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"Der Betrieb ging den Bach runter und meine Gesundheit auch"

Gesundheitsschäden ehemaliger Werftarbeiter des Bremer Vulkan

Von W. Hien, C. König*

Das Eingangszitat bezieht sich auf ein Interview, welches wir mit einem ehemaligen Vulkan-Arbeiter geführt haben. Es beschreibt nicht nur seine eigene Situation, sondern diejenige der meisten ehemaligen Vulkanesen. Vulkan: dieser Name stand jahrzehntelang für eine Traditionswerft, nach der Schließung der AG Weser die letzte Großwerft in Bremen. Vulkan schloss 1997 seine Tore. Damit ging nicht nur ein Stück Industriegeschichte zu Ende, sondern auch eine Kultur, die von harter körperlicher Arbeit und gesundheitlichem Raubbau gekennzeichnet war. Die 2000 Vulkan-Arbeiter wurden aus ihrem "alten kulturellen Modell" in eine Welt entlassen, in der sie sich nur schlecht zurechtfinden konnten. Sie sind mit einem Durchschnittsalter von 48 Jahren zu alt und oftmals auch zu krank, um noch Arbeit zu finden, aber noch zu jung, um in Frührente zu gehen. Berufsbiographische Umbrüche, wie die derzeit von ehemaligen Vulkanesen erlebten, stehen prototypisch für viele gegenwärtige und zukünftige strukturelle und zugleich persönliche Krisensituationen in den europäischen Industrieregionen. Vor diesem Hintergrund verdichtete sich auf Initiative ehemaliger Vulkan-Betriebsräte die Frage, was aus den Werftarbeitern werden würde, zu einem Forschungsprojekt, das von der Hans-Böckler-Stiftung finanziert und von einer Forschungsgruppe des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen durchgeführt wurde. Neben einer systematischen Analyse aller vorliegenden Arbeitsschutz-Akten fanden Befragungen aller zuletzt beschäftigten Produktionsarbeiter, Tiefeninterviews mit 40 ehemaligen Vulkanesen und eine Nacherhebung bei den Interviewten statt. Im Folgenden stellen wir in Kürze die vielschichtigen Ergebnisse unseres Forschungsprojektes vor und versuchen zugleich, deren sozialpolitische Relevanz zu diskutieren.

 

1. Die Belastungen während der Vulkan-Zeit waren extrem hoch

Unsere Ergebnisse zeigen eindeutig, dass die Vulkan-Belegschaft bis zur Werftschließung 1997 in einem erheblichen Ausmaß schwersten körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt war. Als Gesundheitsgefahren während der Vulkan-Zeit wurden insbesondere schweres Heben und Tragen, Zwangshaltungen, Asbeststäube, Schweiß- und Brennrauche, Farbdämpfe, Lärm und Stressbelastungen, insbesondere durch eine weitgehend chaotische Arbeitsorganisation, identifiziert. Fast alle Belastungen traten im Arbeitsalltag kombiniert auf. Die langjährige Asbestbelastung hat zu bisher knapp 600 BK-Anzeigen geführt. Viele Betroffene sind mittlerweile schwer erkrankt oder bereits verstorben. Wegen der langen Latenzzeiten sind in den nächsten Jahren viele weitere Berufserkrankungen zu erwarten. Auch Schweiß- und Brennrauche sind in diesem Zusammenhang zu nennen.

