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Updated: 18.12.2012 15:51
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Links-Partei gründen oder Widerstand organisieren?

Die neo-liberale Politik, die die SPD-Grüne Regierung seit zwei Jahren betreibt, hatte bisher schon Kürzungen, besonders bei den Schwächsten der Gesellschaft, bei Kranken, Rentnern und Sozialhilfeempfängern zum Ergebnis. Mit Hartz IV werden zu den 2,8 Millionen Sozialhilfeempfängern am 1.1.2005 2,25 Millionen bisherige Arbeitslosenhilfeempfänger dazugeschichtet. Die Politik der SPD hatte zur Folge, daß 200 000 Mitglieder ihre Partei verließen und die Zustimmung bei Umfragen gegen 20 Prozent sank, ein historischer Tiefststand. Das bewirkte, daß im besonderen enttäuschte sozialdemokratische Funktionsträger und Gewerkschafter sich sammelten und mit einer geplanten Parteineugründung "den von der SPD freigemachten Platz zu besetzen", so WASG-Sprecher Ernst.

Warum macht die SPD "ihren" Platz in der politischen Landschaft frei? Viele politisch nachdenkenden Menschen sind voll Verwunderung und Unverständnis über die Hingabebereitschaft der SPD-Führung, wie sie an "ihren Reformen" festhält und damit einen Absturz in der Wählergunst bis zum historischen Tiefststand hinnimmt. Aber es gibt eine historische Parallele, die Zeit nach 1918, als die SPD mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder und Wähler an die sich abspaltende USPD verlor, weil Ebert, Noske und Genossen in ihrer Zusammenarbeit mit kaiserlichen Generalen und Freicorps soweit gingen, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und tausende demonstrierende oder kämpfende Arbeiter in Kiel, Berlin, München Ruhrgebiet, Thüringen, Sachsen und vielen anderen Orten niederschießen und ermorden zu lassen in der Vorstellung, Kapitalismus und Demokratie vor Arbeitern und Kommunismus zu retten. Heute stellt sich die SPD erneut bedingungslos in den Dienst der Interessen des Kapitals. Das scheint uns im ersten Moment sehr erstaunlich, weil wir es gewöhnt waren, daß das heiligste Gesetz der Parteien die Erringung von Wahlprozenten sei zwecks Erreichung oder Erhaltung der Regierungsgewalt. Ein derart heiliges Gesetz wie zum Beispiel die Pflege der Aktienkurse für die AG´s.

Die Umschichtung von 2,25 Millionen Arbeitslosen auf Sozialhilfe drückte und drückt sich in den sogenannten Montagsdemos aus.

Zuerst möchte ich auf die geplante Linksparteigründung eingehen und untersuchen, ob sie nützlich ist bei der Organisierung des Widerstands gegen Sozialabbau und neo-liberale Politik oder schädlich und kontraproduktiv.

Erstmal erscheint es ganz normal und wie selbstverständlich, daß sich Protest als Partei organisiert, möglichst viele Stimmen bei Wahlen sammelt, in den Bundestag kommt, und es erscheint fast genauso normal und selbstverständlich, daß man bemüht sein wird, in die Regierung zu kommen. Es liegt so im Rahmen des Üblichen und Gewohnten, daß erst gar nicht die Frage gestellt wird: Was nützen die Aktivitäten den Wählern im Parlament? Gehen wir nicht in eine Falle, nämlich die des Parlamentarismus? Schaden wir nicht sogar dem Aufbau von Widerstand?

Um diese Fragen zu beantworten, kann ich es mir leicht machen und auf Grüne und PDS verweisen. Als die Grünen vor über 25 Jahren sich sammelten, war ihr Weg noch mit guten, auch sozialistischen Absichten

gepflastert und noch nicht abzusehen, daß sie dabei landen würden, die Agenda 2010 und Hartz IV zu verabschieden und Kriege zu führen in Jugoslawien (direkt), Afghanistan und Irak (indirekt). Bei der PDS, obwohl sie sich auch heute noch ausdrücklich als sozialistisch deklariert, ging alles viel schneller, sie vollzieht in Schwerin und Berlin die gleiche Sozial- und Kulturabbaupolitik wie ihr Koalitionspartner SPD.

Nun, das allein wäre Beweis genug. Dennoch ist es sinnvoll, sich Gedanken zu machen, warum das Parlament eine Falle und kein Ort für eine linke Widerstandsstrategie ist.

