Logistik und Transportwesen. Ein Feld der sichtbaren und unsichtbaren Auseinandersetzungen im digitalen, globalen Kapitalismus

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitDie VertreterInnen des italienischen Operaismus beschäftigen sich schon etwas länger mit dem Thema Logistik, als es populär ist. Die Primo Maggio hat bereits vor 40 Jahren eine »Geschichte des Containers« geliefert und Sergio Bologna[*], Autor des folgenden Beitrags, hat bereits in »Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbstständigkeit« (Graz 2006) auf die zunehmende Relevanz des Sektors hingewiesen. Im Rahmen des Programms »Stadt als Fabrik. Wie Logistik und Masterpläne das Leben in der Stadt verändern« des Düsseldorfer Forums Freies Theater hat Sergio Bologna im Juni 2018 den folgenden Vortrag gehalten. Das Skript hat uns der Autor mit Zustimmung der Veranstalter zur Verfügung gestellt. Wir danken!Teil I des Vortrags von Sergio Bologna, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 4/2019 und nun Teil II des Vortrags von Sergio Bologna, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 5/2019:New

Logistik und Transportwesen.
Ein Feld der sichtbaren und unsichtbaren Auseinandersetzungen im digitalen, globalen Kapitalismus, Teil II – von Sergio Bologna

An die Logistik heften sich nicht nur in den Stabsabteilungen von Unternehmen und Regierungen Hoffnungen, sondern – mit etwas anderer politischer Intention – auch in der Linken. Die Vorstellung, mit der Lahmlegung von »Hubs« und Häfen das System an seinen empfindlichsten Teilen treffen und so aus den Angeln heben oder ihm doch zumindest per elektronischem Knopfdruck empfindlichen Schaden zufügen zu können, beflügelt nicht wenige Aktive, sei es am Schreibtisch oder bei der Blockade. Die VertreterInnen des italienischen Operaismus beschäftigen sich schon etwas länger mit dem Thema, als es populär ist. Zu erinnern ist hier etwa an die vor 40 Jahren erschienene »Geschichte des Containers« der Gruppe »Primo Maggio«. Sergio Bologna, selbst Teil der operaistischen Geschichte, hat sich in » Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbstständigkeit« (Graz 2006) erneut mit der Bedeutung dieses Sektors beschäftigt. Im Rahmen der Veranstaltung »Stadt als Fabrik. Wie Logistik und Masterpläne das Leben in der Stadt verändern« hielt er im Juni 2018 auf Einladung des Düsseldorfer Forums Freies Theater einen Vortrag, dessen ersten Teil wir im express 4/2019 leicht überarbeitet dokumentiert haben. Dort zeichnet der Autor die Entwicklung von Logistik und Transportwesen über Innovationen wie das Internet und die Containerisierung nach und schließt mit der These einer anhaltenden Branchenkrise, die er vor allem anhand des Überangebots an Transportkapazitäten zur See demonstriert. Im Folgenden dokumentieren wir den zweiten (und letzten) Teil seines Beitrags, in dem er sich kritisch mit der Hoffnung auf den strategisch-revolutionären Charakter von Arbeitskämpfen in der Logistik-Branche befasst.

9. Was hat die Logistik damit zu tun? Schwer zu sagen, denn hier handelt es sich um Güterverkehr, um die Transportbranche, und diese Branche hat ihre eigenen Regeln, ihre eigenen Wirtschaftlichkeiten. Es ist ein besonderer Markt, der in mindestens vier Segmente unterteilt ist: Straßen-, Luft-, Bahn- und Seetransport. Nicht alles, was in diesem Markt läuft, kann als »Logistik« betrachtet werden. Ich würde eher sagen, dass die Supply chain durch alle diese Marktsegmente hindurch geht. Man sollte die Logistik nicht aufgrund ihrer Ausbreitung bewerten, sondern aufgrund ihrer »normativen Kraft« im globalen Austausch von Waren, Dienstleistungen, Informationen usw. Klar, das breite Publikum nimmt die Auswirkungen der logistischen Organisation auf den Verkehr und auf die Transportunternehmen am stärksten wahr. Aber die Logistik trägt keine Schuld daran, dass die Schiffe Spekulationsobjekte der Weltfinanz geworden sind. Die Logistik zeigt im Güterverkehr ihre sichtbare Seite, aber ihre unsichtbare Seite ist viel bedeutender. Und wo liegt sie? Sie zeigt sich in den Produktionsprozessen, in der Optimierung des Materialflusses, in der Synchronisierung aller Operationen und aller Phasen des Produktionsprozesses, in der totalen Kontrolle und Überwachung der Qualität, im After Sale Service usw., also dort, wo die Op­timierung eine wertschaffende Rolle spielt. Wenn Deutschland als Industriestandort noch eine Rolle spielt, verdankt es dies der Logistik. Die Logistik spielt auch eine bedeutende Rolle bei Operationen, die einen hohen sozialen Wert haben, wie die sogenannte »humanitäre Logistik« während Natur- oder Kriegskatastrophen, die City Logistics, die versucht, den Stadtverkehr zu rationalisieren und nachhal­tiger zu machen, die Reverse Logistics, die eng mit dem Recycling verbunden ist, usw.

