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Ausschnitt aus dem Buch: "Leben ohne zu arbeiten? Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens" von Manfred Füllsack

11. Die Arbeitslosigkeit

Wir haben bisher im Rahmen einer reichlich idealtypischen Unterscheidung im Prinzip nur zwei gesellschaftliche Akteure am Arbeitsmarkt kennen gelernt – nämlich die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Beide haben aufgrund ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen an die gesellschaftlich anfallende Arbeit im Lauf der Geschichte ihre je spezifischen Problemsichten entwickelt und kultiviert und mit den Lösungen, die sie für die sich daraus ergebenden Probleme gefunden haben, in weiterer Folge Bedingungen geschaffen, die schließlich einen dritten Arbeitsmarktakteur hervorgebracht haben – nämlich den Arbeitslosen.[1]

Auch dieser Arbeitslose hat natürlich, dies gleich vorweg, unter den gegebenen Bedingungen und in bezug auf seine Situation mittlerweile seine eigene, spezifische Problemsicht entwickelt. Er ist zum Beispiel aus seiner Perspektive in der Regel nicht in der Lage, seine Arbeitslosigkeit als Freiheit von der Arbeit, als Freizeit zu betrachten. Er ist, anders gesagt, nicht fähig, den Zustand des "Nicht-Arbeitens" zu genießen, sondern erlebt ihn als Ausgeschlossensein von einem als allgemein angenommenen Recht, dem Recht auf Arbeit. Arbeitslosigkeit meint demnach nicht die Möglichkeit, leben zu können, ohne zu arbeiten, sondern bedeutet für die Betroffenen vielmehr die Exklusion von der Möglichkeit, am gesellschaftlichen Produktionsprozess und damit an einem wichtigen Teil des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen.[2]

Unsere russischen Bauern aus dem vorigen Jahrhundert dagegen, scheinen allerdings im Gegensatz dazu nicht sonderlich viel dabei gefunden zu haben, einfach einen weiteren Feiertag zu "erfinden", wenn die Arbeit einmal schneller erledigt war als sonst und es nichts mehr zu tun gab. Und sie haben diesen Feiertag bereitwillig auch wieder abgeschafft, sobald wieder mehr Arbeit vorhanden war. Arbeitslosigkeit in unserem Sinn des Wortes scheinen sie nicht gekannt zu haben.

Es läge nahe, dies damit zu erklären, dass die russischen Bauern ihrer Arbeit und ihren Bedürfnissen weniger weit "entfremdet" waren als moderne Gesellschafter. Sie konnten, so könnte man meinen, noch unmittelbarer erkennen, was für ihr Leben, ihr Dasein notwendig war. In modernen Gesellschaften hingegen, in denen die Produktionsverhältnisse in der Regel nicht selbst, sondern von anderen gesellschaftlichen Akteuren und Faktoren bestimmt werden, lässt sich auf Fluktuationen des Arbeitskräftebedarfs nicht mehr ähnlich flexibel reagieren. Die "entfremdeten" Erwerbstätigen sind nun in ihre "abstrakte Arbeit" so tief verwoben, in den komplexen Gesetzesapparat zur Regelung ihrer Arbeitsbedingungen, in die Notwendigkeit, teure Maschinen rationell zu betreiben, oder auch in die Anforderungen, dem beständig wachsenden Konkurrenzdruck durch Senkung von Arbeitskraftkosten zu begegnen, dass sie keine Chance haben, auf mangelnde Arbeitskräftenachfrage einfach durch eine allgemeine Produktivitätssenkung, also durch vorübergehendes Nichtarbeiten zu reagieren. Es läge nahe, zu meinen, dass der moderne Arbeiter also genau deshalb arbeitslos werden kann, weil er nicht mehr einfach "arbeitslos" sein kann.