Mit Gelassenheit auf die Langzeitentwicklung schauen

Industrie- Kapitalismus und Demokratie haben sich in Deutschland seit über 150 Jahren entwickelt und verfestigt. Die kapitalistische Wirtschaftsform war seit Beginn der Industrialisierung nicht nur Ausbeutung und Elend sondern hielt auch immer das Versprechen von Verbesserungen, d.h. Reformen der sozialen Lage bereit. Das Musterbeispiel gab Bismarck, der nach 1871 aus Furcht vor Sozialdemokratie und Gewerkschaften die ersten Sozialgesetze schuf (Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, noch keine Erwerbslosenversicherung). Nebenbei: Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, daß ausgerechnet die SPD die Sozialversicherungen abbaut oder privatisiert!

Die normale und effektivste Herrschaftsform des Kapitals ist die parlamentarische Demokratie. Bis 1918 das gleiche und allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, brauchte es einen langen Weg. Kapitalistische und feudalistische Kräfte ließen sich die parlamentarische Demokratie abringen, aber Dreiklassenwahlrecht, Stimmen nach Besitz, Wahlrecht nur für Männer. In diesem Prozeß verfestigte sich der Glaube in den Köpfen, daß das Stimmrecht was Wichtiges sei, daß man wirklich auf das Gesellschaftsgeschehen durch den Wahlakt einwirken könne. Und es war ja seinerzeit auch so. Die Geschichte war offen. Selbst Friedrich Engels war am Ende seines Lebens der Meinung, die Arbeiterklasse könnte per Wahlakt die Macht ergreifen, weil sie nicht nur an Zahl sondern auch an revolutionärem Willen zunahm.

Inzwischen ist die parlamentarische Demokratie ein von Kapital und mächtigen Verbänden besetztes Feld, sie ist ihre Herrschaftsmethode. Wer als Sozialist oder Systemgegner ins Parlament gelangt, darf allenfalls den Clown geben. Die Gesetz-entwürfe werden von den Kapitals- und mächtigen Interessenverbänden gemacht in Zusammenarbeit mit den Fraktionsspitzen und den Ministerien. Wer es im Detail wissen will, der lese: "Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland. Herausgeber Leif und Speth". Oder es Bundestagspräsident Thierse ausdrückte : Wenn wir die Lobbyisten nicht hätten, müßten wir tausende fachkundige Angestellte mehr in den Ministerien und im Bundestag haben. Aber die abstimmenden Abgeordneten haben wohl auch eine Illusion von Wichtigkeit und Macht wie die Wähler beim Wahlakt, jedoch wohl eine Dauerillusion. Wir können keines der kapitalistischen Herrschafinstrumente für uns nutzen, weder das Parlement noch die Medien, einfach weil sie nicht den Opfern von Hartz IV sondern Kapitalisten gehören.

Und wie ist die Situation heute? Die alte Entwicklung des Kapitalismus, die eine Aufwärtsentwicklung war, (allerdings unterbrochen durch Kriege), mit Reformen und Verbesserungen auch für die Massen (allerdings nur in den westlichen Industriestaaten!) ist unwiderruflich zu Ende. Zu Ende gebracht worden durch den technischen Fortschritt, die dritte industrielle Revolution. Es wird nie wieder Vollbeschäftigung geben, schon heute haben wir in Deutschland real 6,9 Millionen Arbeitslose (statistisch 4,4 Millionen). Sie sind ökonomisch überflüssig und ihre Zahl wird steigen. Und Arbeit "wird billig wie Dreck", wie es Horst Afheldt, Wirtschaftswissenschaftler und Publizist, ausdrückte. Die herrschende Klasse reagiert darauf mit Kriegen nach außen, Sicherung der Grenzen (Deutschlands und der EU) und Sozialabbau bzw. Lohnkürzungen. Das, was 150 Jahre eine Grundlage und Zielorientierung war, gilt nicht mehr. Dem Glauben an "soziale" Marktwirtschaft wird der Boden entzogen, Ernüchterung setzt ein. Und da Kapitalismus und Demokratie nur zwei Seiten derselben Medaille sind (formale Demokratie als Herrschaftsform des Kapitals), hat das Ende der kapitalistischen Aufstiegsphase auch seine Auswirkungen auf die Demokratie, d.h den Glauben, mittels Stimmabgabe für eine Partei etwas für sich rauszuholen oder zumindest zusichern. Ernüchterung und Desillusionierung über Kapitalismus und (formale) Demokratie, wir sollten uns darüber freuen.

