unwillkürlicher Prozesse durch den Willen.

 

2.4 Die indirekte Steuerung des eigenen Willens

Zu allem Überfluß kann sich diese dritte Beziehung mit der zweiten zu einer vierten verbinden: wenn einerseits mein Willen ein Resultat unwillkürlicher Prozesse ist und andererseits das, was unwillkürlich geschieht, von mir selbst willentlich gesteuert werden kann, dann kann ich offenbar auch meinen eigenen Willen durch eine indirekte Steuerung unwillkürlicher Prozesse selbst beeinflussen!

Das hört sich überaus kompliziert an, ist aber ganz einfach und allgemein bekannt. Ich will z.B. zwei Flaschen Bier trinken - aber danach keine dritte mehr. Durch diesen willentlichen Akt - das Biertrinken - greife ich aber in unwillkürliche Abläufe ein, die meinen eigenen Willen verändern. Ich werde nämlich ein wenig betrunken, und wenn ich die zweite Flasche getrunken habe, kann ich gar nicht mehr verstehen, warum ich ursprünglich einmal gar keine dritte mehr trinken wollte. Das heißt: die Methode der indirekten Steuerung eröffnet mir die Möglichkeit der absichtlichen, d.h. willentlichen Willensmanipulation, die sogar dann funktioniert, wenn ich selbst derjenige bin, dessen Willen manipuliert werden soll (Selbstmanipulation).

 

2.5 Die indirekte Steuerung im Unternehmen

Wenn noch nicht ohne weiteres offensichtlich ist, daß diese verschiedenen Beziehungen des Unwillkürlichen zum Willen etwas mit der Organisation von Unternehmen zu tun haben, ist das kein Wunder. Das Kommandosystem macht uns nämlich systematisch blind für diese Zusammenhänge. Es unterstellt als selbstverständlich, daß ein allgemeines Chaos ausbricht, wenn der Einzelne seinen Willen nicht unterordnet, und daß also effektives, organisiertes Handeln in einem Unternehmen nur mittels einer solchen Unterordnung zu haben ist.

Die neuen Managementmethoden wissen das besser. In sozialen Zusammenhängen gibt es genau wie in einem lebendigen Körper Prozesse, die ihren eigenen Gesetzen folgen, das heißt: Organisation, die von selbst entsteht, ohne daß ein Kommandant sie erzwingt. Und diese unwillkürlichen Prozesse kann man genau wie die natürlichen Lebensfunktionen indirekt steuern.

Die Biotechnik zeigt, wie das geht. Da werden keine Moleküle mechanisch von links nach rechts geschoben, sondern man läßt die Moleküle reagieren, wie sie 'wollen', arrangiert aber die Rahmenbedingungen, auf die sie selbständig reagieren, so, daß am Ende genau das herauskommt, was der Biotechniker will - z.B. dadurch daß man unter dem Reagenzglas einen Bunsenbrenner aufdreht, oder dadurch, daß man zusätzliche Chemikalien ins Glas schüttet.

Diese Methode wird jetzt auf die Unternehmen übertragen. In Zukunft sollen die Arbeitnehmer nicht mehr tun, was ihnen ihre Chefs sagen, sondern man gibt ihnen die Möglichkeit, selbständig zu reagieren, auf das, was die Unternehmensführung tut. Das Management bestimmt, worauf die Arbeitnehmer reagieren müssen, aber wie sie reagieren, was sie tun, bestimmen sie selbst, und wenn die indirekte Steuerung funktioniert, wird genau dadurch, also dadurch, daß die Beschäftigten tun, was sie selber wollen, das erreicht, was die Unternehmensführung will. Die Ziele der Unternehmensführung setzen sich durch in Gestalt des eigenen Willens des einzelnen Arbeitnehmers.

 

3. Neue Voraussetzungen für die Auseinandersetzung über die Arbeitszeit

Durch die indirekte Steuerung wird es möglich, selbständiges, unternehmerisches Handeln in abhängige Beschäftigungsverhältnisse einzuführen, - ohne daß an den Macht- und Eigentumsverhältnissen gerüttelt werden muß. Damit soll die Leistungsdynamik eines selbständigen Unternehmers bei unselbständigen Arbeitnehmern reproduziert und zum Hauptmotor der Produktivitätssteigerung eines Unternehmens gemacht werden.

Für die gesteuerten Arbeitnehmer hat die indirekte Steuerung Auswirkungen, die enge Parallelen aufweisen zu den Auswirkungen von Rauschgiften.

