Anneliese Braun

Konkrete Utopie jenseits der Arbeit?

 

Im Geschwindigkeitsrausch einer globalisierten und tendenziell totalen Warengesellschaft verbreitet sich eine bedrückende Mußelosigkeit, während "Muße" immer weniger erreichbar erscheint, weder als Frucht von (Erwerbs)Arbeit, noch von Erwerbslosigkeit. Im Folgenden wird diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen "Muße" zur Grundlage für eine konkrete Utopie (im Blochschen Sinne) jenseits von Arbeit werden kann. Ausgangspunkt bildet eine Rezeption des Mußebegriffs bei Marx. Ergänzt und erweitert um die von Marx und Engels selbst angesprochene, aber nicht ausgearbeitete Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit könnten Vorstellungen über "Muße" Handlungsmotivationen freisetzen, welche irreversible Zerstörungen von Lebensgrundlagen zumindest stoppen. Dies nicht zuletzt, indem sie die vergesellschafteten, globalen, risikoreichen wissenschaftlich-technischen Erkundungen umorientieren.

 

"Freie Zeit für alle" und ihr Verhältnis zur "Muße"

"Muße" wird hier als ein Synonym für die Art und Weise gefaßt, in der "freie Zeit" ausgefüllt wird. Das erfordert, danach zu fragen, was sich hinter ihren vielfältigen und auf den ersten Blick manchmal verwirrenden oder anscheinend gegenläufigen Erscheinungsformen verbirgt. "Freie Zeit" und "Muße" behandelte Marx als Maßstäbe für ein "Reich der Freiheit": "Die freie Zeit - die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist ..." (Grundrisse, 599). Wenn Marx betonte: "Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums." (Marx, Grund­risse, 596), ist damit deren Verwandlung in "freie Zeit" gemeint. Diesen Zusammenhang zwischen "disposable time" und "freier Zeit" charakterisierte Marx an anderer Stelle wie folgt: "Es ist so ... instrumental in creating the means of social disposable time [entscheidend für die Schaffung gesellschaftlich frei verfügbarer Zeit], um die Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft auf ein fallendes Mini­mum zu reduzieren, und so die Zeit aller frei für ihre eigne Ent­wicklung zu machen." (Marx, Grundrisse, 595/596, ähnlich schon in: MEW, Bd. 2, 52).

"Freie Zeit" erschien bei Marx als direkte Folge weiterent­wickelter Produktivkräfte, die einen Überschuß hervorbringen, der dann eben "freie Zeit" für alle läßt. Sie blieb in das Konzept der "Produktionsweise" eingeordnet. Die Bezeichnungen "Muße" und "freie Zeit", welche Marx verwandte, sind nicht eindeutig und führten immer wieder zu Mißdeutungen. Die Zahl derjenigen "MarxkritikerInnen", welche "freie Zeit" einfach mit "Freizeit" gleichsetzen (neuerdings wiederum Mies, 1992, 284 und Kurz, 95ff.) oder Muße mit Müs­siggang (Rieseberg) ist Legion.

Die Marxschen Begriffe erschließen sich erst aus seiner philosophischen Tradition. Marx’ Vorstellungen von "freier Zeit" und "Muße" waren durch die Antike, vor allem durch Aristoteles geprägt. Für Aristoteles stellte "Muße" mehr als eine bloße Arbeitspause dar. Er sah sie als erklärtes Ziel und damit als Sinn des Lebens und zwar sowohl als freie Stunden als auch als freie Kräfte. Welskopf hob hervor: "Muße haben heißt für den Hellenen Zeit (zu) haben, Herr über die Zeit (zu) sein, nicht ein so merkwürdiges Abstraktum wie ‚die Zeit‘ als Herr über sich an(zu)erkennen." (Welskopf, 6). Aristoteles dachte darüber nach, welchen Inhalt Menschen, d.h. aus seiner Sicht männliche Angehörige der athe­nischen Sklavenhalterklasse, der "Muße" geben müssen, damit sie wirklich "telos", Lebenszweck werden könne und "rechter Gebrauch" von ihr gemacht werde. In der "Muße" strebte der Bürger nach dem "höchsten Gut" (der "eudaimonia"), d.h. nach dem guten Leben und guten Handeln, das vollkommen nur in der poiesis erreichbar sei. Dabei war er nicht nur von der notwendigen Arbeit für die Produk­tion von Mitteln zum Leben befreit (der "anankaia"), sondern Demokrit, Epikur u.a. wollten auch die für die Ehe und das Kinderzeugen benötigte Zeit von der "eudaimonia" abziehen. Es war also noch ein Gespür für die ehemals ganzheitlich und relativ egalitär organisierten notwendigen Tätigkeiten zur Reproduktion des Lebens verblieben.