Es gibt Beispiele

Was können wir konkret tun in diesem Niedergangsprozeß des Kapitalismus? Nicht der Schnellschuß einer Linksparteigründung ist die Antwort sondern die Organisierung der Ernüchterten, Bedrohten und sozial Marginalisierten in Basisorganisationen. In Hamburg gab es in den 80ern "die Jobber". Sie berieten Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose und begleiteten sie auf die Ämter. Sie machten Umsonst-Aktionen, indem sie in Bäder und Theater gingen. Als ein Unternehmer-Verband ein neues Arbeitszeitgesetz mit einem Empfang feierte, drangen die Jobber dort ein und bedienten sich am Champagner und Kaviar.

In der ehemaligen DDR hat die PDS Anlauf- und Beratungsstellen für die Opfer der Eingliederung der DDR und diejenigen, die sich im Dschungel der Gesetze und Ämter nicht zurechtfinden.

Das sind nur zwei Beispiele. Wie die Praxis aussehen wird, wird sich im Zusammensein und durch kollektive Phantasie ergeben. Es ist jetzt eine gute Chance, daß sich aus den vielen Montagsdemos Widerstandsstrukturen entwickeln, lebendig, phantasievoll, nachhaltig.

Aber Wiederstand beseht nicht nur aus Sozialarbeit und Aktionen. Die andere Seite der politischen Arbeit ist Aufklärung und Information als Gegengewicht zum totalen Meinungsmonopol der herrschenden Klasse. Viviane Forrester hat vor ein paar Jahren ein sehr lesenswertes Buch geschrieben: "Der Terror der Ökonomie". Heute, angesichts der neoliberalen Politik, der Agenda 2010 und von Hartz IV könnten wir auch vom Terror der Propaganda sprechen: Es besteht eine Einheitsfront aus Kapitalsverbänden, Parteien, Medien, Kirchen, Wissenschaftlern, Leteraten, Gewerkschaftsführern, die alle dem Volk weismachen wollen, daß die Reformen alternativlos, die Kassen leer seien, daß ein Generationsproblem bestehe, daß möglichst alles privatisiert werden müsse, daß es dann irgendwann wieder mehr Arbeitsplätze gebe. Alle Medien stehen dieser dreisten Einheitsfront offen, sie posaunen uns ununterbrochen entgegen nach dem Motto: Meinung ist machbr, Herr Nachbar! Die Nazis mußten 1933 noch ihre Gegener zerschlagen, ehe sie mit der Erziehung des Volkes zu einer Volksgemeinschaft von Dummköpfen und Rassisten beginnen konnten.

Es dürfte gar nicht im STERN stehen...

Um optimal wirksam zu sein bei der Bewußtseinsherrichtung des noch widerspenstigen Volkes haben sich Kapital und Parteien entsprechende Propagandaeinrichtungen geschaffen, mit wohlklingenden Namen wie Initiative und Stiftung.

Ich bringe hierzu einige Zitate aus dem Stern vom 17.12.03. Der Stern-Redakteur Markus Grill beschreibt darin, warum Martin Kannegießer, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (ISNM) gründete:

"Das, was die Bevölkerung will, und das, was die Führungskräfte in der Wirtschaft für notwendig hielten, klaffte himmelweit auseinander" (so Kannegießer).

"Ihnen mit schlauen Parolen die Notwendigkeit von radikalen Reformen einhämmern, sie mit Plakaten, Anzeigen und TV-Spots überschütten, auf daß die Leute die Wünsche der Wirtschaft als ihre eigenen begreifen. Kannegießer, 62, und die Bosse von Gesamtmetall waren sich rasch einig, daß man `viel Geld in die Hand nehmen`müsse, um eine PR-Maschine für ein wirtschaftsfreundliches Klima zum Laufen zu bringen"...

"50 Millionen Euro machte Gesamtmetall locker und gründete damit im Jahre 2000 die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Das war der Auftakt. Seitdem folgen Reforminitiativen ohne Ende. Sie heißen Bürgerkonvent, Klarheit in die Politik, Marke Deutschland, Deutschland packts an oder, jüngstes Beispiel Konvent für Deutschland, eine Initiative von Roland Berger, 66, und Hans-Olaf Henkel, 63, mit Roman Herzog, 69, als Gallionsfigur"...

