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Updated: 18.12.2012 15:51
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nur tote fische schwimmen mit dem Strom

Schon vor 20 Jahren als Hausbesetzerin fragte ich mich: "Kann der Füller eine Waffe sein?" Eingespannt in der Alltagsroutine zwischen Kinderladen und ABM-Job in einem selbstverwalteten Stadtteilzentrum schrieb ich einige Jahre später mit 2 anderen alleinerziehenden Müttern kleine Texte zu Schlagworten, die wir vorher verabredet hatten, "um nicht ganz zu veröden". Nach weiteren 12 Jahren Erwerbstätigkeit in Anwaltskanzleien schreibe ich gegenwärtig die Protokolle des Erwerbslosenausschusses in ver. di Südbaden als Schriftführerin.

Auf dem Hintergrund diverser Erfahrung in diversen sozialen Bewegungen der letzten 30 Jahre möchte ich die Gelegenheit nutzen, einige Überlegungen zum Stand der Erwerbslosenbewegung anzustellen. Unter anderem deshalb, weil ich die eingangs erwähnte Frage schon längst mit ja beantwortet habe - für mich jedenfalls. Anstoß zur Reflexion gab ein Erlebnis in der hiesigen Subkultur, also im Strandcafé. Dort hatte sich ein buntes Grüppchen aus der linken + autonomen Szene zusammengetan, um zu beraten, warum es so wenig (lokalen) Widerstand gäbe? Nach einem mich wegen seiner perspektivischen Aussichtslosigkeit lähmenden Referat über die Strukturkrise der Verwertungsinteressen des Kapitals kam es zu einer offenen Gesprächsrunde. Ein älteres attac Mitglied sagte u.a., er möchte gern der 1-Euro-Jobber der Bewegung sein, zu uns in die Erwerbslosen Ini kommen, um uns zu filmen. Mit der Bemerkung, dass er bereits 2 Jahre ohne Krankenversicherung sei, er passe ja auf sich auf.

Mir blieb die Spucke weg und ich fasse es immer noch nicht: Welche Konditionierung und welches Verbiegen ist eigentlich noch nicht ausgelassen worden, um die Menschen davon abzuhalten, kühl und sachlich zu recherchieren, warum es ihnen so mies geht, warum sie sich bereits jahrelang von der einen zur nächsten gerade passend erscheinenden Individuallösung durchhecheln? "Wir machen das Beste draus! Es geht mir jetzt besser als vorher! Ich habe schon immer in prekären Arbeitsverhältnissen gelebt, ist nichts Neues für mich!" tönt es hier und da.

Warum lassen sich die Betroffenen die Scheusslichkeiten der Agenda 2010 ohne Aufschrei unterjubeln, warum merken viele nicht einmal, dass sie betroffen sind?

Oder wehren sie sich doch, indem sie Widersprüche einlegen und Klagen anstrengen, um ihre Existenzgrundlage zu behaupten? Indem sie Experten werden im alltäglichen Ausbau von Überlebensstrategien, wie z. B. der Gründung von Tauschringen und Umsonstläden oder anderen Ausformungen solidarischer Ökonomie? Oder indem sie ihr Wissen als MultiplikatorInnen weitergeben? Gratis, selbstverständlich?

Ja, es gibt Widerstand, aber zersprengt und vereinzelt und ungenügend organisiert. Das hat auch seinen Grund: Es liegt nicht nur an der scheinbaren gegenwärtigen Ohnmacht von Montagsdemos, von linken Parteien und Sozialbündnissen, deren Konzepte und Strategien von den Massenmedien systematisch tot geschwiegen werden.

Es liegt wesentlich an dem Menschenbild, welches durch die Agenda 2010 propagiert wird und die ohnehin weit fortgeschrittene Spaltung in der Bevölkerung weiter verstärkt. Was ganz im Sinne der politisch Verantwortlichen ist. Mit diesem Menschenbild wird der endgültige Abschied von einer durch kollektive Verantwortung geprägten Gesellschaft untermauert. Es muss auch dafür herhalten, die Diskussion um Sachzwänge, die Standortdebatte, das Argument der leeren Kassen, kurz gesagt die ganze Ideologie, dass wir uns in einer Phase des Mangels befänden, immer wieder anzukurbeln. Bis auch das letzte Arbeitnehmerlein es geschluckt hat: Dass wir alle sparen müssen! Damit die Wirtschaft wachsen kann! Was für ein Schmierentheater!

Als ich in den 80er Jahren in der Berliner Arbeitslosenzeitung einen Artikel veröffentlichte mit dem Titel "Warum erwerbslose Alleinerziehende nie arbeitslos sind" , hätte ich mir aufgrund der bereits erarbeiteten Kenntnisse über die Problematik des vorherrschenden Arbeitsbegriffs und die strukturelle Bedingtheit der anhaltend hohen Arbeitslosenquoten nie vorstellen können, dass einmal ein Kanzler hingehen würde, die anwachsende Zahl der Menschen ohne Erwerbsarbeit als "faule Drückeberger" zu verunglimpfen.