Bei Aristoteles stellte sich "Muße" als ein Gebrauchswert dar. Dem entsprachen Vorstellungen von einer Begrenzung der materiellen Lebensbe­dingungen (Wissenschaft kann auch bei mäßigem Konsum betrieben werden) ebenso wie vom Streben nach "Vollkommenheit". "Muße" und "Arbeit" unterschieden sich bei Aristoteles also nicht danach, ob sie Anstrengung oder Mühe erfordern. Das tun beide. Sie unterscheiden sich danach, ob sie unter (ökonomischem oder außerökono­mischem) Zwang ablaufen oder in Freiheit. Mußelos waren nach Ari­stoteles die Sklaven, Freie, die sich dem Geld- und Handelsverkehr widmeten und die körperlich arbeitenden Freien (banausi). Kunst war für Aristoteles banausische Tätigkeit, wenn sie gegen Bezahlung aus­geübt wurde. Ob und wie Frauen über "Muße" verfügten, beschrieb Aristoteles nicht.

Der Begriff der "Muße" wirkt attraktiv, weil in ihr Menschen ohne Zwang tätig sein und selbst bestimmen können, womit und wie sie sie ausfüllen. "Muße" ist also kein Tauschobjekt. Allerdings war schon bei Aristoteles der Begriff der "Muße" diffus. In ihn wurde alles hineingedeutet, was als erstrebenswert galt. "Muße" zu haben, war ein Privileg, bedeutete elitäre Abgehobenheit, war hierarchisch geprägt und setzte voraus, daß die Mehrheit der übrigen Men­schen für immer an notwendige Arbeit gekettet blieb.

Soweit Visionen einer gleichheitlichen und freiheitlichen Gesell­schaft sich auf Vorstellungen von "Muße" berufen, setzen sie grundsätzlich voraus, daß diese für alle verfügbar werde. Dazu müsse ein entsprechend hohes Surplusprodukt erzeugt und die einan­der ausschließenden und hierarchisch aufgebauten Pole von (notwendiger) "Arbeit" und "Muße" aufgehoben werden (Marx, Grund­risse, 596). Offen blieb, wie aus einem produktionszentrierten und patriarchalen Konzept heraus der leidende Men­sch sein Ziel erreichen und, wie "er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewegen" könnte (MEW, Bd.1, 379).

Mit "Muße" - wie auch mit "Spiel" - konnten postmarxsche Vi­sionen von einer menschenwürdigen Gesellschaft wenig anfangen. Auch Ernst Bloch ging in diesem Punkt nicht über Marx hinaus. Dennoch war "Muße" für Bloch eine zentrale Frage bei der Ausgestaltung seiner Utopie eines bes­seren Lebens. Diese ende "in den Fragen eines Le­bens jenseits der Arbeit, das ist im Wunschproblem der Muße" (Bloch, 1960, 25). "Muße" verband Bloch mit Freiheit, "Selbersein" und solidarischen Beziehungen (Bloch, 1955, 500, 512). Blochs Utopie gipfelte in der "Freiheit von der Erwerbsarbeit", die den Gegensatz zwischen Arbeit und "Muße" aufhebe; befreite Arbeit verwirkliche sich in der "Muße" (Bloch, 1955, 471, 512). Erfül­lende, selbstbestimmte freie Tätigkeit in der Mußezeit lasse laut Bloch die Unterschiede zwischen Arbeit und "Muße" verschwinden (Bloch, 1955, 507). Offen bleibt, ob dies für die Tätigkeit in der Mußezeit gelten soll oder auch für die notwendige Arbeit.

Blochs Auffassungen von der Freiheit in der "Muße" drehen sich al­lerdings mehr oder weniger im Kreise. Wahrscheinlich meinte er, daß dies ferne Zukunftsmusik sei. Es darf nicht vergessen werden, daß die von Bloch erlebte Wirklichkeit, gemessen an potentiellen Produktivitätssteigerungen infolge von Innovationen wie Mikroelektronik, Informations- und Kommunikationstechnologien faktisch noch einem "anderen Zeitalter" entsprach.

In staatssozialistischen Ländern herrschte offiziell die Auf­fassung vor, daß die Fragen der "Muße" erst in der "zweiten", d.h. der "höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" von Bedeutung sein werden. In der aktuellen "ersten Phase" jedoch war für "Muße" kein Platz. Dies kulminierte in der These, daß erst eine höhere ökonomische Effektivität als Voraussetzung erreicht werden müsse, damit auch mehr "soziale Effektivität" möglich werde. "Muße" wurde also nicht als Triebkraft emanzipatorischer Entwicklungen entdeckt oder genutzt.

Ob es sich beim Konzept der "Muße" um Illusionen handelt, denen nur noch ewig Gestrige nachjagen, kann heute (noch) nicht entschieden werden. Auf jeden Fall sind seine Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft, vorausgesetzt, es wird vom "Kopf auf die Füße" gestellt. Foucault, Gorz, Gramsci, Habermas, u.a.m. lieferten dazu Beiträge.