Mit einer gewissen Verspätung haben kapitalismuskritische Analysen die Bedeutung der Logistik entdeckt, aber sie beziehen sich dabei manchmal auf Phänomene, die nichts mit Logistik zu tun haben, während die innerhalb der Produktions- und Distributionsprozesse wirkende Logistik von ihnen einfach ignoriert wird. Daher auch die These, dass die Arbeitskämpfe innerhalb der Global Supply Chain eine strategische Bedeutung und einen revolutionären Charakter hätten, als ob die Logistik das Rückgrat des Kapitals wäre. Ich wäre diesbezüglich ein bisschen vorsichtiger.

10. Logistik spielt im modernen kapitalistischen Akkumulationsmodell eine zentrale Rolle, aber sie ist genauso strategisch für die Zukunft des Kapitalismus wie der Finanzsektor oder die IT-Gruppen wie Google, Amazon, Facebook, die die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit, die ›menschliche DNA‹ zu manipulieren versuchen. Der Finanzsektor spielt bei der Schaffung von Ungleichheiten eine viel größere Rolle als die Logistik. Die Rolle der IT-Riesen beim Versuch, eine ›anthropologische Mutation‹ durchzusetzen, kann meiner Meinung nach tausendmal gefährlicher sein als die Effekte der Logistik im sozialen Leben. Die Arbeitskämpfe, die heute in den logistischen Ketten ein bedeutender Störfaktor geworden sind (im kapitalistischen Jargon disruption of the supply chain), treten hauptsächlich im Transportbereich auf, in den Häfen, bei Lieferungen mit schweren oder leichten LKW, im Bahnverkehr, d.h. in Bereichen, wo die Arbeitskämpfe eine jahrhundertealte Tradition haben. Die Arbeiterbewegung hatte die Logik der Logistik begriffen, und das fast vierzig Jahre, bevor die Unternehmen die Idee der Zero-stock-Technik entwickelt haben. Man denke nur an die Streiks der Teamsters in den Vereinigten Staaten der 30er Jahre. Sie haben also die Rolle des Hub zu einem Zeitpunkt entdeckt, als von Hub-and-spoke-System noch keine Rede war (Hub = die Nabe, Spoke = die Speiche). Sie hatten verstanden, dass sie den gesamten Straßengüterverkehr paralysieren konnten, wenn sie nur in Minneapolis streiken würden, weil sich in Minneapolis die Wege aller Liniendienste kreuzten und diese dort die Ladung austauschten. Die Besonderheit der heutigen Situation ist, dass ein Streik an einem Knotenpunkt der logistischen Kette sich auf viele andere Knoten auswirkt, wie die lange Welle eines Erdbebens. Die Integration und die Konnektivität zwischen den verschiedenen Gliedern der Kette schaffen einen Multiplier-Effekt.