Allerdings widerspricht die Rede von der "Entfremdung", wie schon gesagt, unserer Annahme, dass sich Probleme und Bedürfnisse jeweils spezifischen Problemsichten verdanken, die von der im historischen Problemlösungsprozess selbst geschaffenen individuellen und sozialen Situation desjenigen, der sie hat, determiniert werden. Es macht deswegen wenig Sinn, im Hinblick auf die Probleme oder Bedürfnisse von Arbeitslosen von "mehr oder weniger entfremdeten" Bedingungen zu sprechen. Oder anders gesagt, es hilft keinem Arbeitslosen, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass sein Zustand auch anders betrachtet werden könnte. Denn der Arbeitslose selbst sieht, so wie alle anderen Gesellschafter, nur das, was er eben sieht, und das ist in seiner Situation in der Regel vor allem seine Ausgeschlossenheit von einer wichtigen gesellschaftlichen Einrichtung, nämlich von der entlohnten Arbeit.

Wir sind daher dazu angehalten, die offensichtliche Diskrepanz zwischen Arbeitslosigkeit und Freizeit, die nicht als solche erlebt werden kann, anders zu erklären. Und es liegt nahe, dabei besonders jene Verwerfungen des Sozialen im Auge zu behalten, auf die wir im vorigen Abschnitt aufmerksam gemacht haben. So wir nämlich genauer hinsehen, wird schnell deutlich, dass die Daseinsbedingungen, die Verkehrsformen, die Eigentumsverhältnisse oder allgemeiner, der gesetzliche und soziale Rahmen der modernen Arbeitsverhältnisse selbst nichts anderes sind, als Problemlösungen, die in langwierigen "Klassenkämpfen" unter vielen Opfern und beiderseitigen Zugeständnissen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern "ausgehandelt" und mit Hilfe entsprechender Strukturen – allen voran etwa Arbeitgeberorganisationen oder Gewerkschaften – stabilisiert worden sind. Und genau als solche relativ stabile Strukturen stehen sie heute in vielfacher Hinsicht quer zur aktuellen Situation am Arbeitsmarkt und erzeugen mit den daraus entstehenden Verwerfungen Probleme, nämlich unter anderem das der Arbeitslosigkeit.

Betrachten wir unter diesem Blickwinkel einige Theorien über die Gründe für das Phänomen der Arbeitslosigkeit. Wie schon gesagt, dürfte es auf idealen, freien Arbeitsmärkten eigentlich gar keine Arbeitslosigkeit geben, denn das freie Spiel von Angebot und Nachfrage sollte dort dafür sorgen, dass sich stets ein "Gleichgewichtslohn" einpendelt, zu dem die Arbeitnehmer bereit sind, genau soviel Arbeit anzubieten, wie die Arbeitgeber zu entlohnen bereit sind. Diese Entlohnungsbereitschaft der Arbeitgeber würde, um auch das kurz anzudeuten, von den Erwartungen abhängen, die sie auf das sogenannte "Wertgrenzprodukt" der Arbeit richten, das heißt auf den Nettowert dessen, was für sie die letzte noch entlohnte Arbeitseinheit stiftet. Kurz gesagt, würden also, wenn zuwenig Arbeitskraft am Markt nachgefragt wird, die Löhne, und das heißt die Preise der Arbeitskraft sinken, was die Nachfrage wieder erhöhen würde, bis sich schließlich wieder ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herstellt.

Dieses Gleichgewicht kommt freilich in der Realität niemals zu Stande. Löhne zeigen sich vielmehr in der Praxis nach unten wenig flexibel. Das heißt sie sinken nicht entsprechend der Nachfragelagen am Arbeitsmarkt. Schuld daran sind nun nach unserer Terminologie Verwerfungen am Arbeitsmarkt, die allerdings, je nach dem aus welcher Perspektive sie jeweils betrachtet wurden, historisch unterschiedlich gedeutet worden sind.