Sich damit zu beschäftigen, wird von den aktuellen Problemlagen selbst angeregt. Derzeit tritt an die Stelle selbstbestimmter Tätigkeit in der arbeitsfreien Zeit immer mehr Verdrossenheit und Desinteresse an gemeinschaftlichen Dingen. Nicht wenige Menschen drängen nach irrationalen Erlebnissen (wie Abenteuerreisen) oder flüchten in Mystik unterschiedlicher Herkunft, von der sie sich sinnstiftende Werte erhoffen. Potentiell zunehmende und für alle verfügbare "freie Zeit" wird somit in pseudo-notwendigen Produkten oder an Verschwendung und Müßiggang gebunden. Damit werden viele Men­schen aber auch sensibel für eine Neu- oder Umorientierung.

Wenn potentiell "freie Zeit für alle"1 weitgehend in das "Reich der Notwendigkeit" rückverwandelt wird und damit faktisch trotz überwiegender Sättigung mit notwendigen Mitteln zum Leben die soziale Ungleichheit bleibt und sogar zunimmt, entsteht die Frage, ob und inwieweit es überhaupt noch möglich wäre, die Spielräume für freiheitliche Handlungen zu erweitern. Ausgangspunkt für eine hypothetische Antwort soll die Umorientierung auf die Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit bilden. Es wird geprüft, welche Folgerungen sich daraus für die Interdependenzen zwischen Freiheit und Gleichheit ableiten lassen. Kann eine derart begründete Gleichheit deformierte und zerstörerische Strukturen aufbrechen und "Muße" gewissermaßen neu definieren? In einem ersten Schritt wäre zunächst zu diskutieren, um welche Gleichheit und um welche Freiheit es sich jeweils handelt.

 

"Muße" neu definieren?

"Muße für alle" gehört zweifellos zu den Voraussetzungen für kompetente zivilgesellschaftliche (also freiheitliche) Aktivitäten, welche in der Lage sind, der tendenziell totalen Vermarktung aller Lebenstätigkeiten einen Riegel vorzuschieben. Freiheitliche Handlungen können auf vielfältigen Widerstandspotentialen aufbauen, wie auf Bewegungen, die gegen patriarchale Unterdrückung gerichtet sind, auf Umweltbewegungen, auf Widerstände von KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, Sportlern usw. gegen Deformationen, die ihnen infolge zunehmender Vermarktung drohen. Inwieweit sich diese Widerstandspotentiale entfalten und verbreitern, hängt auch davon ab, wie sie sich vernetzen und zugleich ihre jeweiligen Unterschiede ausleben können, d.h. sich solidarische, pluralistische Beziehungen herausbilden. Hier kommt also das Verhältnis von Gleichheit und Differenz ins Spiel.

"Gleichheit" wird hierbei betont, weil es notwendig erscheint, sich über ihren Inhalt neu zu verständigen. Gewissermaßen "in der Luft" liegen Fragen wie: Ist angesichts zunehmender Individualisierung und Ausdifferenzierung Gleichheit noch zeitgemäß? Behindert die derzeit dominierende Vorstellung von Gleichheit in der Verteilung und möglichst im Wohlstandsniveau emanzipatorisches Handeln und erhält sie damit faktisch soziale Ungleichheit aufrecht? Ist schließlich die visionäre Gleichheit in der Stellung zu den Produktionsmitteln insofern korrekturbedürftig, als sie nur auf Veränderungen in einem isolierten Lebensbereich orientiert, derzeit umfangreiche Widerstandspotentiale ausgrenzt und möglicherweise nicht Anfangs-, sondern Endpunkt perspektivischer Veränderungen sein wird? Hierbei geht es nicht um eine philosophische Diskussion, sondern um einige praktische Probleme, wie sie sich u.a. aus feministischen Erfahrungen ergeben.

Die Suche nach gleichheitlichen Ansätzen spielt in der aktuellen Debatte um Problemlösungen eine große Rolle. Zu erinnern ist an die feministische Diskussion (z.B. zur Anerkennung der Gesamtarbeit bei C. Möller und G. Notz und zur gesellschaftlich notwendigen Arbeit im "gemeinwesenorientierten Wirtschaften"), an Forderungen von Arbeitslosengruppen und von Parteien nach einem "Recht auf Arbeit" sowie von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen nach bedarfsgerechter sozialer Grundsicherung aus ökologischer Verantwortung nach einem gleichen Recht auf Naturressourcen, aus entwicklungspolitischer (gleiche Menschenrechte für alle) und aus bürgerschaftlicher Sicht. Diese Gleichheitsforderungen könnten durchaus die tendenziell totale Vermarktung aufbrechen, wenn sie auf die Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit focussiert sind.

Gleichheit würde damit bedeuten, daß alle an den notwendigen Tätigkeiten zur Reproduktion des Lebens teilhaben und hierbei gleiche Gebrauchswerte hervorbringen. Diese Gleichheit würde eine Umorientierung, d.h. eine Umbewertung der Arbeit auf die Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit bedingen und eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, indem jede/r ihre/seine für die Reproduktion des Lebens notwendigen Gebrauchswerte selbst hervorbringt und auf dieser Grundlage alle von ihnen selbst beeinflußbare Möglichkeiten haben, entsprechend ihren Fähigkeiten sich freiheitlich zu betätigen. Gleichheit erhielte so einen emanzipatorischen Inhalt. Mit der gleichberechtigten Teilnahme aller an der notwendigen Reproduktionszeit würde sie das Problem der Erwerbslosigkeit lösen. An die Stelle des Wirtschaftswachstums träten Gebrauchswertorientierung und veränderte Wirtschaftsstrukturen.