11. Wir haben bereits vor 40/45 Jahren angefangen, dieses Thema zu analysieren, und zwar mit der Arbeit des Redaktionskollektivs von »Primo Maggio«, einer Zeitschrift, die wir 1973 gegründet haben und die bis 1988 zwei-, dreimal im Jahr erschien. Die Mehrheit der Redakteure kam aus der politischen Erfahrung der »operaistischen Schule«, die in Italien seit Beginn der 60er Jahren versucht hatte, über die Beteiligung an den sozialen Auseinandersetzungen und an den Arbeiterkämpfen den Marxismus zu aktualisieren (Zeitschriften Quaderni Rossi, Classe Operaia). In der Zeitschrift Primo Maggio wurden mehrere Aufsätze zum Thema »Transport, Güterverkehr, Schifffahrt, Hafenarbeit« veröffentlicht. Das beinhaltete nicht nur eine Analyse der damaligen Arbeitsbedingungen, sondern auch die Geschichte der Arbeitskonflikte und der Organisation der Arbeiterbewegung in diesem Bereich. Um in theoretischer Hinsicht sicheren Boden unter den Füßen zu haben, sind wir vom Begriff »Weltmarkt« bei Marx ausgegangen, und von der Art und Weise, wie er die Bedeutung des Geldes bei der Schaffung eines Weltmarktes analysiert. Geld als Kapital, als Zahlungsmittel, als Äquivalent. Sein Verständnis der modernen Finanzinstrumente ist unglaublich, zum Beispiel das Konzept der Schaffung des Reichtums (oder des Geldes) ex nihilo ! Man denke etwa an die Hedgefonds. (…) Das hat uns die Augen dafür geöffnet, wie Marx die Innovation in der Finanzwelt analysiert und wie schnell er die revolutionären Effekte dieser Innovation verstanden hat: die Gründung der ersten Merchant Bank, die Gründung der ersten Aktiengesellschaften. Wie hätte man große Infrastrukturen wie den Suezkanal oder die großen Bahnstrecken ohne diese neuen Instrumente finanzieren können? Die Artikel, die er in der New York Daily Tribune veröffentlicht hat, hatten dabei unserer Meinung nach eine große Bedeutung für seine Kredittheorie im dritten Band des ›Kapital‹ – etwas, was schon Roman Rosdolsky in seinem Kommentar zu den ›Grundrissen‹ verstanden hatte. So entstand die Revolution im Transportbereich, von der Segelschifffahrt zur Dampfschifffahrt, so entstand die Globalisierung. Bereits in der Nummer 12 von Primo maggio (1978) haben wir einen Artikel mit dem Titel »Storia del container«, «Geschichte des Containers« veröffentlicht. Ausschlaggebend für unsere Vorgehensweise waren der Kontakt und die permanente Diskussion mit Hafenarbeitern, Transportarbeitern, mit Arbeitern der Automobilindustrie, mit autonomen Arbeitergruppen und Betriebsräten, die der Redaktion sehr nahe standen und sich oft an den Redaktionssitzungen beteiligten. Ganz wenige konnten danach in ihren Betrieben weiterarbeiten, die Mehrheit wurde in den 80er Jahren aufgrund sogenannter »Sanierungspläne« aus der Produktion entfernt oder gleich entlassen, ein paar mussten auch ins Gefängnis. Ich selbst wurde aus der Lehre entfernt. Ich fand in der selbständigen Berufstätigkeit eine Überlebenschance, die mir jedoch erlaubt hat, den Logistik- und Transportbereich näher kennenzulernen. Im März 2018 haben wir alten Redakteure von Primo Maggio (die wenigen, die noch leben) zusammen mit einer Reihe jüngerer Mitarbeiter eine Online-Sondernummer von Primo Maggio gemacht, wo einige Artikel zur heutigen Situation in der Logistik 4.0 und in den Häfen zu finden sind.