 

3.1 Die emotionale Identifizierung mit der eigenen Arbeit

Wie der Alkohol kann auch die indirekte Steuerung Hoch- und Glücksgefühle auslösen, die im Kern gesteigerte Macht- und Selbstwertgefühle sind. Sie gründen im Erlebnis der eigenen Selbständigkeit, der eigenen Entscheidungsbefugnis, der eigenen Verantwortlichkeit. In seiner 'Hoch'-Phase fühlt sich der indirekt Gesteuerte wie ein selbständiger Unternehmer. Seine wirkliche Unselbständigkeit ist für ihn nur noch ein blasser, irrelevanter Schatten im Hintergrund, von dem er nichts wissen will. Interessengegensätze von Arbeitnehmern und Arbeitgebern verdampfen in seiner emotionalen Identifizierung mit der eigenen Arbeit.

Diese Symptome sind nicht etwa für Spinner oder Opportunisten reserviert, sondern sie gehören wesentlich zum System der indirekten Steuerung. Allerdings häufen sie sich bei Berufsanfängern, die noch ein unverbrauchtes Kraft- und Gesundheitsreservoir für eine Arbeit ohne Ende mitbringen.

 

3.2 Maßlose Leistungsansprüche und Arbeit ohne Ende

Spätestens wenn es mit der Kraft und der Gesundheit nicht mehr so weit her ist, oft aber auch schon früher, wenn erste karrieristische Blütenträume platzen, ändert sich das Bild drastisch. Der indirekt Gesteuerte fängt an, an den neuen Managementformen zu leiden. Er merkt, daß sie ihn mit maßlosen Leistungsansprüchen konfrontieren, daß er in einen Kampf geworfen wird, den er nicht gewinnen kann, und vor allem: daß seine Arbeit kein Ende nimmt.

Und nun macht er eine ebenso interessante, wie niederschmetternde Entdeckung: daß er nämlich sein Verhalten nicht ohne weiteres ändern kann, obwohl er bei der Arbeit selbständig entscheiden kann, was er tut. Er tut nur, was er selber will (indem er nämlich selbständig reagiert auf die Situation, in die das Management ihn stellt). Aber wenn er sein Verhalten ändern und zum Beispiel weniger arbeiten will, gelingt es ihm trotzdem nicht.

Das Vorhaben scheitert aber nicht an Befehlen und Verboten, sondern an ihm selbst. Eine charakteristische Form, in der sich das Unternehmensinteresse durch ihn selbst gegen ihn selbst durchsetzt, ist zum Beispiel das schlechte Gewissen. Mitarbeiter von IBM berichten, daß sie von einem schlechten Gewissen gegenüber ihren Kollegen geplagt werden, wenn sie rechtzeitig mit der Arbeit aufhören. Die Arbeit, die sie liegen lassen, weil ihre Arbeitszeit vorbei ist, landet nicht als Problem beim Arbeitgeber, sondern bei den Kolleginnen und Kollegen desselben Teams. So daß die Methoden der indirekten Steuerung dazu führen, daß auch noch die Solidarität unter den Arbeitnehmern der Steigerung des Leistungsdrucks und der Verlängerung der Arbeitszeit zu Gute kommt.

 

3.3 Die Verdoppelung des eigenen Willens

Der Einzelne kann in dieser Situation an seinem eigenen Willen irre werden, weil er in einen Gegensatz zu sich selbst tritt. Es ist, als wenn die zwei Willen, die im Kommandosystem säuberlich auf zwei verschiedene Personen verteilt waren: hier der Arbeitnehmer, der eigentlich nach Hause gehen will, und dort der Chef, der ihn gegen seinen Willen festhalten will, - als wenn diese beiden Willen jetzt in ein- und derselben Person gleichzeitig vorhanden sind. Einerseits will er aufhören, länger zu arbeiten, als er muß. Andererseits will er, wenn es soweit ist, doch wieder zurück an den Schreibtisch.

Und daß das tatsächlich etwas ist, was er selber will, merkt er spätestens dann, wenn jemand anders dazwischentritt - etwa ein Betriebsrat -, und ihn an sein eigenes Interesse erinnert. Er fühlt sich dann nämlich von außen gestört bei der Realisierung einer eigenen Absicht und vor allem bevormundet in seiner Selbständigkeit.