Die Studie zeigt, dass – obwohl die Vulkan-Betriebsräte zu den ersten in Deutschland zählten, die Arbeits- und Gesundheitsschutz zu einem betriebspolitischen Thema machten – bis zum letzen Tag der Vulkan-Werft wesentliche Fragen des Arbeitsschutzes ungelöst waren und bis zum letzten Tag eine ganze Reihe gesetzlicher Bestimmungen auf der Werft, insbesondere an Bord, nicht umgesetzt waren. Die größte Schwierigkeit bestand in den laufenden Änderungen der Arbeitsbedingungen. Die Änderungen und Nachbesserungen waren fast regelmäßig mit dem großflächigen Abbrennen bereits beschichteter Stähle verbunden. Die Belastung durch hochtoxische Pyrolyseprodukte war enorm und betraf praktisch alle Werftarbeiter, denn die Gewerke arbeiteten meist auf engem Raum zusammen. Die dauernden Änderungen waren Ausdruck einer chaotischen Arbeitsorganisation, für welche nicht die Arbeiter die Verantwortung trugen. Dieses Beispiel zeigt, wie ineffektiv eine nachsorgende, korrektive Arbeitsgestaltung und wie berechtigt die arbeitswissenschaftliche Forderung nach einer vorausschauenden präventiven Gestaltung ist.

 

2. Um die Gesundheit der Betroffenen ist es schlecht bestellt

War es schon während der Vulkan-Zeit um die Gesundheit der Werftarbeiter nicht zum Besten bestellt, so hat sich nach der Werftschließung der Gesundheitszustand noch einmal erheblich verschlechtert. Die Prä-valenz der Rückenerkrankungen nahm von 35 auf 63 Prozent und diejenige der Atemwegserkrankungen von 13 auf 27 Prozent zu. Die psychischen Erkrankungen sind von 6 auf 10 Prozent gestiegen. Insbesondere die Atemwegserkrankungen sind in der Regel schwer, oftmals verbunden mit Asbestose. Viele Betroffene haben ein stark vermindertes aktives Lungenvolumen, können nur noch mit Mühe Treppen steigen und sind teilweise schon auf fremde Hilfe angewiesen. Wenn ihnen die Berufsgenossenschaft die Anerkennung verweigert oder diese um Jahre hinauszögert – und das ist nicht selten der Fall – so rutschen sie ab in einen hochproblematischen finanziellen und sozialen Status. Als wichtigste aktuelle Negativfaktoren heute haben wir hohe psychosoziale Belastungen durch Zukunfts-Unsicherheit und die bedrückende Erfahrung einer ge-ringen Wertschätzung in der Gesellschaft ausgemacht. Der Anstieg der wahrgenommenen Erkrankungen nach dem Konkurs lässt sich zugleich auch als Wegfall einer wichtigen Gesundheitsressource interpretieren. Die Werft bot den Arbeitern auf Grund des sozialen Kontextes auch weitreichende Entlastungsmomente. Die heutigen physischen und psychischen Belastungen müssen ohne diese sozialen Gesundheitsressourcen bewältigt werden. In der biographisch-qualitativen Einzelfallanalyse zeigt sich, dass die heutigen Erkrankungen zwar eine Folge des jahrelangen körperlichen Verschleißes sind, diese aber in ihrer Schwere und Bedrohlichkeit durch die zusätzlichen psychosozialen Belastungen bestimmt sind, welche die Betroffenen durch die Betriebsschließung haben erleben müssen. Viele wurden von den Arbeitsämtern und von Unternehmen, welche Arbeitskräfte suchen, außerordentlich geringschätzig behandelt. Für ältere, gesundheitlich Angeschlagene gibt es, wenn sie nicht das Glück einer großzügigen Vorruhestandsregelung haben, in unserer Gesellschaft keinen Platz.

 