12. Ich möchte mit kurzen Hinweisen auf zwei Phänomene schließen: a) den elektronischen Handel und b) das sogenannte Internet der Dinge. Zu a): Wir können die explosionsartige Ausbreitung des elektronischen Handels nicht auf ein Problem der Innovation innerhalb der Logistik reduzieren. Der elektronische Handel und die Unternehmen, die auf diesem Markt aktiv sind, können schwerwiegende und zum Teil besorgniserregende Auswirkungen auf unser soziales Leben, unsere Rechte als BürgerInnen einer demokratischen Gesellschaft, unsere Arbeitsbedingungen, unsere Gewohnheiten als KonsumentInnen haben. Mit dem elektronischen Handel ist ein neues Akkumulationsmodell, ein neues Geschäftsmodell, entstanden, das sich rapide auf andere Bereiche wie den Tourismus ausgedehnt hat und die Konzepte der Sharing economy übernommen hat. Es handelt sich um die digitale Revolution der Platform economy. Gegenüber dem traditionellen Geschäftsmodell der großen Konzerne hat der Plattformkapitalismus den Vorteil, über große Liquidität zu verfügen, ohne die Dringlichkeit einer Budget-Priorisierung zu haben. Die Plattform-Firmen bieten dem Konsumenten, oft umsonst, einen Online-Zugang zu allen verfügbaren Konsumwaren und erhalten im Gegenzug Daten, Personaldaten und sonstige Informationen. Der Trick dabei ist: Consumers can check out any time they like, but they can never leave. Wir können ein Buch im Amazon-Katalog suchen und dann auf die Bestellung verzichten, aber wir haben dann bereits unsere Daten für immer freigegeben. Der elektronische Handel befriedigt überflüssige Bedürfnisse, zum Beispiel eine Flasche Mineralwasser zwei Stunden nach Bestellung nach Hause geliefert zu bekommen, auch wenn es dafür nötig ist, einen leichten LKW beinahe leer zu unserer Adresse zu schicken. In einigen Städten Italiens wurden in den letzten Jahren ziemlich erfolgreiche City-logistics-Projekte durchgeführt. Der Stadtverkehr wurde mit den täglichen Lieferungen zu Restaurants, Supermärkten usw. kompatibel und nachhaltiger gemacht, das Recycling wurde rationalisiert und der Abfall deutlich reduziert. Nun müssen wir feststellen, dass alle diese Anstrengungen zunichte gemacht worden sind. Die kleinen Fahrzeuge der Handels-Firmen fahren, wie sie wollen, Fahrer werden mit einem Euro pro Lieferung bezahlt, ob die Vehikel versichert sind, ist unklar usw. Firmen wie Amazon stellen eine erklärte Herausforderung unserer institutionalisierten sozialen Beziehungen dar. Als Amazon im Jahr 2013 in Deutschland erstmals bestreikt wurde, schrieb die New York Times: »In Deutschland kollidiert die Gewerkschaftskultur mit den Beschäftigungspraktiken von Amazon. (…) In den Vereinigten Staaten hat Amazon Gewerkschaftsarbeit erfolgreich vereitelt.«

In den darauffolgenden Jahren sollte ver.di erfahren, wie richtig diese Sätze der amerikanischen Journalisten waren. Mit der Verbreitung der food delivery by bike (Deliveroo, Uber, Foodora, Just Eat usw.) ist auch der Status der zwei Arbeitsmodelle – lohnabhängig oder selbständig – in Frage gestellt worden. Wir sollten die Schutzrechte der ArbeitnehmerInnen nicht mehr ausschließlich von einem dieser Modelle abhängig machen. Die Rechte auf eine menschenwürdige Entlohnung und auf einen nicht gesundheitsgefährdenden Job müssen universell anerkannt sein. Einer der vier Leitsätze der »agilen Arbeit«, von der immer mehr die Rede ist, lautet: »Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber ist wichtiger als Vertragsverhandlung«. Ja, aber wenn der Auftraggeber die Leistung nicht ordentlich oder mit Monaten Verspätung bezahlt, wie dies bei selbständigen Berufstätigen immer häufiger passiert? Transport und Logistik sind heute das privilegierte Feld der Digitalisierung, die neuen Akkumulationsmodelle des Kapitalismus bereiten uns auf unvorstellbare Innovationen vor. Ob diese Innovationen uns ein besseres Leben bringen werden, ist jedoch fragwürdig. Wir kennen die Zukunft nicht, klar. Aber wir dürfen deswegen nicht ignorieren, was vor unseren Augen abläuft. Zum Beispiel die unerträglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen im europäischen Güterstraßenverkehr auf langen, grenzüberschreitenden Strecken oder die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf Schiffen, wo der Tod durch Selbstmord an erster Stelle liegt. »Statistics show that suicide as a cause of death rose from 4.4 Percent in 2014–2015 to an alarming 15.3 Percent in 2015–2016 –  making it the highest cause for fatalities at sea«, schrieb der Lloyd’s List am 14. Juni 2017.[1]