Auch diese Verdoppelung des eigenen Willens ist vom Rauschgiftgenuß her bekannt. Ein Mensch, der mit dem Rauchen aufhören will, stellt sofort fest, wie schwierig das ist, ob wohl ihn niemand zum Rauchen zwingt, sondern er selbst es ist, der zur Zigarette greifen will. Er selbst will beides: mit dem Rauchen aufhören, weil er weiß, daß es ihm schadet, und zur Zigarette greifen, obwohl er weiß, daß es ihm schadet. Und wenn ein Helfer von außen interveniert und ihm die Zigaretten wegnimmt, verteidigt er seine Selbständigkeit gegen diese Bevormundung (übrigens zu Recht!).

Es gehört zu den Illusionen, die uns das Kommandosystem vererbt hat, daß ein Mensch, der nicht gezwungen wird, sich einem fremden Willen zu beugen, nichts Eiligeres zu tun hat, als sich selbst zu nützen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Nichts fällt uns schwerer, als zu tun, was für uns selber gut ist, und das, was uns schadet, tun wir besonders leicht und gerne und können besonders schwer davon lassen.

Bekannt ist das als das traurige Schicksal der sogenannten 'guten Vorsätze', von denen der Volksmund weiß, daß sie den Weg zur Hölle pflastern, weil sie immer wieder an Entscheidungen scheitern, mit denen wir uns freiwillig selber schaden. Das ist nichts neues, sondern ein fundamentales Problem des menschlichen Lebens. Neu ist, daß dieses Problem jetzt betriebspolitisch relevant wird.

 

3.4 Die indirekte Steuerung und das Problem der Freiheit

Die Elemente des Kommandosystems, - command and control - und also auch die Stempeluhr - erwecken den Eindruck, als wenn sie uns von unserer Freiheit trennen, und wenn sie verschwinden, wäre die Freiheit da. Das ist aber nur die naive Optik von Kindern, denen es auch so vorkommen kann, als wenn nur die Eltern mit ihren Vorschriften sie daran hindern zu tun, was sie wollen. Wenn sie erwachsen werden, fliegt diese Einbildung auf, und sie entdecken, daß die Selbständigkeit nicht das Ende ihrer Probleme ist, sondern daß es mit den Schwierigkeiten erst richtig losgeht, wenn man aus der Bevormundung entlassen wird. Die neuen Managementmethoden machen sich diese Unwahrheiten des Kommandosystems zu nutze. Sie führen den praktischen Beweis, daß es letztendlich nicht am Kommando und an der Kontrolle liegt, daß wir langer arbeiten, als für uns gut ist, - sondern daß das Kommando und die Kontrolle nur eine Herrschaftstechnik sind, die sich an der Oberfläche vor das wirkliche Problem geschoben haben.

Nachträglich ist zu erkennen, daß das Kommandosystem uns nicht eigentlich von unserer Freiheit trennt, sondern vom Problem unserer Freiheit! Anders gesagt: mit der Beseitigung des Kommandosystem werden wir von einer falschen, irreführenden Fragestellung befreit und endlich mit dem wirklichen Problem konfrontiert.

Und darum ist die Abschaffung des Kommandosystems, von Befehl und Gehorsam, von Unselbständigkeit, Bevormundung und Kontrollen bedingungslos zu begrüßen! Aber sie ist paradoxerweise nicht deswegen zu begrüßen, weil sie der Übergang zu einer 'Humanisierung der Arbeit' ist, sondern obwohl eher das Gegenteil der Fall ist.1

Daß die Methoden der indirekten Steuerung den Druck auf die Arbeitnehmer verschärfen, ist kein Argument für das Kommandosystem, und es macht das Kommandosystem auch nicht zum kleineren Übel. - Das ist das erste.

 

3.5 Politische Konsequenzen

Das zweite ist, daß man sich gegen die negativen Folgen der indirekten Steuerung nicht mit den Methoden wehren kann, die sich gegen das Kommandosystem bewährt haben. Im Kommandosystem kommt es darauf an, die Beschäftigten vor anderen zu schützen, den Inhabern oder Vertretern der Befehlsgewalt, und gegen andere die eigenen Interessen wahrzunehmen. Das ändert sich grundlegend, sobald sich die Ziele der Unternehmensführung über den eigenen Willen der Beschäftigten durchsetzen. Wenn man unter den neuen Bedingungen an den alten Formen der Interessenpolitik festhalten wollte, müßte man jetzt die Beschäftigten vor sich selbst schützen. Und das kann nicht gelingen!