3. Trotz der Gesundheitsprobleme dominiert ein hohes Arbeitsethos

Für die ehemaligen Vulkanesen, insbesondere für die große Gruppe der über 50-jährigen, stellt ihr Gesundheitszustand in Bezug auf ihre Arbeitsmarktfähigkeit eine dramatische Einschränkung dar. Insgesamt ist ein Drittel der ehemaligen Vulkanesen und bei den 50-59-jährigen sogar mehr als jeder zweite ohne Arbeit. Wer Arbeit hat, ist meist nur bei Verleihfirmen mit befristeten Verträgen untergekommen. Doch trotz aller Probleme versinken die meisten Betroffenen nicht in Resignation, sondern versuchen ihre Situation aktiv zu gestalten. Im Interviewmaterial lassen sich vier Übergangstypen erkennen, die weniger eine Persönlichkeitscharakterisierung darstellen als Stimmungen oder Haltungen bezeichnen, die je nach Situation bei verschiedenen Personen in unterschiedlicher Gewichtung zu finden sind: Resignation, dies vor allem bei ehemaligen Vulkanesen türkischer Herkunft. Sodann: Inszenierung, Selbstkontrolle und schließlich auch Kreativität. Beachtenswert ist sowohl das stark ausgeprägte Arbeitsethos als auch die kreative Haltung, in deren Richtung sich nach unserer Schätzung etwa ein Drittel der Interviewten bewegen. Trotz Krankheit versucht die Mehrheit der ehemaligen Vulkanesen wieder in Arbeit zu kommen oder aber den anerkannten Status des "ordentlichen Frührentners" zu erreichen. Mit der Arbeitslosigkeit kommen Menschen, die im alten kulturellen Modell groß geworden sind, hingegen ganz schlecht zurecht. So reagierten auch viele ältere ehemaligen Vulkanesen auf eine Initiative des Arbeitsamtes, sich in den neuen Informations- und Kommunikationstechniken weiterbilden zu lassen, trotz ihrer bislang eher schlechten Erfahrungen, positiv. Nach den ersten beiden Jahren des psychischen Schocks hat sich bei vielen eine Haltung des "Trotzdem" entwickelt. Die Kreativität betrifft sowohl die berufliche als auch die außerberufliche Sphäre. So haben sich – um ein Beispiel zu nennen – manche ehemaligen Vulkanesen zu einer freiberuflichen oder ehrenamtlichen künstlerischen Tätigkeit entschlossen. Doch erfordert eine derartige aktive und kreative biographische Umorientierung ein unterstützendes Netzwerk, in dessen Kern eine kontinuierliche Beratung, insbesondere Älterer und chronisch Erkrankter, steht. Durch den Wegfall klassischer betrieblicher und gewerkschaftlicher Kontexte – das zeigen unsere Forschungsergebnisse recht eindeutig – ist ein Auf- und Ausbau solcher Beratungsleistungen sinnvoll und notwendig.

 

4. Fragen des klassischen Arbeitsschutzes sind immer noch aktuell

Die Analyse der werfttypischen Arbeitsbedingungen der 90-er Jahre ist nicht nur von historischem Interesse. Sie wirft zugleich Fragen der aktuellen Arbeitsschutzpolitik – als Teil einer allgemeinen Arbeits- und Sozialpolitik – auf. Zum einen sind die Arbeitsbedingungen auf anderen, heute noch bestehenden Werften vom Grundsatz her vergleichbar. Zum anderen aber sind die Ergebnisse unserer Studie auch deswegen besorgniserregend, weil der Bremer Vulkan zu den ersten Betrieben Westdeutschlands gehörte, in denen die Belegschaft – anlässlich des Asbest-Problems – eine aktive Auseinandersetzung um einen verbesserten Gesundheitsschutz führte. Vulkan galt hinsichtlich einer aktiven betrieblichen Gesundheitspolitik als Vorzeigebetrieb. Wir müssen heute erkennen, dass die Erfolge nur von beschränkter Natur waren. Eine tatsächliche Verbesserung scheiterte an der hartnäckigen Ignoranz des Managements. Dies wirft die Frage auf: Wie kann Arbeitsschutz funktionieren, wenn das Interesse des Unternehmers an der Gesunderhaltung seiner Mitarbeiter und möglicherweise auch deren Eigeninteresse gering ausgeprägt ist, staatliche und berufsgenossenschaftliche Kontrollen nicht oder kaum greifen und hohe Latenzzeiten einen offenkundigen Zusammenhang von Belastungen und Erkrankungen nicht deutlich werden lassen? Hier ist in wesentlich stärkerem Maße als bisher die Selbstverantwortung der ArbeitnehmerInnen gefragt, womit sogleich eine Reihe weiterer Fragen aufgeworfen wird: Wie können die staatliche Arbeitsschutzaufsicht verbessert und die Kontroll- und Beratungsleistungen, auch in der Interaktion mit den Betroffenen selbst, gestaltet werden? Wie kann die rechtliche Stellung Einzelner im Arbeitsschutz ausgebaut und gestärkt werden? Wie können bei den Betroffenen leibliche Sensibilität, Verantwortungsbewusstsein für sich selbst und arbeitsschutzrelevante Handlungskompetenz entwickelt werden? Wie kann dem Raubbau an Gesundheit auch im Bewusstsein der Arbeitenden Einhalt geboten werden? Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht muss gesagt werden: Der soziale Kontext, den die Industriearbeiter früher noch hatten, beinhaltete auch Nischen und bewahrte sie davor, umstandslos in ihrer Arbeit "aufzugehen". Im neuen kulturellen Modell der Arbeit sind diese Nischen wegrationalisiert und die ArbeitnehmerInnen weitgehend atomisiert. Schutzbarrieren sind gefallen, und die Gefahr wächst, dass nicht nur der Körper, sondern auch Leib und Seele von der Arbeit aufgesaugt und zerstört werden. Deshalb ist Arbeitsschutz kein Thema der Vergangenheit, sondern zugleich ein Thema der Zukunft.