13. Um zu erklären, was das »Internet der Dinge« ist, möchte ich nur ein paar Sätze aus einer Präsentation eines Vorstandsmitglieds eines Automobilkonzerns vor dem Kongress der Bundesvereinigung für Logistik (BVL) in Berlin am 28. Oktober 2015 zitieren:
»Lassen Sie mich mit der Konnektivität beginnen (…) Daten sind das Gold der digitalen Ära (…) Bislang wurden vor allem Büros und Privathaushalte ans Internet angeschlossen. Die Wege dazwischen, also die mobile Welt der Pkw und Lkw, sind erst wenig angebunden. Aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Denn der vernetzte Truck ist eine Goldmine, eine Daten-Goldmine. Das hat zunächst einmal damit zu tun, dass ein moderner Truck gar kein analoger Truck mehr ist, sondern ein digitaler Truck. In einem Mercedes Benz Actros stecken schon heute 100 Millionen Zeilen Software-Code. Das ist siebenmal so viel wie in einer Boeing 787. Und 2.000 Mal so viel wie in einer iPhone-App. Das digitale Zeitalter hat bei den LKW also längst begonnen. Ein LKW erzeugt jede Menge Daten (…). Etwa 400 High-Tech-Sensoren hat ein Truck insgesamt an Bord. Die Daten, die da zusammenkommen, können wir schon heute teilweise nutzen und damit die Logistik optimieren (…). Bei LKW-Flotten sollen die Standzeiten und der Verbrauch möglichst niedrig sein (…). Moderne Telematik-Systeme können erfassen, wie ein Fahrer bremst und beschleunigt (…). Fahrer, die nicht trainiert sind, verbrauchen gut zehn Prozent mehr Diesel (…) Jetzt aber steht ein Quantensprung an: der Anschluss des Trucks an die Cloud. Aus dem Truck, wie wir ihn kennen, wird ein vernetzter Truck. Und er eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten

Was mich an dieser Rede besonders beeindruckt hat, ist die totale Durchdringung der Leistung der Arbeitnehmer durch Kontrollmechanismen, etwas, was in der Epoche des fordistischen Montagefließbandes unvorstellbar war: Remote control, viel einschneidender als die direkte Überwachung durch den fordistischen Vorarbeiter. Und es geschieht genauso, wie es hier beschrieben wird. Ich habe das bei Unternehmen des Straßenverkehrs gesehen, die besonders gut organisiert sind, ordentliche Arbeitsverträge mit ihren lohnabhängigen Fahrern haben und die gewerkschaftlichen Rechte ihrer Arbeitnehmer respektieren. Sie gehören nicht zur Welt der wilden Deregulierung, die im elektronischen Handel oder im internationalen Straßengüterverkehr herrscht. Sie benutzen die vernetzten Trucks, um die Arbeitskraft unter Kontrolle zu bringen. Und so können wir unsere kurze Analyse des an die Logistik angebundenen Transportes mit der Feststellung schließen, dass die Disziplinierung der Arbeitskraft über diese Polarisierung zwischen wilder Deregulierung und hochtechnologischer Kontrolle stattfindet. Die Konflikte, die in diesem Bereich entstehen, stellen einen teilweise verzweifelten, aber auch stolzen Versuch dar, die Würde der menschlichen Arbeit zu verteidigen. Doch der Widerstand der ArbeitnehmerInnen alleine, ohne die Solidarität der KonsumentInnen, kann nicht auf lange Sicht andauern. Diejenigen, die behaupten, dass die Arbeitskonflikte in der Logistik einen strategisch revolutionären Charakter haben, sollten sich dem Problem der Kräfteverhältnisse realistischer stellen, vor allem wenn man bedenkt, wie ohnmächtig unsere Gesellschaft gegenüber der Weltfinanz ist.

Dennoch dürfen wir die Arbeitskämpfe, die in diesem Bereich immer häufiger werden, nicht unterschätzen, vor allem weil sie immer mehr internationalen Charakter annehmen. Arbeitnehmer verschiedener Länder streiken gleichzeitig, die multinationalen Konzerne werden auf Weltebene mit den Forderungen ihrer Mitarbeiter konfrontiert. Seit ein paar Jahren hat etwa die International Transport Federation (ITF), die internationale Gewerkschaft der Transportarbeiter, im Hafen- und Schifffahrtsbereich wieder die Initiative ergriffen, wie deren seit 2015 laufende Kampagne gegen das Self Handling auf den Container- und Roll-on-Roll-off-Schiffen zeigt. Um Geld und Zeit zu sparen, versuchen die Reeder in der Nordsee genauso wie im Mittelmeer bestimmte Operationen, die von den Hafenarbeitern gemacht werden müssen, von Mitgliedern der Besatzung machen zu lassen. Worum es geht, ist dieser Stellungnahme des ITF zu entnehmen:

