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Updated: 18.12.2012 15:51
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Peter Grottian (Berliner Sozialforum/Aktionsbündnis Sozialproteste Berlin)
Michael Maurer (Aktionsbündnis Sozialproteste Jüterbog)
Tommy Sander (Aktionsbündnis Sozialproteste Aschersleben)
Pia Witte (Aktionsbündnis Sozialproteste Leipzig)

Sept. 06

Hungerstreik gegen Hartz IV-Abbau - existenzielle Zumutungen mit existenziellen Protestformen beantworten! Aufruf zu einer besonnenen Debatte und für ein extremes Mittel der gewaltfreien Demonstration.

Ein Hungerstreik ist ein existenzieller Notschrei der Verzweiflung, der nur dann legitim und angemessen erscheint, wenn fast alle Artikulations- und Protestformen ausgelotet sind und nichts mehr bleibt, um die menschenrechtlich unzumutbare Not in einer reichen Gesellschaft auszudrücken. Die Sturmzeichen asozialer Politik sind so, daß jetzt ein Hungerstreik von Betroffenen auf die politische Tagesordnung gesetzt werden sollte. Das setzt eine besonnene Debatte voraus, die das extreme Mittel der gewaltfreien Demonstration sorgfältig prüft.

Vor einer AlgII-Absenkungsdebatte

Ausnahmsweise herrscht in der Lageeinschätzung große Einigkeit. Die Große Koalition wird im Herbst ihr Projekt Hartz IV-Abbau durchzusetzen versuchen. Es besteht entweder in der massiven Absenkung der Alg II-Sätze unter 345 Euro oder der vor allem von den Kommunen geforderten Absenkung der Mietobergrenzen (plus der Mietneben- und Energiekosten). Bei 4,23 Euro für tägliches Essen und Trinken, knappe 12 Euro im Monat für Mobilität, fast nichts für die sozio-kulturelle Beteiligung, erscheinen die Übernahmekosten für Mieten von 250 Euro pro Person zu hoch und nicht mehr bezahlbar. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Kinderschutzbund haben in jüngster Zeit immer wieder auf die Verarmungsdynamik hingewiesen. Neben den schon hunderttausendfachen stillen Zwangsumzügen, neben den grundgesetzwidrigen Schnüffelmaßnahmen gegenüber Bedarfsgemeinschaften droht insgesamt mindestens eine jährlich ca. 10 %ige Absenkung der derzeitigen Alg II-Bezüge - in welchem Kostensenkungsgewand auch immer. Die Große Koalition und große Teile der Öffentlichkeit halten ein solches Projekt angesichts bisher nur schwacher Widerstände für durchsetzungsfähig. Mißbrauchsdebatten sind die regelmäßigen Vorboten tatsächlicher Einschnitte. Es spricht fast alles dafür, daß die SPD bei den Mietzuschüssen und den Nebenkosten einknicken wird. Die Betroffenen stehen vor einer skandalösen Amputierung ihrer sozialen Grund- und Menschenrechte ohne daß ihnen auf dem Arbeitsmarkt ein wirkliches, wirkliches Angebot gemacht wird.

Revitalisierung der Sozialproteste - wie?

Einigkeit herrscht indessen bei Linkspartei, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften mitnichten über eine plausible und übergreifende Gegenstrategie. Zwar sind die programmatischen Forderungen - Mindestlöhne, ein seinen Namen rechtfertigendes Grundeinkommen, solidarische Arbeitsumverteilung, kommunales Investitionsprogramm - soweit nicht auseinander, aber es fehlt den drei Akteuren ein Mindestkonsens darüber, mit welchen Protest- und Konfliktformen diese Programmatik kombiniert werden sollte.