Den Menschen nur unter dem Blickwinkel der Verwertbarkeit seiner Arbeitskraft zu sehen, ist dem Kapitalismus immanent, sagt man. Mit der Agenda 2010 lancierte die Regierung folglich eine "Sozial"reform, die die Diffamierung aller Menschen ohne Erwerbsarbeit auf ihr Banner geschrieben hat. Faul sind sie, sie müssen zur Arbeit um jeden Preis gezwungen werden, denn nichts anderes ist mit ihrer "Aktivierung" gemeint. Eigenverantwortung ist ihr täglich Brot und wenn sie das nicht mehr bringen, sind sie überflüssig und werden ausgegrenzt. Sie werden gegängelt, mit Sanktionen "erzogen", als wären sie unmündige Querulanten. Ältere Erwerbslose über 60 brauchen keine künstlichen Hüftgelenke mehr, wozu auch, das rechnet sich nicht, einen Job bekommen sie eh nicht mehr. Heimbewohnern wird das Taschengeld zusammengestrichen, wieso sollen sie auch zum Arzt fahren oder Geschenke kaufen können?

Und jeden Tag und jede Stunde verinnerlichen wir winzig kleine Partikel dieser entwürdigenden Kampagne, selbst wenn wir wissen, dass wir mit inidividuellen Anstrengungen nichts dazu beitragen können, den Bedarf an Arbeitskräften in unserem Sinne zu verändern. Auch wenn wir wissen, dass das eben so gerade nicht funktioniert, dass "jeder seines eigenen Glückes Schmied ist".

Anstatt Arbeitsgelegenheiten á la 1-Euro-Jobs flächendeckend einzuführen, hätte die Regierung einen Blick über die Grenze nach Dänemark wagen sollen. Dort ist die Aktivierungspolitik für Langzeiterwerbslose durch Arbeitsverpflichtung längst gescheitert, weil eine Integration in den 1.Arbeitsmarkt hierdurch nicht stattfand. Auch hätte sie schon vor Jahren damit anfangen können, Konzepte zu entwickeln wie der freien Zirkulation des Kapitals im vereinigten Euroland als auch in einer globalisierten Welt ein Riegel vorgeschoben werden könnte. Hierzu hätte sie ein paar Experten von attac einladen können. Anstatt den Managern weltweiter Konzerne mit Geschenken hinterherzulaufen und fröhlich zu lachen, wenn diese ihnen schulterklopfend zuraunen: "Laissez-nous faire" (Lasst uns nur machen!)

Es ist doch alles in allem einfach bequemer, die Bürger glauben zu machen, sie seien selbst schuld, dass es ihnen so mies geht. Wer braucht da noch ökonomische Theorie?

Seit den 70er Jahren werden gemeinschaftliche Lebensformen hierzulande diskriminiert und an die Peripherie der Gesellschaft in die Bedeutungslosigkeit gedrängt, Bewohner von Wohngemeinschaften, Landkommunen oder besetzten Häusern werden drangsaliert und kontrolliert. Zusammenhalt unter Gleichgesinnten wurde so vielerorts geschwächt und durch Kriminalisierung kaputt gemacht.

Als Krönung dieser Anstrengungen ist die Agenda 2010 der unverhohlene Wink mit dem Zaunpfahl: Sei konform oder wir lassen dich verhungern. In der dreisten Behauptung, es gäbe keine Alternativen, werden menschlichere Visionen und Konzepte einer Arbeitswelt ohne Zwang vom Tisch gewischt und aus der öffentlichen Debatte herauskomplimentiert.

Im Radio hörte ich heute, dass "bundesweit im letzten Jahr Erwerbslose 25 % mehr Medikamente verschrieben bekamen als Erwerbstätige und auffällig der hohe Anteil der Anti-Depressiva sei"!

Schluss jetzt mit Selbstzerfleischung, Ruhigstellung, Selbsthass und Ängsten aller Art. Wenn es uns ans Eingemachte geht, dürfen wir nicht den Tunnel länger bauen, sobald ein Licht dahinter sichtbar wird. Wir müssen uns stärker zusammenschließen und zu unseren positiven Visionen stehen, ob sie nun Genossenschaft, Selbst-ändigkeit, Grundeinkommen oder Mindestlohn heissen. Der aktuelle Zusam-menschluss der beiden Linksparteien ist ein Schritt hin zur Artikulierung auch unserer Forderungen und sollte uns Mut machen:

Für Recht auf Einkommen zum Auskommen!
Jeder Mensch braucht sinnvolles Tätigsein!
Für Existenzberechtigung mit und ohne Erwerbsarbeit, denn wir können notfalls auch ohne Erwerbsarbeit produktive, wertvolle und liebenswerte Menschen sein.

Diese Überzeugung wird z.B. von den Aktivisten der Erwerbslosenbewegung immer wieder unter Beweis gestellt.

Deshalb bin ich dafür, dass der bundesweite Runde Tisch als Forum und Plattform erhalten bleibt und von allen Erwerbslosen noch stärker genutzt wird zur Vernetzung des Widerstands in Nord und Süd, in Ost und West. Er muss ja nicht immer in Hannover sein . . .

Ingrid Wagner, RT Freiburg und bundesweit, BezEA ver.di und LEA ver.di Ba-Wü, Netzwerk Grundeinkommen, V.E.T.O
15.06.05


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