Eine der diesbezüglichen Überlegungen geht zum Beispiel davon aus, dass Arbeitslosigkeit Folge einer diffizilen Disziplinierungsmaßnahme seitens der Arbeitgeber ist. Diese hätten nämlich, nachdem sie feststellen mussten, dass die Arbeitnehmer von sich aus niemals bereits sein würden, mit dem Eifer und in dem Ausmaß zu arbeiten, in dem die Arbeitgeber es für notwendig hielten, dafür gesorgt, dass stets eine "Reservearmee" an Arbeitskräften bereitsteht, aus der jeweils willigere und eifrigere Arbeiter die unwilligen ersetzen könnten. Dazu hätten die Arbeitgeber von Haus aus bereits Löhne bezahlt, deren Höhe ein wenig über jenen lag, die dem tatsächlichen Angebot an Arbeitskräften am Arbeitsmarkt entsprochen haben. Damit wurde ein Überangebot an Arbeitskräften erzeugt, aus dem die Arbeitgeber diejenigen Arbeitskräfte auswählen konnten, die ihren Vorstellungen gemäß gearbeitet haben. Diejenigen, die diesen Vorstellungen nicht entsprechen wollten, sahen sich, weil sie nun angesichts der entstehenden Konkurrenz nicht mehr leicht und jederzeit einen neuen Job finden konnten, in der Regel ebenfalls bald zu einer "disziplinierteren" Arbeitsmoral gezwungen, so sie nicht als Arbeitslose von den Verdienstmöglichkeiten überhaupt ausgeschlossen bleiben wollten.

Gegen diese Überlegung spricht freilich, dass die Arbeitgeber um ein solches Überangebot am Arbeitsmarkt zu erzeugen, grundsätzlich gegen ihre eigene Logik handeln hätten müssen. Sie hätten nämlich eben die Löhne höher ansetzen müssen, als sie vom bestehenden Angebot am Arbeitsmarkt dazu gezwungen waren. Es könnte also bezweifelt werden, ob durchschnittliche Arbeitgeber ihre Lohnkosten tatsächlich in dieser Weise gleichsam "über Bande" kalkulieren.

Eine Variante dieser Theorie nimmt daher an, dass als Disziplinierungsmittel der zu Beginn der industriellen Produktionsweise nur unregelmäßig und sehr bedarfsorientiert arbeitenden Arbeiter nicht sofort höhere Löhne bezahlt wurden, sondern vielmehr eine Einrichtung geschaffen wurde, die die Aufgabe übernahm, das Arbeitskräfteangebot für die Arbeitgeber überschaubarer zu kanalisieren. Diese Einrichtung war das Arbeitsamt, das fortan dafür sorgte, dass Gelegenheitsarbeitern, die nur ein paar Tage in der Woche oder überhaupt unregelmäßig arbeiten wollten, ihr Arbeitsplatz zugunsten derjenigen entzogen wurde, die gemäß den Vorstellungen der Unternehmer zu arbeiten bereit waren. Wie aus den Erinnerungen von William Beveridge, dem späteren Entwickler der Sozialhilfe und damaligen Erfinder der Arbeitsämter, hervorgeht, wurde das damit geschaffenen Überangebot an Arbeitskräften, sprich die Arbeitslosigkeit, dabei ausdrücklich als Mittel zur Disziplinierung der Lohnarbeit akzeptiert.[3]

Wie wir heute wissen ist diese Rechnung weitgehend aufgegangen. Die fließenden Übergänge von Nichtarbeit zu Arbeit, die damals noch viele Arbeitsverhältnisse geprägt haben, sind mit den Arbeitsämtern verschwunden und das "Normalbeschäftigungsverhältnis" in einer gesetzlich in ihrem Ausmaß geregelten Arbeitswoche ist zum Standard der Lohnarbeit geworden.[4] Berufs- und Privatleben haben sich damit folgenschwer auseinander differenziert. Der Erfolgswille und die Konkurrenzlogik, die im Beruf für ein persönliches Fortkommen gesorgt haben, konnten in krassen Widerspruch zu den privaten Tugenden des guten Familienvaters, des guten Gatten oder des guten Nachbarn treten. Die Verwerfungen zwischen "Geschäftsethik" und Alltagsmoral konnten damit im 20. Jahrhundert jenen Funktionär hervorbringen, dem es kaum noch einen Unterschied bedeutete, ob er einer Republik oder einem totalitären Staat zu dienen hatte. Der feinsinnige Kulturinteressierte konnte im Brotberuf zur KZ-Wachmannschaft zählen, der Familienvater in der Pestizid- oder Waffenfabrik arbeiten.