"Dabei ist die Agenda 2010 für sie erst der Anfang eines viel weiter gehenden Abbaus staatlicher Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Ihr Einfluß geht mittlerweile so weit, daß von Sabine Christiansen bis Maybrit Illner keine Talkshow mehr ohne sie auskommt"...

"Das Problem sind aber nicht die Politiker, die wissen nämlich, was man machen muß", so Dieter Rickert, Deutschlands bekanntester Headhunter.

Soweit die Zitate. Ja, die Politiker sind wirklich nicht das Problem, sie wissen wirklich, was sie machen müssen. Wie schön, daß wir Wirtschaftsführer wie Kannegießer und Rickert haben, die noch das offene Wort pflegen. Als Unterstützer dieser Propagandaeinrichtungen finden wir nicht nur Leute aus dem Großkapital sondern, wie sollte es auch anders sein, z.B. Oswald Metzger (Grüne), Peter Glotz (SPD), Hubertus Schmoldt (IG Chemie). Das Geld, das sie jährlich brauchen, es sind mehrere hundert Millionen Euro, wird immer fließen, dafür sorgen Deutsche Bank, Oetker, Düsseldorfer Großspender, Gesamtmetall oder lieber nicht genannte Großkapitalisten.

Was tun?

Wir haben weder die Parlamente, die Medien, noch Propagandakompanien mit hundert von Millionen Euro. Wir haben nur Millionen Opfer und Bedrohte und ihre

Desillusionierung, ihre steigende Wut und die Tatsache, daß das Kapital den Massen nie wieder eine Perspektive bieten kann. Die Zeit spielt also für uns, wir müssen sie allerdings in der richtigen Weise nutzen. Was ansteht, ist aufzuklären, sei es in den noch bildenden Basisorganisationen oder bestehenden Gruppen wie den Sozialforen, aufzuklären über die Lügen der Kapitalseinheitsfront:

  • Die Kassen sind nicht leer, sie sind geleert worden.
  • Diese Reformen sind keine Reformen sondern Kürzungen bei den Schwächsten der Gesellschaft.
  • Es gibt kein Generationsproblem, daß zuwenig junge Menschen da seien, die die Rentner ernährten. Es gibt jetzt schon 6,9 Millionen, die Arbeit aufnehmen könnten. Die Wirtschaft ist nur zu ca. 70 Prozent ausgelastet!

  • Die Privatisierung ist keine Rettung sondern ein Verhängnis, siehe die Privatisierten Bahnen in England, das Gesundheitswesen dort. Wo Wasser oder Strom privatisiert wurde, wurde es teurer, Stromnetze brachen zusammen, w e i l sie privatisiert worden waren.

Die Wahrheit ist, daß es nie wieder Vollbeschäftigung geben wird, die Zahl der ökonomisch Überflüssigen wird zunehmen, in Deutschland, in allen Industriestaaten.

Das Ziel ist ein Paradigmenwechsel

150 Jahre lang hießen Reformen soziale Verbesserungen. Die SPD ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg keine revolutionäre sondern eine Reform-Partei, heute müßte sie konterreformistische Partei getauft werden.

Das System ist nicht fähig, 6,9 Millionen Menschen Arbeit zu geben. Sie werden als überflüssig aus dem Arbeitsprozeß ausgestoßen und als ALG II-Empfänger mit Ein-Euro-Jobs wieder eingegliedert. Und für diese 30 Euro pro Woche (geplant ist laut Hartz IV eine 30 Stunden-Woche), sollen sie noch dem System dankbar sein. Sie sollen wohl in eine Stimmung kommen, wie nach 1933, die in den Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen wurden, von dem die heute ganz Alten immer noch schwärmen, weil doch endlich die Arbeitslosigkeit beseitigt wurde und die Leute von der Straße kamen. Ironie beiseite, die Logik von RAD und ALG II ist die gleiche: Zwangsverplichtung für einen Hungerlohn.

Die Menschen in diesem Lande werden erst dann den aufrechten Gang gehen, wenn sie vom System verlangen, daß Ihnen ein ausreichend bezahlter Arbeitsplatz zusteht. Und wenn das nicht der Fall ist, hat das System versagt. Vorerst 600 000 Menschen sollen, laut Superminister Clement, einen Ein-Euro-Job erhalten. Angebracht ist es, wenn diese 600 000 Menschen nicht gekrümmt murmeln, vielen Dank für die Arbeit sondern aufrecht anklagend fragen: Warum ist das System nicht fähig, uns einen normalen Arbeitsplatz zu verschaffen?