Es ist nicht nur aussichtslos, sondern auch gefährlich, weil dabei die Verteidigung der Interessen der Arbeitnehmer die Form einer Bevormundung annimmt, einer Überwachung, und als eine Beeinträchtigung der Selbständigkeit von außen erscheint. Betriebsräte und Gewerkschaften laufen dann Gefahr, als Verteidiger einer Fremdbestimmung des Arbeitnehmers aufzutreten in einer Situation, in der die Arbeitgeber die Bevormundung und Überwachung gerade abbauen und selbständiges Handeln der Mitarbeiter fordern.

Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß Tarifverträge überflüssig werden oder das Betriebsverfassungsgesetz nichts mehr wert ist. Es bedeutet aber, daß Schutzvorschriften und Regelungen politisch neu fundiert werden müssen. Eine vertragliche Arbeitszeitverkürzung, die von den Arbeitnehmern selbst unterlaufen wird, hängt politisch in der Luft und trägt den Keim einer gefährlichen Entfremdung in sich, die der Entwicklung gewerkschaftlicher Gegenmacht an den Lebensnerv geht.

Ähnlich gefährlich wäre es, wenn man sich von einer Verteidigung der Zeiterfassung einen wirksamen Schutz vor der indirekten Steuerung verspräche. Natürlich ist es wichtig, daß die Arbeitnehmer sich darüber klar werden, wie lange sie tatsächlich arbeiten. Aber gerade darüber gibt die offizielle Zeiterfassung keine zuverlässige Auskunft mehr. Da die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit zunehmend verschwimmt, vollziehen sich viele Tätigkeiten in der "Freizeit", die eigentlich zur Arbeit gehören (z.B. Weiterbildung). Dies zeigt, daß die Stempeluhr nur einen Teil der faktischen Arbeitszeit erfaßt und als Schutz gegen mich selbst taugt sie nicht.

Insofern ist es gut, wenn sie verschwindet! Die Gefahren, die mit der Abschaffung der Zeiterfassung verbunden sind, müssen anders beantwortet werden.

Die politischen Formen, die auf diese Situation antworten, müssen noch erfunden werden. Bei IBM sind praktische Versuche in dieser Richtung unternommen worden2~ Wie sie weiterentwickelt werden können, und ob und inwieweit sie verallgemeinert werden können, ist eine offene Frage.

Die Konstitution von Gegenmacht in den Unternehmen wird in Zukunft jedenfalls durch das Nadelöhr der Auseinandersetzung des einzelnen Arbeitnehmers mit der Ambivalenz seines eigenen Willens gehen müssen. So hoch legen die Arbeitgeber mit der indirekten Steuerung die Latte, über die gesprungen werden muß. Es hat keinen Zweck, darunter durch zu laufen, weil es ohne eine solche Auseinandersetzung keine Bestimmung der eigenen Interessen geben kann, auf die Gegenmacht sich stützen muß und von denen sie immer wieder neu hervorgebracht werden muß.

Zwei allgemeine Bestimmungen zukünftiger Politikentwicklung lassen sich jetzt schon formulieren:

Erstens: Jeder muß selber herausfinden, was für ihn selber gut ist!

Und zweitens: Keiner kann es alleine!

Die Auseinandersetzung mit meinem eigenen Willen und also die Bestimmung meiner eigenen Interessen kann mir niemand abnehmen (und ich kann sie niemandem abnehmen). Andererseits kann sie nur in einem gemeinsamen Verständigungsprozeß gelingen, - nicht nur weil sie für einen einzelnen viel zu schwierig ist, sondern vor allem, weil das soziale Zusammenwirken der Beschäftigten bei der Arbeit das Medium der indirekten Steuerung ist (siehe das oben angeführte Beispiel über die arbeitgeberfreundliche Wirkung des schlechten Gewissens). Es muß gleichsam zurückerobert werden, wenn der Macht der indirekten Steuerung etwas entgegengesetzt werden können soll.

Darum ist nicht etwa Vereinzelung und Rückzug auf sich selbst das Gebot der Stunde, sondern, genau umgekehrt, die Initiierung gemeinsamer Verständigungsprozesse an der Basis. Gegenüber den neuen Managementformen dienen sie nicht bloß der Vorbereitung von politischen Aktionen. Sie sind selbst politische Aktionen, weil sie die Dynamik der von selbst ablaufenden Prozesse im Betrieb unterbrechen und damit überhaupt erst die praktische Voraussetzung schaffen für eine selbständige Bestimmung der eigenen Interessen.


1 Diesen Gedanken habe ich entwickelt in: K. Peters, Die neue Autonomie in der Arbeit. Informationen zur Angestelltenpolitik. Hgg. vom DGB-Bundesvorstand. Mai 1996.