 

11.1. Gewerkschaften

Eine etwas anders gelagerte Theorie geht davon aus, dass sich die gegenüber dem Gleichgewichtslohn zu hohen Löhne dem einsetzenden "Arbeitskampf" der Arbeitnehmer verdanken, die, nachdem sie nun einmal in die Abhängigkeit der Erwerbsarbeit gezwungen waren, damit begonnen haben, mit allen Mitteln – allem voran etwa mit dem Zusammenschluss zu Gewerkschaften – ihre Rechte von den als "ausbeuterisch" betrachteten Arbeitgebern zu fordern. In Koordination und Organisation ihrer Interessen und Kräfte ist es ihnen – unter Androhung und Durchführung von Streiks, Betriebsbesetzungen, Boykotts etc. – dabei gelungen, einerseits Löhne durchzusetzen, die höher als der Gleichgewichtslohn lagen und so dafür sorgten, dass der Arbeitsmarkt nie mehr vollständig geräumt wurde. Und zum anderen ist es ihnen damit auch gelungen, soziale Sicherheitsleistungen, etwa Arbeitslosengelder zu erkämpfen, die eine sogenannte "Friktionsarbeitslosigkeit" nach sich gezogen haben, welche daher rührt, dass Arbeitslose, die bei ihrer Jobsuche nicht sofort die optimale Stelle finden, je nachdem, wie erträglich ihr Dasein durch das Arbeitslosengeld abgepolstert wird, stets eine zeitlang zuwarten, bis sie einen neuen Job tatsächlich annehmen.[5]

Diese "Erfolge" des Arbeitskampfes haben seine Wirkung überdies noch zusätzlich gestärkt. Denn die damit entstehende "Reservearmee" an Arbeitskräften hat es für die Arbeitnehmer erst recht notwendig gemacht, sich gegen diese Konkurrenz zu organisieren und damit den Zusammenschluss zu Gewerkschaften weiter zu forcieren. Damit hat sich die Stellung der Arbeitnehmer erneut gefestigt und es ermöglicht, weitere Lohnforderungen durchzusetzen, die so die vollständige Räumung des Arbeitsmarktes immer unwahrscheinlicher gemacht haben.

Nach dieser Theorie wäre also – dies hier nur als kurzer Einwurf – die Organisation der Arbeitnehmer schuld am Entstehen von Arbeitslosigkeit und es legt sich damit die Frage nahe, warum sich die Gewerkschaften bis heute primär als Arbeitnehmer- und kaum jemals als Arbeitslosenvertretungen sehen. In Reaktion auf und zum Schutz vor Arbeitslosigkeit entstanden, scheinen sie heute noch primär denen zu dienen, die potentiell davon betroffen werden könnten, nicht aber denen, die real bereits davon betroffen sind. Manche Theoretiker meinen, dass für viele Gewerkschaften heute der Grundsatz gilt: "Gut organisierbare Beschäftigte brauchen keine Rücksicht auf schlecht organisierbare Arbeitslose zu nehmen".[6] Gewerkschaften scheinen damit aus unserer Sicht geradezu Paradebeispiele für Problemlösungen zu liefern, die aufgrund ihrer internen Dynamik zu Monolithen erstarrt sind und damit zu den aktuellen Problemlagen und deren Lösungen querliegen.

Grundsätzlich stehen Arbeitnehmern, wenn sie sich organisieren, zwei Möglichkeiten offen, auf Überangebote an Arbeitskräften, oder was dasselbe bedeutet, auf geringer werdende Nachfrage am Arbeitsmarkt zu reagieren: zum einen können sie versuchen, das Angebot an Arbeitskräften einzuschränken, zum anderen, die Nachfrage am Arbeitsmarkt zu erhöhen. Ersteres ist unter der Bezeichnung Syndikalismus, zweiteres unter der Bezeichnung Korporatismus in die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung eingegangen.

Der Syndikalismus geht im Prinzip auf das mittelalterliche Gildenwesen zurück und beruht auf der Idee, das Angebot an speziell qualifizierten Arbeitskräften mittels Zugangsbeschränkungen gering zu halten. In der Praxis wird dabei zum Beispiel das Wissen, das zur Ausübung bestimmter Berufe notwendig ist, nur ausgewählten Personen zugänglich gemacht. Die Gilden und Zünfte des Mittelalters haben in diesem Sinn streng über die Vermittlung und Verbreitung der für die von ihnen vertretenen Berufe notwendigen Qualifikationen geachtet und haben sich damit die Möglichkeit geschaffen, den jeweiligen Professionen am Arbeitsmarkt eine entsprechende Nachfrage zu sichern. In neuerer Zeit wird eine ähnliche Politik von den Berufsgruppengewerkschaften, den Craft Unions verfolgt. Auch sie versuchen, über entsprechende Zugangsbeschränkungen den von ihnen vertretenen Professionen "Nischennachfragen" am Arbeitsmarkt offen zuhalten.

