Zwangsarbeit bei Bahlsen: Scharfe Kritik an Erbin – „Wir waren schon mal weiter“

Ausstellung zum Thema Zwangsarbeit: "Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg" im Hamburger Museum für Arbeit 2016„Die Erbin des Gebäck-Unternehmens Bahlsen, Verena Bahlsen, hat mit Äußerungen zur Situation von Zwangsarbeitern, die während des Zweiten Weltkrieges für Bahlsen arbeiten mussten, eine heftige Kontroverse ausgelöst. Die 26-Jährige hatte behauptet, dass Zwangsarbeiter in dem hannoverschen Unternehmen gut behandelt und genauso wie die deutschen Mitarbeiter bezahlt worden seien. Bahlsen galt im Zweiten Weltkrieg als „kriegswichtiger Betrieb“ und produzierte im Bahlsen-Werk im hannoverschen Stadtteil List unter anderem Notverpflegungen für deutsche Soldaten. Die Zwangsarbeiter, vorwiegend Frauen aus dem besetzten Polen und der Ukraine, waren in einem Barackenlager untergebracht. (…) Der Göttinger Historiker Manfred Grieger hat Zweifel an der Darstellung der Erbin. Im Interview mit NDR 1 Niedersachsen sagte er, dass es zwar keine Beschreibungen der Lebensverhältnisse von Zwangsarbeitern bei Bahlsen gebe. Im Allgemeinen sei die Kriegsgesellschaft im NS-Staat aber ganz klar rassistisch hierarchisiert gewesen: Osteuropäer und andere Menschen unter Zwangsarbeit galten als minderwertig und seien auch so behandelt worden. Auch den Tod vieler Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg würden Aussagen, wie die der Unternehmerin, schlicht außen vor lassen. (…) Die Aussagen zu den Zwangsarbeitern sind nicht die ersten Äußerungen Verena Bahlsens mit denen sie sich Kritik einhandelte. Auf einer Konferenz hatte die 26-Jährige jüngst in einem Vortrag gesagt: „Ja, ich bin Kapitalistin. Mir gehört ein Viertel von Bahlsen. Ich will Geld verdienen und mir Segeljachten kaufen.“ Auch wenn unklar ist, ob die Äußerung absichtlich überspitzt war, löste auch sie eine Kritikwelle aus.“…“ Meldung beim NDR vom 14. Mai 2019 externer Link – wenn auch selten so offen vorgetragen, eine Überraschung ist das alles nicht. Erkannte doch bereits 1939 Max Horkheimer: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Siehe dazu weitere Infos:

  • Zwangsarbeit bei Bahlsen: Im Viehtransport ins Deutsche Reich, untergebracht in bewachten Lagern
    Die Aussagen der Firmenerbin Verena Bahlsen zur historischen Schuld ihres Unternehmens folgen einem Muster: Bahlsen erkannte nie an, dass es während des Zweiten Weltkriegs hunderten Menschen Unrecht zufügte. Dabei wurde die Firma im Jahr 2000 bereits von Zwangsarbeitern verklagt. Wir veröffentlichen das damalige Urteil des Landgerichts Hannover. Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs angeblich „gut behandelt“ wurden: Die Firmenerbin Verena Bahlsen sorgte in den vergangenen Tagen für einen Eklat , weil sie in Interviews die Verbrechen ihres Unternehmens zur Zeit des Nationalsozialismus verharmloste. Inzwischen entschuldigte sie sich dafür, „Gefühle verletzt“ zu haben. Und tatsächlich sind die Aussagen von Verena Bahlsen skandalös – allerdings sind sie nicht alleine der Ignoranz der 26-Jährigen zu verschulden. Sie spiegeln vor allem wieder, was ihre Firma seit Jahrzehnten verkündet…“ Beitrag vom 15. Mai 2019 bei FragDenStaat externer Link
  • Mit Füßen getreten, verhöhnt und beschmutzt: das Leiden der Zwangsarbeiter