Bei der notwendigen Reproduktionszeit2 ist nicht entscheidend, ob diese im Einzelfall bei der Reproduktion des Menschen als Gattung oder bei der Produktion von Mitteln zum Leben verausgabt wird, wenn die Proportionen stimmen. Daß alle arbeitsfähigen Personen notwendige Reproduktionszeit für noch nicht oder nicht mehr arbeitsfähige bzw. kranke Menschen mit übernehmen müssen, versteht sich von selbst. Das "Reich der Notwendigkeit" würde auf diese Weise aus der Sicht der Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit neu definiert. Es wäre anders organisiert und strukturiert: Im Verhältnis zur "freien Zeit für alle" würde es minimiert, aber bezogen auf den Reproduktionseffekt des Lebens maximiert. "Ökonomie der Zeit" hätte dann eine andere Bezugsbasis und ein anderes Ziel. Eine gleiche Teilnahme aller an der "notwendigen Reproduktionszeit" würde bedeuten, daß Erwerbsarbeitsverhältnisse aufgehoben werden, denn mit dem historischen Entstehen von "Arbeit" wurden diese notwendigen Tätigkeiten bestimmten klassenmäßig und patriarchal - und auf dieser Grundlage auch ethnisch - unterdrückten Personengruppen mit Repressionen aufgebürdet. Es geht also nicht darum, aus notwendigen Tätigkeiten auszusteigen, sondern gleichheitlich an ihnen teilzuhaben. Schmarotzertum würden sich die Menschen einer solchen Gesellschaft oder solcher Gemeinschaften nicht gefallen lassen, weil es ihnen dann an Zeit für "allgemeine Tätigkeiten"3 mangelte.

Gleichheit in der notwendigen Reproduktionszeit bezieht sich auf die gleichen gebrauchswertmäßigen Ergebnisse, die jede/r hervorzubringen hätte und nicht auf eine gleiche Zeitverausgabung. Jede/r, welche/r geschickter, kreativer usw. agierte, hätte mehr Zeit für freiheitliche Tätigkeiten. Eine mechanische Auffassung von Gleichheit würde demgegenüber jegliche Kreativität, Spezifiken, Fähigkeiten usw. zerstören und das würde das Ende jeder Entwicklung bedeuten. Feministische Auffassungen z.B., die hierarchische Geschlechterverhältnisse überwinden wollen, indem sie biologische Geschlechterunterschiede zugunsten von androgynen oder bisexuellen Geschlechtern phantastisch aufheben(wie Le Guin in: Holland-Cunz, 8; Roß, 248), bereichern das utopische Spektrum, lenken mit dieser anderen Art von Gleichmacherei aber faktisch auch vom Suchen nach emanzipatorischen Wegen ab.

Aus der Sicht einer anzustrebenden Gleichheit in der notwendigen Reproduktion des Lebens wären auch postmoderne Vorstellungen zur "Differenz" zu befragen. "Postmoderne" Theorien haben die herkömmlichen Auffassungen von Gleichheit in ihren Theorien von der "Differenz" dekonstruiert (Benhabib u.a.). Sie besagen damit m.E. jedoch keineswegs, daß es soziale Gleichheit nicht geben kann, sondern daß diese auf einer anderen Ebene zu suchen ist. Indem sie Begriffe, wie "die Frau" oder "die Klasse" im Rahmen des gegebenen Systems dekonstruieren, bereichern sie dennoch die Gleichheitsdiskussion. Denn kurz gesagt, die möglichst volle Entfaltung der Differenzen zwischen verschiedenen Fähigkeiten, Geschlechtern, Lebensweisen, Kulturen usw. bildet ja letztendlich eine wichtige Grundlage, um die notwendigen Tätigkeiten zur Reproduktion des Lebens möglichst rationell und sinnvoll zu erledigen, so daß viel Raum für freiheitliche Aktivitäten verbleiben kann. Hiermit sind Differenzen gemeint, die sich im Rahmen einer noch zu erkämpfenden gleichheitlichen gesellschaftlichen Position aller Menschen bewegen, d.h. weder Klassen-, noch soziale Geschlechterungleichheiten oder ethnische Unterdrückungsmechanismen.

Vorstellungen von Gleichheit, bezogen auf notwendige Reproduktionstätigkeiten, beruhen auf einem Paradigmenwechsel, den die aufgestauten Reproduktionserfordernisse des Lebens in seiner Ganzheit herausfordern. Dieser Paradigmenwechsel bedeutet, daß der klassische Marxsche Ansatz von der Produktionsweise auf die Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit ausgeweitet wird, von den Produktionsverhältnissen auf die Reproduktionsverhältnisse des Lebens4 (die sich aus den Produktionsverhältnissen und den unmittelbaren Lebensverhältnissen zusammensetzen), von den Produktivkräften auf die Lebenskräfte (die sich hinwiederum aus den unmittelbaren Lebenskräften und den Produktivkräften konstituieren; Braun, 1998, 33ff.).