Syndikalistische Interessensvertretungen kümmern sich entsprechend ihrer spezifischen Logik in der Hauptsache also um ihre je eigenen Mitglieder. Sie sind in der Hauptsache daran interessiert, ihren Mitgliedern den Zugang zu speziellen Wissensständen zu sichern. Grundsätzlich ist aber Wissen etwas, dass sich schon immer, zunehmend aber in der Moderne schwer geheim halten und damit einem bestimmten Gesellschaftsteil exklusiv sichern lässt. Dazu kommt noch, dass die aufkommende Industrieproduktion immer weniger Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften hatte. Die Fordistische Fließbandfabrik hatte kaum noch spezialisierte Facharbeiter nötig.

In der Praxis sorgen auch noch andere Exklusionsfaktoren dafür, dass das Angebot in den Nischen des Arbeitsmarktes gering bleibt. Nationalität, Alter, Ethnie, Religion, Geschlecht etc. werden auch heute noch vielfach als Ausschlussgründe für Beschäftigungsverhältnisse herangezogen. Auch die lange Tradition der Versuche der Männer zum Beispiel, die Frauen von gewissen Bereichen des Arbeitsmarktes fernzuhalten, ist unter dieser Perspektive nichts anderes als der Versuch, das Angebot am Arbeitsmarkt durch Exklusion gering zu halten. Gerade diese Exklusionen haben aber dazu geführt, dass sich die Exkludierten ihrerseits zu Interessensvertretungen zusammengefunden haben. Historisch für die Gewerkschaftsbewegung von besonderer Bedeutung war etwa der Zusammenschluss von unqualifizierten Industriearbeitern zu den vielfältigen Formen von Industriearbeitergewerkschaften, von Industrial Unions.

Die Politik dieser Industriearbeitergewerkschaften ist nun eher korporatistisch, denn syndikalistisch orientiert, das heißt, sie versucht der Gefahr der Arbeitslosigkeit in erster Linie durch Sicherung einer steten Nachfrage nach Arbeitskräften zu begegnen. Da unqualifizierte Arbeiter relativ leicht durch andere unqualifizierte Arbeiter ersetzt werden können, haben sich die Bemühungen nun darauf konzentriert, das Ersetzen der Arbeitskräfte selbst zu verhindern. Korporatistische Gewerkschaften sind daher im wesentlichen im Zuge von Fabrikbesetzungen und Streiks entstanden, bei denen es darum gegangen ist, die kapitalintensive Produktion etwa dadurch zu treffen, dass teure Maschinen längere Zeit zum Stillstand gebracht wurden. In Zeiten, in denen die Nachfrage nach Arbeitskräften in folge der Rüstungsproduktion etwa oder später in Europa in folge des Wiederaufbaus beständig angestiegen ist, konnten Streiks und andere Arbeitskampfmaßnahmen als wirksames Druckmittel etwa in Kollektivverhandlungen eingesetzt werden. Es ist den korporatistischen Gewerkschaften damit gelungen, eine Reihe recht komfortabler Rahmenbedingungen für die Arbeit – 40-Stundenwoche, Sozialversicherung, Urlaub, Pension etc. – zu erkämpfen und es ist ihnen, nicht zuletzt dadurch, vor allem gelungen, ihre eigene Position bedeutend zu stärken und sich in einer Reihe von Industriestaaten als feste Bestandteile des politischen Systems stabil zu etablieren.