 

5. Eine kontinuierliche Beratung der Betroffenen ist unverzichtbar

Zwischen den ökonomischen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen des regionalen Arbeitsmarktes und den sozialkulturellen, sozialpsychologischen und persönlichen Entwicklungen auf der Ebene der Betroffenen lassen sich komplexe Wechselwirkungen ausmachen. Einen entscheidenden Beitrag für eine positive Entwicklung könnte eine kontinuierliche Beratung der Betroffenen und der Aufbau von Unterstützungsnetzwerken leisten. Im Rahmen des Projektes wurde in den Räumen des ehemaligen Betriebsrates des Bremer Vulkan das Beratungsbüro Bremen Nord eingerichtet, das besetzt ist mit einem langjährig für Arbeitsschutz zuständigen Betriebsrat, der vor allem berufsbedingt Erkrankte hinsichtlich Arbeitsanamnesen, Berufskrankheiten-Verfahren und Rehabilitationsmaßnahmen berät. Schon heute können wir, nach zwei Jahren Beratungsarbeit, eine positive Bilanz ziehen. Hier hat sich – über die unmittelbare Berufskrankheiten-Problematik hinaus – eine Beratung entwickelt, die für die persönliche Stabilisierung, den berufsbiographisch kritischen Übergang und den weiteren biographischen Verlauf der Betroffenen einen hohen Stellenwert besitzt. Die geschilderten arbeitsmarktpolitischen Konstellationen verweisen auf die Notwendigkeit, derartige Beratungsangebote fortzuführen und weiterzuentwickeln. Es zeigen sich hier Konturen eines neuen Typus von Beratung, die sich den neuen arbeitsmarktpolitischen Forderungen stellt und sich insbesondere gesundheitlich beeinträchtigten Betroffenen bei ihrer beruflichen und persönlichen Neuorientierung unterstützend annimmt. Wenn es so ist, dass Ältere und chronisch Kranke keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, dann müssen sich die Gesellschaft, aber auch die Betroffenen selbst, umstellen. Dann müssen Wege gefunden werden, mit Hilfe derer Menschen in Würde alt werden können, mit Lebensmut und Selbstbewusstsein, ohne die Qual der Arbeit, über ein Bürgereinkommen abgesichert, ohne soziale und kulturelle Diskriminierung. "Es ist eigentlich schade", sagte uns ein Arbeiter, dass der Vulkan "nicht früher pleite gegangen (ist), dann wäre ich schon eher darauf gekommen, mich anzuhalten, nach etwas anderem zu suchen, hätte diese stupide Arbeit, muss ich im nachhinein sagen, aufgegeben und hätte mich doch mehr dem kreativen Bereich gewidmet."

 

* Wolfgang Hien ist Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, email: whien@zef.uni-bremen.de
Christina König ist Diplom-Soziologin am gleichen Institut.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/01


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