Mit diesem Paradigmenwechsel verändern sich die Beziehungen zwischen dem "Reich der Notwendigkeit" und dem "Reich der Freiheit" sowie Inhalt und Quellen der "freien Zeit", wie sie von Marx und Engels ausgearbeitet wurden. "Freie Zeit" erscheint nicht mehr allein als "Überschuß" der Produktion, sondern es handelt sich dabei um eine ganzheitliche freiheitliche Basis, wie sie nach Abzug aller notwendigen Elemente der Reproduktion des Lebens verfügbar wird (Braun, 1997, 176ff.) Es geht deshalb auch nicht darum, primär "freie Zeit" hervorzubringen und zu reproduzieren, sondern das Leben in seiner Ganzheit. "Freie Zeit für alle" kann aus einer auf die Produktion von Mitteln zum Leben beschränkten Sicht nicht erklärt werden. Bei einem Herangehen, das auf die Produktionsweise zentriert ist, erscheint "freie Zeit für alle" lediglich als "Überschuß", nicht aber als Reproduktionserfordernis. Sie wird damit als nicht zeitgemäß, als eine Illusion oder als eine Verkündigung für eine ferne Zukunft denunziert. In diesem Sinne konnte z.B. Bloch die "freie Zeit" oder "Muße" nur als "terra incognita" formulieren (Bloch 1955, 512).

 

"Freie Zeit" für alle - eine konkrete Utopie?

Hypothese: "Freie Zeit für alle" könnte dazu motivieren, die sich immer wieder vollziehende Rückverwandlung von im "Reich der Notwendigkeit" eingesparten Ressourcen in Vermarktung und damit in erweiterte und vertiefte Notwendigkeit (für die Kapitalverwertung) zu stoppen. "Freie Zeit für alle" soll hierbei sowohl arbeitsfreie Zeitfonds als auch die Produkte und Ressourcen umfassen, die es zusammen genommen ermöglichen, in den von notwendigen Reproduktionstätigkeiten freien Zeiten selbstbestimmt "allgemeine Tätigkeiten" im zivilgesellschaftlichen Sinne auszuüben (3).

Die Bezeichnung "freie Zeit" wird in Anknüpfung an utopische Überlieferungen (wie von Morus, Fourier, Bloch) und an Vorstellungen von Marx übernommen, obwohl sich die hier vertretene Auffassung vor allem durch ihren ganzheitlichen Bezug von diesen Traditionen unterscheidet. "Freie Zeit für alle" wird hierbei grundsätzlich als eines der Elemente verstanden, welche die Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit konstituieren, indem sich die "unmittelbare Reproduktion des Lebens" aus notwendigen und freiheitlichen Reproduktionstätigkeiten zusammensetzt. Ein erster Schritt wird darin gesehen, das "Reich der Notwendigkeit" selbst umzugestalten, damit "freie Zeit für alle" zugänglich und erweitert reproduziert wird: Dabei geht es um die o.a. Erweiterung der notwendigen Tätigkeiten, die sich damit auf die Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit beziehen, d.h. Reproduktionsarbeit und Arbeiten zur Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen kommen zu den notwendigen Tätigkeiten bei der Produktion von Mitteln zum Leben hinzu.

Des weiteren wären ausgehend vom Ziel der Reproduktion des Lebens sowohl die warenförmige Produktion der Mittel zum Leben als auch die patriarchal geprägte Reproduktionsarbeit selbst umzugestalten, was letztendlich radikale Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einschließen würde, die allerdings allmählich längerfristig aus den gegebenen Verhältnissen herauswachsen.

Ein zweiter Schritt wäre, daß alle sich die so gewonnene zusätzliche "freie Zeit" aneignen, indem sie diese vorwiegend mit "allgemeinen Tätigkeiten" ausfüllen. Der Bezug auf "allgemeine Tätigkeit" soll verdeutlichen, daß nicht im "Reich der Notwendigkeit" gebundene Reproduktionszeit nur durch eine emanzipierende Tätigkeit frei macht.

"Freie Zeit für alle" bezieht sich damit nicht - wie in der klassischen Tradition - nur auf die Ergebnisse der Produktion von Waren, sondern erhält mit der ganzheitlichen Bezugsbasis einen nichtpatriarchalen und nicht-klas­senbezogenen Inhalt. Umorientierung auf "freie Zeit für alle" stellt die Erhaltung von Lebensgrundlagen in den Vordergrund. Indem die Tätigkeiten im "Reich der Notwendigkeit" umorientiert und umorganisiert werden, so daß sie sich außerhalb von Warenbeziehungen bewegen, könnten sich reziproke gesellschaftliche Beziehungen entwickeln, die das Leben bereichern. Daß dafür inzwischen Bedingungen herangereift sind, unterscheidet sie von verschiedenen utopischen Vorstellungen z.B. von Iambolus im 3. Jh. v.u.Z., Morus, Babeuf, Fichte u.a., die ebenfalls gleiche Teilnahme aller an der Arbeit forderten.