In dieser Stabilität haben sich die dadurch mächtig gewordenen Gewerkschaftsapparate aber gemäß dem Hayekschen Diktum von den langen Informationswegen notgedrungen auch meist zu sehr behäbigen und damit entsprechend unflexiblen Einrichtungen ausgewachsen, zu deren Eigenschaften es gehört, auf neu auftretende Umstände, neue Problemlagen, nicht immer angemessen reagieren zu können. In dem Ausmaß, in dem das Wachstum der Wirtschaft mit zunehmender Automatisierung nicht mehr unbedingt von einem steten Steigen der Nachfrage nach Arbeitskräften begleitet war und die Arbeitslosen mehr und mehr zu einem realen, nicht mehr zu übersehendem Gesellschaftsteil wurden und nicht mehr nur eine potentielle Bedrohung für den Arbeitnehmer darstellten, in dem Ausmaß hat sich auch die korporatistische Gewerkschaftspolitik der Nachfrageschaffung in Frage zu stellen begonnen.

Zunächst hat die zunehmende Unfähigkeit der Gewerkschaften, auf aktuelle Entwicklungen adäquat zu reagieren, noch primär die Lage der Arbeitnehmer selbst betroffen. Weil zum Beispiel unter den Veränderungen, die die Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, die Unternehmen, und hier vor allem die arbeitsintensiven Großunternehmen der Old Economy, in denen die Gewerkschaftspräsenz traditionell hoch ist, in folge der Globalisierung und der immer rasanter voranschreitenden Technologieinnovationen unter zunehmenden Konkurrenzdruck geraten sind, mussten sich Kollektivverhandlungen, um die Gans, die bisher die goldenen Eier gelegt hatte, nämlich die Unternehmen, nicht zu schlachten, mehr und mehr auf Kompromisslösungen beschränken. Forderungen der Arbeitnehmer konnten bei weitem nicht mehr mit dem selben Druck geltend gemacht werden wie früher.[7]

Darüber hinaus hat sich mit den neuen Gegebenheiten nach und nach auch die traditionelle Klientel der Gewerkschaften verändert. Nur mehr ein relativ kleiner Teil der Erwerbstätigen arbeitet heute in Großbetrieben unter tarifvertraglich gesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Auf der anderen Seite ist dafür der Anteil derjenigen Arbeitnehmer, die nur mehr auf Subkontrakt-Basis nicht immer gut bezahlten und von konjunkturellen Schwankungen abhängigen Beschäftigungen nachgehen, ebenso wie der von Hilfs-, Gelegenheits- und Saisonalarbeitern stark gestiegen.[8] Das Klientel der Gewerkschaften, für das schon früher oft sehr unterschiedliche Arbeitsbedingungen und -löhne erkämpft worden sind, differenziert sich also zunehmend und macht sich mehr und mehr gegenseitig Konkurrenz[9] – nicht selten sogar an ein und demselben Produktionsort.[10]

Dem damit entstehenden Druck in Richtung Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Lohndifferenzierung können die Gewerkschaften aber nicht nachgeben, weil sie damit ihre über lange Jahre des Arbeitskampfes errungene Machtposition gefährden würden. Als Repräsentanz einer Vielfalt äußerst unterschiedlicher und sich vielfach widersprechender Arbeitnehmerinteressen würden sie kaum mehr in der Lage sein, eine ähnlich mächtige Rolle in der Politik zu spielen wie bisher.

Zugleich können sie aber aus dem selben Grund ihr Tätigkeitsfeld auch nicht mit hinreichender Effizienz auf jene Gesellschaftsteile ausweiten, die bereits real von Arbeitslosigkeit oder prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen sind. Die Gewerkschaften laufen daher Gefahr, wie dies André Gorz ausdrückt, "zu einem Versicherungsverein für eine relativ kleine, privilegierte Stammarbeitergruppe zu werden".[11] Weil sie mit ihrer Verteidigung von vollständig von realen Nachfragen abgekoppelten Berufen und deren Entlohnung enorme Finanzmittel aus der Wirtschaft abziehen, werden andere, nicht gewerkschaftlich vertretene Tätigkeiten noch unbezahlbarer als sie aufgrund der allgemeinen Differenzierung der gesellschaftlichen Problemlösungstätigkeit ohnehin schon sind. Als Resultat davon stehen die Arbeitslosen heute vor der Tatsache, dass sich das allgemeine Lohn- und damit auch das Konsumptionsniveau auf einer Höhe befindet, die notwendig zu nachhaltigen Teilnahmeexklusionen führt. Die "Reservearmee" an Arbeitskräften ist damit zu einem festen Bestandteil der modernen Gesellschaft geworden.