Die Gewerkschaften planen für den 21. Oktober dezentrale Demonstrationen in fünf Städten (Berlin, Dortmund, München, Stuttgart, Frankfurt). Das Konzept ist noch in der Entwicklung. Der bisher bekannt gewordenen Programmatik fehlt die Zuspitzung, und der Vorbereitungsprozeß wirkt zu gewerkschaftszentriert (Gesundheitsreform, Rente mit 67, Mindestlöhne, Ausbildungsangebote, Verarmung von Arbeitslosen, Kündigungsschutz, Steuerpolitik). Der Demonstrationsaufruf "Das geht besser - aber nicht von allein!" hat etwas Hustensaftartiges für einen ziemlich kranken Patienten, nichts Kämpferisches. Erwerbslose und Arme müssen "Das geht besser" als eine Zumutung empfinden. Der explizite Kampf gegen Hartz IV kommt nur noch in der allgemeinen alternativen Formulierung zum Tragen: "Wir wollen, daß Arbeitslose nicht verarmen und zu Lohndumping gezwungen werden." Als ob sie nicht schon verarmt wären. So verdienstvoll diese grundsätzliche gewerkschaftliche Protestentscheidung ist, so wären die Gewerkschaften gut beraten, jetzt kirchliche Basisgruppen, einige Wohlfahrtsverbände, Attac, soziale Protestinitiativen, Sozialverbände, Wissenschaftler, Schriftsteller, Jugendorganisationen, Studenten u.a. an einen Tisch zu holen, um diese Demonstrationen gemeinsam vorzubereiten und zu tragen. Eine bunte Vielfalt würde die Bandweiten des sozialen Widerstands dynamisieren. Die Gewerkschaften könnten ihren gesellschaftlichen Einfluß erhöhen, wenn sie selbst ihren Bündnis-Handlungsspielraum erweitern. Das gilt auch für zukünftige Aktivitäten. Nur einen Kongreß anzukündigen, zeugt eher von Samtpfötigkeit als von Kampfbereitschaft. Streik oder Arbeitsniederlegungen als sozialer Widerstand dürfen nicht länger tabu sein. Deshalb bedarf es jetzt einer Annäherung der Trias von Linkspartei, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen - sonst wird jede einzelne dieser gesellschaftlichen Kräfte isoliert und schwach dastehen. Dieser Befund hat aber auch Bedeutung für den eigenen Beitrag der sozialen Bewegungen und das Projekt Hungerstreik.

Die letzte bundesweite Juni-Demonstration der sozialen Bewegungen und der Sozialproteste war mit 20.000 Teilnehmern nicht so, daß die Herrschenden - anders als bei den Montagsdemonstrationen - Anzeichen von Reaktionen zeigen mußten. Die Sozialprotest-Initiativen, nach wie vor mit einem funktionierenden Netzwerk in 90 Städten, haben zwar programmatisch einiges auf der Pfanne, weniger aber auf dem Feld der Protestformen. Und die Linkspartei hat noch primär das Interesse an sich selbst, obwohl sie auch zu den sozialen Bewegungen und insbesondere zu den Gewerkschaften anschlußfähig zu werden sucht. Sie wartet - daß sich etwas bewegt, um dann das Bewegende zu unterstützen.

Deshalb bedarf es jetzt höchst solidarischer und kommunikativer Kooperation, um die 21. Oktober-Demonstration vorzubereiten, aber gleichzeitig darüber hinauszugehen. Auf der Demonstration sollte sich vom Motto ("Es geht nur ganz anders") über die Forderungen (Grundeinkommen, Mindestlohn, Arbeitsumverteilung) bis zu den Zeichen unterschiedlicher Radikalitäten die bunte Protestvielfalt widerspiegeln. Solidarische, subversive Kreativität ist angesagt sowie eine dem Eigensinn der sozialen Bewegungen entsprechende Protestform.

Hier planen die sozialen Protestinitiativen zwei Projekte: die Belagerung von Arbeitsagenturen vor dem 21. Oktober und in weiterer Perspektive den Hungerstreik gegen den Hartz IV-Abbau. Die Zelt-Belagerung von Arbeitsagenturen in 6-8 Städten hat das Ziel, die Total-Verfügbarkeit von Hartz IV-Empfängern in eine "fürsorgliche Belagerung" als gewaltfreie Demonstration umzumünzen. Das erfolgreiche Pilotprojekt in Aschersleben erregte nicht nur erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit, sondern zwang Politik, Agentur und Polizei einen schwankenden Räumungs- und Tolerierungsprozeß auf, der dem Anliegen der Protestierenden nutzte. Es spricht vieles dafür, diese Protestform experimentierend zu verbreiten und weiterzuentwickeln.