In diesem Sinne würde "freie Zeit für alle" ausdrücken, inwieweit Emanzipationspotentiale bereits erschlossen sind und noch erschlossen werden können. Damit verbergen sich in ihr Perspektiven sowohl für (noch) Erwerbstätige als auch für Nicht-Erwerbstätige, darunter für aus der Erwerbsarbeit ausgegrenzte Personen. Weil sie sich nur vermehren kann, wenn sie aus den Fesseln patriarchaler kapitalistischer Wirtschaft befreit wird, verkörpert sie zugleich ein Mittel, um Widerstands- und Emanzipationspotentiale unterschiedlicher Art zu motivieren und zu bündeln. So gesehen, könnte eine allgemeine Orientierung auf "freie Zeit für alle" die bisher bestehenden vielfältigen Aktivitäten zur Gewinnung von "freier Zeit", die jeweils einige Teilaspekte aufgreifen und jeweils auf Teilprozesse der Reproduktion des Lebens gerichtet sind, vernetzen. Dazu gehören solche Schritte wie "Zeitsouveränität", Zeitkonten, Umverteilung von Arbeitszeiten innerhalb von Familienhaushalten oder zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen.

Manche AutorInnen deklarieren ein Aussteigen aus herrschenden gesellschaftlichen Normen unbesehen schon als selbstbestimmt und werten Selbstbestimmung als aktuelles Freiheitskriterium auf, demgegenüber aber die "alten" Fragen des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit ab (u.a. Gorz, 237ff., Rieseberg, 9, Bennholdt-Thomsen, V. und Mies, M., 25ff.). Tatsächlich spricht vieles dafür, "Selbstbestimmung" und "Freiheit" nicht einander entgegenzustellen oder gar gegeneinander auszuspielen, sondern ihre Interdependenz zu berücksichtigen. Selbstbestimmung ist ohne Freiheit unmöglich, stellt aber lediglich eine der Formen freiheitlichen Handelns dar; Freiheit hinwiederum schließt Selbstbestimmung ein. Wenn Gorz meint, daß - so interpretiere ich ihn - von der materiellen Seite her ein potentieller Überfluß vorhanden sei, so daß die Grenzen des "Reiches der Notwendigkeit" überschritten seien und das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit deshalb als Problem verschwinde (Gorz, 1994, 237f.), so übersieht er, daß potentielle Freiheit ungleich tatsächlicher Freiheit ist und daß die Mechanismen des patriarchalen Kapitalismus es noch immer schaffen, potentielle freie Ressourcen in das "Reich der Notwendigkeit" zu verwandeln.

"Freie Zeit für alle" ist im emanzipatorischen Sinne nicht mit "arbeitsfreier Zeit" gleichzusetzen. Sie ist weder von vornherein Zeit außerhalb von Arbeit, sei es Erwerbs-, Subsistenz-, Eigen- oder Reproduktionsarbeit, noch ist sie mit "erwerbsarbeitsfreier Zeit" gleichzusetzen. So ist die Zeit der Erwerbslosen lediglich erwerbsarbeitsfreie Zeit, aber in der Regel keine "arbeitsfreie Zeit", denn es ist Reproduktionsarbeit zu leisten und auch Subsistenzarbeit. Sie ist daher nicht automatisch gleich Freizeit.

 

Freizeit - ihre andere Bestimmung aus der Sicht einer
Reproduktion des Lebens

"Freizeit" soll hier verstanden werden als derjenige Teil der arbeitsfreien Zeit, über den die Individuen frei verfügen können. Sie bezöge sich damit auf die von jeglicher Arbeit freie Zeit, sei diese Arbeit gesellschaftlich anerkannt oder nicht.5 Aus der Sicht der Reproduktion des Lebens müßten die gängigen Vorstellungen von Freizeit korrigiert werden. Nur jener Teil arbeitsfreier Zeit stellte dann Freizeit dar, welcher keine "notwendige Reproduktionszeit" bindet. In diesem Sinne wäre Freizeit mit der Zeit gleichzusetzen, die Spielräume für selbstbestimmte Tätigkeiten gewährt. Da es jedoch in der patriarchalen kapitalistischen Wirtschaft keinen Platz für eine "notwendige Reproduktionszeit" gibt, sagt die übliche Kategorie der Freizeit nichts über die hier gemeinte "freie Zeit" aus. Freizeit ist auch unter den derzeitigen Bedingungen nicht mit der arbeitsfreien Zeit gleichzusetzen.