So die Löhne, weil diese Verwerfungen von der Gesellschaft allmählich zur Kenntnis genommen werden, nun doch mitunter flexibilisiert werden, so geschieht dies in der Regel auch nur für jenen Gesellschaftsteil, der, weil er noch nicht lange genug als solcher existiert und darüber hinaus auch nicht leicht zu organisieren ist, über keinerlei Vertretungsinstanzen verfügt. Während alteingesessene und entsprechend mächtige Gewerkschaften dafür sorgen, dass sich die Löhne für die von ihnen Vertretenen, also für die Arbeitnehmer nach wie vor um keinen Deut nach unten bewegen, tragen die Arbeitslosen die doppelte Last.[12] Ausgeschlossen vom "Normalbeschäftigungsverhältnis" müssen sie Billigstlöhne in McJobs hinnehmen, weil ihnen andernfalls die Sozialbeihilfen gestrichen werden. Wir werden auf diesen Umstand noch ausführlicher zu sprechen kommen.

Halten wir das Gesagte kurz fest: Gemäß den bisher besprochenen Theorien sind es also grundsätzlich Verwerfungen zwischen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt, die dafür verantwortlich sind, dass der Arbeitsmarkt in der Realität nie vollständig geräumt wird, dass also nie alle Arbeitskräfte, die ihre Fähigkeiten und Dienste anbieten, auch wirklich beschäftigt werden können. Verwerfungen treten in den unterschiedlichsten Formen auf – wir haben hier bisher die Disziplinierungsstrategien der Arbeitgeber – Arbeitsämter zum Beispiel – und die Arbeitskampferfolge der Arbeitnehmer – Sozialunterstützungen, höhere Löhne und, als Folge davon, Gewerkschaften – erwähnt. Verwerfungen sind damit dafür verantwortlich, dass das allgemeine Einkommensniveau der Gesellschaft nicht sinkt, obwohl es gemäß unseren Annahmen eigentlich beständig fallen müsste, weil sich der gesellschaftliche Problemlösungsprozess aufgrund seiner internen Dynamik beständig differenziert und damit die notgedrungen immer spezifischer werdenden Problemlösungsfähigkeiten, sprich die Professionen und Berufe der Gesellschafter, insgesamt auf immer geringere Nachfragen stoßen. Verwerfungen sorgen also dafür, dass die Löhne und Einkommen nicht gleichmäßig für alle sinken, sondern dass sie vielmehr für manche Gesellschafter steigen, während sie für andere gegen Null tendieren.

 

Aus dem Buch: "Leben ohne zu arbeiten? Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens" von Manfred Füllsack, erschienen 2002 im Berliner Avinus-Verlag (ISBN 3-930064-07-3) Zu beziehen im Buchhandel oder unter www.avinus.de

Kontaktadresse des Autors: manfred.fuellsack@univie.ac.at

Anmerkungen:

1) Das wir hier Gesellschafter, die keinen Lohn erhalten, als "arbeitslos" bezeichnen, ist natürlich aus unserer Perspektive von vornherein einigermaßen missverständlich, weil ja auch Arbeitslose durchaus Probleme lösen – und zwar ihre je eigenen (wir erinnern nur kurz daran, dass die Frage, was ein Problem ist, von je spezifischen Problemsichten abhängt und nicht pauschal definiert werden kann) – und damit nach unserer Definition eigentlich arbeiten. Schon Leben schlechthin ist ja Problemlösen, wie wir gesagt haben, ein Leben, ohne Probleme zu lösen, nicht möglich. Um korrekt zu sein, müssten wir also im folgenden ausschließlich von Einkommenslosen oder Erwerbslosen, beziehungsweise von Erwerbslosigkeit sprechen. Dies bringt allerdings die Pressanz des Phänomens, wie ich meine, nicht hinreichend zum Ausdruck. Wir werden uns deshalb im folgenden an den allgemeinen Sprachgebrauch halten und das Phänomen unter der Bezeichnung "Arbeitslosigkeit" näher ins Auge fassen.