    Anläßlich revisionistischer Äußerungen aus prominenten Kreisen der deutschen Wirtschaft über das Leiden sowjetischer und polnischer Zwangsarbeiter im NS-System erklärt der Zug der Erinnerung: Von über 4 Millionen Staatsbürgern, die aus Osteuropa ins „Reich“ verschleppt wurden, mussten Hunderttausende Zwangsarbeit in deutschen Industriebetrieben leisten. In Hannover, dem Standort der Unternehmensfamilie Bahlsen, waren 40 Prozent aller Arbeitskräfte Häftlinge oder Zwangsarbeiter. Kaserniert in über 500 Lagern der Stadt, diente ihre Arbeit der Aufrechterhaltung des deutschen Krieges und der Steigerung privater Unternehmensgewinne. Die in die Nachkriegszeit hinübergeretten deutschen Industrievermögen, an denen Blut und Schweiss der Zwangsarbeit klebt, sind das Fundament des Aufstiegs der Bundesrepublik Deutschland zur wohlhabendsten EU-Nation. Bis heute weigert sich die deutsche Industrie, das Leid der Zwangsarbeiter zu restituieren. Sie hat Brosamen ihrer Gewinne in einen zweifelhaften Ausgleichsfonds gezahlt (Stiftung EVZ) – rechtsunverbindlich wegen angeblicher Verjährung und völlig unzureichend. Obwohl die deutsche Industrie im Europa der EU Milliardengewinne erzielt, darunter in jenen Ländern, aus denen die Zwangsarbeiter verschleppt wurden, lässt sie die letzten Überlebenden der Zwangsarbeit leer ausgehen, in Polen ebenso wie in der ehemaligen Sowjetunion, in der Tschechischen Republik oder in Italien. Die unbedarften Äußerungen einer geschichtsvergessenen Unternehmenserbin werfen ein Schlaglicht auf das Selbstverständnis der neuen deutschen Industriegenerationen und auf die öffentliche Moral…“ Pressemitteilung vom 15. Mai 2019 von und bei Zug der Erinnerung externer Link
  • Andreas Eberhardt über die Bahlsen-Debatte: „Wir waren schon mal weiter“
    „… „Es ist überraschend, wie Firmennachfolger jetzt auf einmal mit diesem Thema umgehen“, sagt Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die ehemalige Zwangsarbeiter des NS-Regimes entschädigt. „Wir sind uns doch in Deutschland sehr gewiss, dass sich bestimmte Dinge verankert haben. An solchen Äußerungen merkt man, dass man bei der Setzung solcher Themen nicht nachlassen sollte, sondern dass man weiterhin sehr genau darauf achtet, welche Narrative sich verankern und welche Narrative wir derzeit auch pflegen.“ (…) Die Deutschen nähmen sich zu viel als Helden und Opfer wahr und zu wenig als Täter, sagte Eberhardt. „Wir müssen uns einer gewissen Anstrengung unterziehen, uns mit den Aspekten unserer eigenen Geschichte auseinander zu setzen“, fordert er. Es habe durchaus sehr unterschiedliche Arten des Umgangs mit Zwangsarbeit gegeben, sagt er – immerhin ginge es um 14 Millionen Menschen, die zur Arbeit gezwungen worden waren. In Unternehmen seien sie aber in der Regel in Lager gesperrt und auch schlechter verpflegt und geringer entlohnt worden. Zwangsarbeit sei so alltäglich gewesen, dass sie bis heute nicht als nationalsozialistisches Verbrechen bewusst geworden sei. Sie sei eher als Normalität des Krieges behandelt worden, sagt er. „Das missachtet, dass dort Menschen gezwungen wurden zu arbeiten und massiv in ihre Biografie eingegriffen wurde – mit weitgehenden Folgen für diese Menschen. Das Problem in dieser Äußerung sehe ich darin, dass weiterhin nationalsozialistische Zwangsarbeit kaum als ein Verbrechen bei uns verankert zu sein scheint.“…“ Beitrag und Interview von Julius Stucke vom 14. Mai 2019 beim Deutschlandfunk Kultur externer Link Audio Datei (Audiolänge: ca. 8 Min., abrufbar bis zum 19. Januar 2038)
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=148875
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