Obwohl sich der Begriff der Freizeit bereits im 18. Jh. herausbildete, wurde diese erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zum Gegenstand von Erwartungen und Visionen. Vor allem seit den 50er Jahren dieses Jahrhunderts hat die Freizeit beträchtlich zugenommen und sich für die Bevölkerungsmehrheit in Industrieländern zum festen Betandteil der Lebensqualität entwickelt. Im Vergleich zum Ende des 19. Jh. ist der Anteil der Erwerbsarbeitszeit an der gesamten Lebenszeit um mehr als die Hälfte gesunken. Während noch im 19. und zu Beginn des 20. Jh. die Erwerbsarbeitszeit - im Durchschnitt gesehen - länger dauerte als die Freizeit, kehrte sich dieses Verhältnis inzwischen um. Anfang der 90er Jahre verfügte eine erwachsene Person in Deutschland im Durchschnitt über etwas mehr als 5 Stunden Freizeit täglich6, für Erwerbsarbeit wurden demgegenüber im Mittel rd. dreieinhalb Stunden aufgewendet (Die Zeitverwendung, Tab.-Bd. IV, 27). Hinter diesen Mittelwerten verbergen sich allerdings hohe Überstunden mit unzureichender Freizeit genau so wie Teilzeit- und erzwungene Kurzarbeit. Die Zunahme der Freizeit resultierte etwa zur Hälfte aus einer Verringerung des Zeitaufwandes für Erwerbsarbeit, zum anderen aus Rationalisierungen in der Hausarbeit, aus ihrer Auslagerung u.a.m.

Allerdings ist die Freizeit auf die verschiedenen sozialen Gruppen ungleich verteilt. Freizeit bleibt für die Mehrheit der Bevölkerung eine patriarchal und warenwirtschaftlich gefesselte Zeit, die kaum mit "allgemeiner Tätigkeit" ausgefüllt wird bzw. werden kann. So läßt die den Erwerbslosen zwangsweise zugeteilte Pseudo-Freizeit wenig Raum für emanzipatorische Aktivitäten. Die Not zwingt sie eher dazu, sich informelle Arbeiten zu suchen. Aber auch die Freizeit der Erwerbstätigen wird immer mehr von der Kapitalverwertung eingeholt und faktisch in dafür notwendige Arbeit umgewandelt (vgl. u.a. Trends zum Erlebniskonsum). Wenn Menschen ihren Sinn- und Freiheitsverlust zu kompensieren suchen, indem sie in der Freizeit Sinne und Verstand betäuben, dann hat das mit wirklich "freier Zeit" wenig zu tun. Zwar sind Entfremdungserscheinungen in der Freizeit nicht neu. Extreme Beispiele für die Manipulation von Freizeit lieferte schon Nietzsche, der den "letzten Menschen" als von "Lethargie ohne Sehnsucht" geprägt charakterisierte. Weitere Beispiele finden sich in Huxleys "Schöne neue Welt" (1932), bei Max Weber (die "Menschenmaschine") oder bei Jürgen Habermas’ "Kolonialisierung der Lebenswelt". Als relativ neu zeigt sich aber die Tendenz, Freizeit total zu vermarkten. Deshalb erweisen sich die mit mehr Freizeit verknüpften Hoffnungen inzwischen weitgehend als Illusionen. Freizeit avancierte z.B. in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Hoffnungsträger, die Krise der Erwerbsarbeit zu überwinden oder mindestens zu mildern: als "Chance" für die "Überflüssigen" des regulären Arbeitsmarkts (u.a. Opaschowski, Rifkin), als Erwerbsarbeitsplätze schaffende Wachstumsbranche (u.a. Opaschowski), als Träger von "Zeitsouveränität", als Raum des Protestes gegen Entfremdung und für Emanzipation (u.a. Gorz, Negt, A. Maurer). Diese Erwartungen berufen sich auf jeweils andere Aspekte des Chamäleons Freizeit, deren zunehmende Umwandlung in eine Quasi-Arbeit vielfach ignoriert wird.

Stengel z.B. fordert, Freizeit müsse sich vom Primat der Arbeit emanzipieren und eine "ökologisch ausgerichtete Perspektive" bieten. Nichtstun und Eigenarbeit böten schließlich eine Möglichkeit, um dem Diktat der Arbeit über die Freizeit entgegenzuwirken (Stengel in: Hartmann/Haubl, 36-43). "Die Rettung der Welt liegt in der Muße, im Nichts-Tun" (ebenda, 43). Rieseberg sucht ebenfalls eine Ausweg in einer "ökologischen Mußegesellschaft", in einer "nichttätigen Muße" (Rieseberg, 9).

"Nichtstun" böte als "Perspektive" aber höchstens Sinn, indem es "ausgebrannte" Lebenssubstanz notdürftig kompensierte. Für aus der Erwerbsarbeit ausgegrenzte Menschen bildet es Lebensverlust. Freizeit verliert ihren Sinn und deformiert das Leben, wenn notwendige Reproduktionszeit und Freizeit an jeweils voneinander getrennte Personen und -gruppen fallen. Was bleibt überhaupt von den Freizeitaktivitäten, wenn das Überleben schwerer wird und die für die Erwerbsarbeit "Überflüssigen" erst einmal ihre eigenen notwendigen Bedürfnisse befriedigen müssen, da sie doch kein Einkommen aus aktueller oder vergangener Erwerbsarbeit mehr haben und Solidaritätsleistungen und staatliche Zuwendungen immer weniger werden? Freizeit kann tendenziell immer Menschen polarisieren und deformieren, wenn sie Gegenpol zur Erwerbsarbeit ist. Die oft beschworene "Last" der Freizeit erklärt sich hauptsächlich aus diesem Gegensatz. Freizeit dient auch zunehmend dazu, sich für die Frustrationen der Erwerbsarbeit zu entschädigen.