Konzept Hungerstreik der Betroffenen als gewaltfreie Demonstration

Das Ziel des Hungerstreiks von zunächst 30 Personen in Berlin sollte sein, die Große Koalition dazu zu bringen, fest zuzusagen keine Hartz IV-Senkungen zu verfügen und zum 1.1.2007 die Alg II-Sätze auf 500 Euro anzuheben sowie die Repressionen zu reduzieren. Das Ziel mag zwar vielen zu niedrig gesteckt sein, dafür aber spricht die pragmatische Erreichbarkeit und die Solidarität in der Öffentlichkeit.

Der Hungerstreik als Protestmittel entspringt einer verzweifelten Situation. Es ist als extemes Mittel in vielen Demokratien anerkannt und oft erfolgreich, in Deutschland aber eher mit negativen Assoziationen und Mißerfolgen belegt (RAF-Hungerstreik, Bischofferoder Kali-Werke-Hungerstreik). Ein Hungerstreik mit sozialpolitischen Zielsetzungen ist in der Bundesrepublik bisher nicht versucht worden.

Eine Personengruppe befindet sich in einer Lage, die psychisch und/oder physisch an der Kippe steht, unerträglich zu sein.

Diese Personengruppe hat die ihr zu Gebote stehenden Mittel `normalen´ Mittel ausgeschöpft.

  • Sie hat die eigenen Nöte, den Stellen und Personen vortragen, von denen die eigene Gefährdung ausgeht.
  • Sie hat allein oder mit anderen protestiert und demonstriert.
  • Sie trifft auf anhaltend taube Ohren und lahme Hände, sprich die aufs äußerste belastende Situation wird nicht verändert.
  • Hinzukommt, dass die Hoffung auf baldige Hilfe von anderer Seite nicht besteht.

In dieser Situation kann Hungerstreik ein extremes Mittel der gewaltfreien Demonstration sein.

  • Im Hungerstreik setzen sich mehrere Personen über das Maß hinaus ein, das für alle Demonstrationen gilt. Alle Demonstrationen zeichnen sich dadurch aus, dass diejenigen, die sich daran beteiligen, mit ganzer Person dabei sind.
  • Wer an einem Hungerstreik in einer Gruppe teilnimmt, ist nicht nur mit der ganzen eigenen Person dabei. Er oder sie riskiert die eigene Person, indem sie die nötige Nahrungseinnahme verweigert.
  • Wer dieses Risiko eingeht, muss sich selbst und ohne jeden Zwang dazu entscheiden. Er oder sie muss je nach der verzweifelten Situation, die den Hungerstreik als demonstratives Mittel nahe legt, auch und gerade während des Hungerstreiks andauernd das eigene Risiko verantwortlich einzuschätzen suchen. Hierfür ist ärztliche und andere Beratung/Hilfe nötig. Zivilcourage ist gefragt, aber kein Heroismus. Abbrüche des Hungerstreiks müssen erlaubt sein.
  • Wie weit sich eine oder einer auf das Risiko, sprich die Gefährdung der eigenen Person durch die Verweigerung, Nahrung aufzunehmen, einlässt hängt radikaldemokratisch und das heißt radikalmenschenrechtlich gesprochen vor allem von 3 Faktoren ab: a) zu allererst von der Fähigkeit der eigenen Person, die jede und jeder letztlich selbst einschätzen muss; b) vom Ausmaß der verzweifelten Situation, die den Hungerstreik erst als ein extremes Mittel wählen ließ. Als allgemeine Regel gilt: das Gefährdungsmaß durch den Hungerstreik darf das Gefährdungsmaß durch die schlimme, nicht selbst behebbare Situation nicht übertreffen; c) von der Art und Weise, wie öffentlich und von den für die beklagte Situation zuständigen Instanzen/Personen auf den Hungerstreik reagiert wird. In aller Regel haben Hungerstreiks nur dann und solange einen Sinn, wie unmittelbare oder gewichtige mittelbare Wirkungen von ihnen erwartet werden können. Er sollte deshalb nach den bisherigen internationalen Erfahrungen auf 14-21 Tage angelegt werden.