2) Siehe klassisch dazu die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Maria Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1975), nach der die arbeitslose "Freizeit" ein "tragisches Geschenk" für die Marienthaler war, in der sie ihre sozialen Kontakte und ihren zusätzlichen Lebensraum, den die Beschäftigung ihnen gewährte, einbüßten.

3) Vgl. dazu die vielzitierte Schrift The Invention of Unemployment von Christian Topalov (o.J.)

4) Vgl. dazu u.a.: Vobruba, G. (2000): Alternativen zur Vollbeschäftigung, Frankfurt/M. (Suhrkamp): 24ff.

5) Auch diese Theorie lässt sich übrigens invertieren und von der anderen gesellschaftlichen Seite, von der der Arbeitnehmer, noch einmal durchspielen. Auch die Arbeitgeber warten nämlich abhängig von der Dringlichkeit, mit der sie eine vakante Stelle neu besetzen müssen, unterschiedlich lange auf den entsprechenden Antragsteller mit den für sie idealen Qualifikationen und befördern damit auch ihrerseits die Friktionsarbeitslosigkeit.

6) Siegenthaler, Hansjörg (2000): Arbeitsmarkt zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht im Zeitalter modernen Wirtschaftswachstums; in: Kocka, Jürgen / Offe, Claus (Hrsg.) (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt / New York (Campus), S. 88-109: 99.

7) Vgl. dazu u.a.: Cutler, Jonathan / Aronowitz, Stanley (1998): Quitting Time: An Introduction; in: Cutler, Jonathan / Aronowitz, Stanley (Hg.) (1998): Post-Work. The Wages of Cybernation, London (Routlegde), S. 1-30.

8) Vgl. dazu u.a. Gorz, A. (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/M. (Suhrkamp).

9) Vgl.: Supiot, Alain (2000): Wandel der Arbeit und Zukunft des Arbeitsrechts in Europa, in: Kocka, Jürgen / Offe, Claus, (Hrsg.) (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt / New York (Campus) S. 293-307.

10) Mit der voranschreitenden Globalisierung werden heute nicht selten standortgleiche Unternehmen zu sehr unterschiedlichen Strategien gegenüber ihren Arbeitnehmern gezwungen. Während sich etwa ein Unternehmen dem Druck globaler Billiglohnkonkurrenz stellen muss und deswegen den Austritt aus geltenden Tarifverträgen anstrebt, kann ein räumlich unmittelbar benachbartes Unternehmen gleichzeitig in einen kostenindifferenten Innovationswettbewerb verstrickt sein, der es im Gegensatz zur Situation beim Nachbarn sogar notwendig macht, den für das Unternehmen unersetzlichen, weil spezifisch qualifizierten Arbeitskräften so viel zu zahlen, dass sie im Bewusstsein, nirgendwo anders besser zu verdienen, keinen Gedanken an Abwanderung verschwenden. Vgl. dazu u.a.: Wiesenthal, Helmut (2000): Globalisierung. Soziologische und politikwissenschaftliche Koordination im neuartigen Terrain; in: Brunkhorst Hauke / Kettner Matthias (Hrsg.): Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien. Frankfurt/M., S. 21-52: 32.

11) Gorz, André (1994): Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Hamburg (Rotbuch Verlag): 317.

12) Für sich genommen hat die Arbeitslosigkeit dabei noch zusätzlich einen selbststabilisierenden, man könnte auch sagen: selbstverstärkenden Effekt. Weil die Gewerkschaften, wie gesagt, stets nur für die von ihnen Vertretenen, für die "Insider" Lohnverhandlungen führen und kein Interesse daran haben, Löhne zu akzeptieren, die niedrig genug wären, um auch die Arbeitskraft von "Outsidern" zu verkaufen, bringen sie durch die höheren Löhne die Unternehmer, die ihre Verluste zu kompensieren trachten, dazu, die Preise ihrer Produkte anzuheben. In zeitgenössischen Wirtschaften reagieren auf solche Preissteigerungen die Zentralbanken anti-inflationär und drosseln das Geldangebot. Dadurch verringert sich aber die wirtschaftliche Aktivität insgesamt und die Arbeitslosigkeit steigt.


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