Das Kapital selbst schafft Desillusionierung unter den Massen, wodurch wir zum erstenmal wirksam ansetzen können. Allerdings scheint es zur Zeit noch so zu sein, daß die Massen (oder besser: ein größerer Teil der Bevölkerung) den Linken (den paar, die es noch gibt) voraus ist: In der Ernüchterung über Kapitalismus und Demokratie und sogar in der Aktion: In vielen Städten in der ehemaligen DDR wurden die Montagsdemos nicht von Organisationen angemeldet sondern von nichtorganisierten Personen, die aus angestauter Wut eine Demonstration anmeldeten, mit 25 Teilnehmern rechneten, 800 aber kamen, so in Haldensleben (Spiegel vom 15.8.04).

Montagsdemos 1989 und 2004

Die Montagsdemos vom Herbst 89 und die heutigen haben mehr gemeinsam, als die über den "Namensmißbrauch" empörten Berliner Regierenden und Bürgerrechtler wahrhaben wollen. Die Demos von 89 fanden statt vor dem Hintergrund der inneren Schwäche der DDR und des RGW, deswegen hatten sie Erfolg und die DDR löste sich auf. Auch diesmal finden die Montagsdemos vor dem Hintergrund einer Krise statt, der der kapitalistischen Demokratie. Allerdings steht der Zusammenbruch eines Systems nicht an, nichtmal die Rücknahme der neoliberalen Politik oder auch nur von Hartz IV. Da richtet sich die SPD lieber eher selbst zugrunde. Die Montagsdemonstrierer werden bestenfalls bis Frühjahr durchhalten, dann werden sie aber nicht verloren haben, sondern die Montagsdemos von 2004 werden als Beginn eines allgemeinen Widerstandes im krisenhaften Kapitalismus dastehen. Und wenn aus den Montagsdemos trotz oder wegen der Diffamierungen von Regierungsseite politische Zusammenhänge entstehen, sind sie sogar ein konkreter Erfolg. Die beliebteste Diffamierung, auch von Schröder, ist, zu unterscheiden zwischen berechtigten Demonstranten und Ausnutzern von links (PDS) und rechts - und das, obwohl die PDS in zwei Bundesländern Koalitionspartner ist. Ein weiteres Argument von Schröder ist, daß die Gelder für die zukünftigen ALG-II-Empfänger ja schließlich durch die Steuern von Verkäuferinnen und Krankenschwestern aufgebracht werden müßten . Damit will er auch noch ein schlechtes Gewissen schüren. Er weist allerdings nicht daraufhin, daß dieselbe Krankenschwester und dieselbe Verkäuferin auch die Subventionen und die Steuererlasse für die Konzerne und die Superreichen finanzieren. Letztere dürften nach Schröder wohl kein schlechtes Gewissen entwickeln sollen.

Die Chance für Nazis und Rechtspopulisten kommt nicht mit den Montagsdemos, sondern erst, wenn eine neue Linkspartei ins Parlament kommen sollte und dort ihre Wähler enttäuschen muß. Stattdessen sollten die Aktivisten der neuen Partei ihre Kraft und ihre Zeit darauf verwenden, die derzeitige Aufgeschlossenheit der Menschen dazu nutzen, die Desillusionierung zu vertiefen und darüber aufzuklären, daß Demokratie und Kapitalismus unvereinbar sind. Entweder das Kapital herrscht, in Form des Profitprinzips oder die Bevölkerung mittels ihrer Stimmen. Beides zusammen geht nicht, ist Selbsttäuschung. Demokratie im Kapitalismus muß sich zu einer formalen Angelegenheit verformen. Daß die Wähler glauben, sie seien an der Lenkung der Gesellschaft durch ihre Stimmabgabe beteiligt, wird zum Moment der psychologischen Beherrschung der Bevölkerung. Wirkliche Demokratie ist nur ohne Kapitalsherrschaft, also mit Sozialismus möglich. Und Sozialismus ist nur mittels Demokratie und nicht per Gewaltherrschaft (Stalinismus) oder Bürokratie (DDR) möglich.

Dieter Wegner, Hamburg, September 2004


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