Hungerstreik ist also in der Regel eine im weitesten Sinne politische und das heißt zugleich eine soziale Handlung. Diese Handlung ist wie alle Handlungen auf andere gerichtet. Sie arbeitet jedoch mit dem Mittel einer selbstbezogenen Handlung. Damit das Politikum eines Hungerstreiks erreicht werde, sind verschiedene Zusatzaktivitäten geboten:

  • Wenn irgend möglich ist der Hungerstreik als individuelle und kollektive Handlung einer kleineren oder größeren Gruppe zu üben. Auch und gerade, wenn er in einem Gruppenzusammenhang geschieht, ist es unabdingbar, dass auf keine Beteiligte und keinen Beteiligten Druck ausgeübt wird, wenn er oder sie nicht mehr kann. Es gilt ein radikales Konsens- und ein ebensolches Minderheitsgebot.
  • Diejenigen, die sich entschlossen haben, an einem Hungerstreik teilzunehmen, müssen zum einen Teil der verzweifelten Situation sein, die sie veranlasste, hungerzustreiken. Jede Stellvertreterpolitik ist in diesem Kontext ausgeschlossen. Zum anderen ist es erforderlich, um das Risiko so kalkulierbar wie möglich zu machen, dass der Hungerstreik in einem sozial und politisch förderlichen Kontext geschieht.
  • Entscheidend neben dem Signal des Hungerstreiks dürfte sein, ob es gelingt, auf diese Weise Solidaritäten zu gewinnen. Solidaritätsdemonstrationen, persönliche oder kollektive Arbeitsniederlegungen, Protestversammlungen wären auszuloten. Alleinerziehende mit Kindern wären ebenso zu aktivieren wie Migranten und Obdachlose. Nur eine sehr breite Unterstützung durch Betroffene, kirchliche Basisgruppen, Sozialprotest-Initiativen, Gewerkschaften, Attac, Menschenrechts- organisationen, Frauen- und Kinderverbände u.a. wird einen wirkungsvollen Rückhalt bilden.
  • Der Hungerstreik sollte an einem echten politischen Verantwortungsort stattfinden: Vor dem Ministerium von Müntefering, vor einem zentralen Parteigebäude von SPD oder CDU. Ein politischer Aushandlungsprozeß kann angeboten werden.
  • Der Hungerstreik muß ausgiebig und verständlich in seinem Warum und Wie begründet werden. Die mit dem Hungerstreik verbundenen Forderungen müssen differenziert, transparent und erfüllbar formuliert werden - über diesen Text hinaus.

Natürlich gibt es auch gewichtige Einwände gegen einen Hungerstreik: Es sei das letztmögliche defensive Mittel ohne Steigerungsmöglichkeit. Ja, es ist ein existenzielles Mittel und läßt sich rechtfertigen, weil die Menschen in ihrem Protest (fast) alles versucht haben, um Hartz IV abzuwenden. Hungerstreiks müssen sich nicht mit Gandhi- und Gefängnisrevolten vergleichen, sie ergeben - wie Bischofferode - ihren eigenen Sinn. Der zweite Einwand macht geltend, daß ein Erfolg sehr ungewiß erscheint. Die SPD, so läßt sich vermuten, gerät wie bei der Montagsdemonstration in erneute interne Glaubwürdigkeitsprobleme: Ausgang offen.

Es ist ziemlich ungewiß, wie die Öffentlichkeit mit diesem Hungerstreik umgehen wird. Hungerstreiks gehören bisher nicht zur politischen Kultur der Republik. Das Ziel muß sein, die gesellschaftliche Auseinandersetzung über Sozial- und Arbeitsmarktpolitik erneut zu entfachen. Ein Hungerstreik läßt keinen kalt und produziert vermutlich eine sehr grundsätzliche Debatte. Der Hungerstreik birgt die Gefahr einer mitleidserheischenden Moralkeule, aber er hat auch die Chance, die Existenzialität von Leben und Arbeiten wieder etwas mehr nach vorn zu bringen. Die Große Koalition des prinzipienfesten Opportunismus i.S. neoliberaler Politik hat den Betroffenen wirklich, wirklich nichts zu bieten. Das macht den Hungerstreik legitim und angemessen.

Kommentare, Ergänzungen, Einsprüche und Kritik bitte an: Peter Grottian pgrottia@zedat.fu-berlin.de; Tel.: 030-83854961 oder 0171/8313314


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