Diese der Freizeit immanenten Disharmonien lassen den Schluß zu, daß sie keinen geeigneten Ausgangspunkt darstellt, um eine Utopie jenseits der Arbeit zu entwickeln. Wenn Erwerbsarbeit lediglich reduziert oder anders verteilt wird, beherrscht die patriarchale Kapitallogik immer auch die von der Erwerbsarbeit freie Zeit, unter den Bedingungen tendenziell totaler Warenwirtschaft sogar im zunehmenden Maße. Fremdbestimmte Erwerbsarbeit muß deshalb überhaupt in Frage gestellt und umbewertet werden, wenn durch mehr Freizeit und deren veränderte Nutzung emanzipatorische Spielräume eröffnet werden sollen. Freizeit kann also emanzipatorische Potenzen freisetzen, sie kann aber ebenso die patriarchal kapitalistische Herrschaft verfestigen (Negt 1984, Negt 1986, 10-20). Aus dieser Sicht bringen weder Arbeitszeitverkürzung noch individualisierte Arbeitszeitregelungen automatisch "Zeit­sou­verä­nität" für die Erwerbstätigen hervor.

In den "Zeitutopien" verschiedener Couleur drücken sich Widerstandsmomente gegen eine zunehmende Vereinnahmung der arbeitsfreien Zeit durch totale Marketingstrategien aus. Freiheitliche Spielräume im Sinne von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten würden aber erforderlich machen, solche "Zeit­utopien", welche sich auf einzelne Gebiete beziehen, mit der Befreiung potentiell "freier Zeit für alle" zu verknüpfen. Aus dieser Sicht stellen "Zeitutopien" eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung für Zeitsouveränität dar. Sie werden aber vielfach überschätzt und illusionär schon für Emanzipation genommen. In diesem Sinne ist "Zeitsouveränität" keinesfalls gleichzusetzen mit Schaffung von "freier Zeit für alle", kann aber dafür eine der Voraussetzungen bilden.

 

Literatur

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Dieser Artikel ist veröffentlicht in Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 38, Juni 1999. Das Jahresabo kostet 60 Mark. Heft 38 kann von NutzerInnen des labournet germany zum Sonderpreis von 15 Mark unter Bezug auf diesen Hinweis bestellt werden bei

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1 Unter "potentiell freier Zeit" wird jede Zeit außerhalb der "notwendigen Reproduktionszeit" (vgl. Anm. 2) verstanden, in welcher Form auch immer sie auftritt.

2 "Notwendige Reproduktionszeit" umfaßt Zeiten, die für die Reproduktionsarbeit, die Arbeiten zur Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen und für die notwendige Arbeit bei der Produktion von Mitteln zum Leben erforderlich sind.

3 "Allgemeine Tätigkeiten" beruhen auf dem Marxschen Begriff der "allgemeinen Arbeit". Sie werden hier als solche gefaßt, die von vornherein freiheitlich die Ergebnisse anderer Generationen, anderer Zeiten, anderer Menschen und Menschengruppen kreativ und wechselseitig verarbeiten und beeinflussen, wie im gesellschaftlichen Diskurs, in Wissenschaft und Kunst.

4 Mit "Reproduktionsverhältnissen des Lebens" sollen gesellschaftliche Verhältnisse in beiden großen Bereichen der Reproduktion des Lebens gekennzeichnet werden, d.h. im einzelnen in der "unmittelbaren Reproduktion des Lebens": patriarchale Verhältnisse und "fiktive-Waren-Verhältnisse", in der "Produktion von Mitteln zum Leben": Produktionsverhältnisse und in beiden Bereichen: ethnische Verhältnisse in dieser oder jener Form. Diese Auffassung unterscheidet sich von der "(Re)produktion gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse" oder "Reproduktionsanalyse" (Althusser/Balibar, 346ff,361ff.,365), dadurch, daß sie nicht - wie es Althusser und Balibar tun - allein vom Konzept der "Produktionsweise" und von den "Produktionsverhältnissen" ausgeht.

5 Dazu gehören Arbeiten außerhalb der Erwerbsarbeit, die für die notwendige Reproduktion des Lebens erforderlich sind, wie Haus- und Familienarbeiten, Garten-, Hausbau- und -reparaturarbeiten u.a.m.

6 Das ist eine durchschnittliche Größe, die nach sozialen Gruppen und Geschlechtern sowie regional, wie besonders in Ost- und Westdeutschland, differiert.