»Leben werden gefährdet und Hafenbeschäftigte leiden, nur weil Arbeitgeber noch immer versuchen, Seeleute zur Übernahme des Verzurrens und Losmachens von Ladung zu zwingen. Wie alle Hafenbeschäftigten wissen, ist das Sichern von Ladung eine gefährliche Angelegenheit. Wird sie von nicht dazu ausgebildeten Personen durchgeführt, drohen Verletzungen oder sogar Todesfälle. Trotzdem erhält die ITF immer wieder Berichte über solche Vorfälle, da Hafenbetreiber der Auffassung sind, sie könnten den Hafenbetrieb beschleunigen und Geld sparen, indem sie keine Hafenbeschäftigten mit den Tätigkeiten betrauen. Gemäß ITF-Kollektivvertrag, Artikel 3, sind ›das Verzurren und Losmachen von Ladung Sache der Hafenbeschäftigen. Die Besatzung sollte nicht mit dieser Arbeit betraut werden, sofern die der ITF angeschlossene Hafengewerkschaft vor Ort nicht vorher die Zustimmung dazu gegeben hat.‹ Unternehmen, Kapitäne oder Offiziere, die Seeleute auffordern, Verzurr- und Losmacharbeiten durchzuführen, ohne dass eine schriftliche Genehmigung dafür vorliegt, verstoßen gegen diesen Vertrag.« (Homepage des ITF)

Dementsprechend haben die drei italienischen Gewerkschaftszentralen am 11. Mai 2018 die Hafenarbeiter und die Seeleute zum Generalstreik aufgerufen. In Genua, dem größten Hafen Italiens, war die Beteiligung an dem Streik so kompakt, so kampflustig, so einheitlich, wie wir das in den letzten 20 Jahren nicht mehr gesehen haben.

Teil II des Vortrags von Sergio Bologna, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 5/2019

Anmerkungen:

1    Statistiken zeigen, dass die Todesursache Selbstmord von 4,4 Prozent im Zeitraum 2014–2015 auf alarmierende 15,3 Prozent im Zeitraum 2015–2016 gestiegen ist und damit die häufigste Todesursache auf See ist.

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Logistik und Transportwesen.
Ein Feld der sichtbaren und unsichtbaren Auseinandersetzungen im digitalen, globalen Kapitalismus, Teil I

Logistik gehört ursprünglich zum Militärbereich, zur »Kunst des Krieges«. In diesem Zusammenhang wird darunter »die Organisation des Nachschubs für eine Armee in Bewegung« verstanden. Nachschub von Proviant, Waffen, Munition, Kleidung, Arzneimitteln, Informationen, Post usw. für ein sich im feindlichen Gebiet bewegendes Heer. Logistik war also eine Kunst der Conquistadores, Meister der Logistik waren die alten Römer. Zur Logistik gehörte zum Beispiel die Wahl des geeignetsten Ortes für die Errichtung eines militärischen Lagers. Das Castrum, ursprünglich das militärische Lager der alten Römer, das später in vielen Fällen zum Dorf oder zur Stadt geworden war, war eigentlich ein logistischer Hub, ein logistisches Zentrum. Wenn wir bedenken, wie viele dieser Castra sich zu Städten – auch Großstädten (Mailand zum Beispiel) – entwickelt haben, können wir durchaus behaupten, dass das Phänomen des Urbanismus in Europa seinen Ursprung in der Logistik findet. (…)

Aber machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Seit den 70er Jahren kommt der Logistik eine immer größere Bedeutung in den Produktions- und Handelsprozessen zu. Sie durchdringt heute unser Alltagsleben so sehr, dass wir sie nicht mehr als eine Funktion der Produktion, sondern als ein gesellschaftliches Phänomen wahrnehmen. Wie ist diese Entwicklung vonstattengegangen?

1. Wir müssen uns die allgemeine wirtschaftliche Lage in den 1970er Jahren vergegenwärtigen, wenn wir verstehen wollen, warum die Logistik in den Produktions- und Handelsprozessen eine so hohe Bedeutung erlangt hat. Die 1970er Jahre waren eine Zeit hoher Inflation, das heißt, die Unternehmen mit großen Beständen in ihren Lagern kämpften mit einer drastischen Verminderung des Wertes ihrer Waren in der Zeitspanne zwischen Lagerung und Absatz. Es war notwendig, die Menge der Bestände zu verringern. Aber wie? Mittels der Reduzierung der Zeitspanne zwischen Lagerung und Absatz. So entstand die Theorie des »stock zero«, die später zum Konzept des just in time geführt hat. Die großen Unternehmen, zum Beispiel die Autohersteller, hatten verschiedene Zwischenlager mit Pufferfunktion, um über eine gewisse Elastizität zu verfügen, vor allem wegen der hohen Zahl an Arbeitsniederlegungen.

Um die Bestände auf ein Minimum zu reduzieren, galt es, den gesamten Produktionsprozess im Detail zu analysieren, um dessen einzelne Phasen optimieren zu können. Das führte zu einem großen Schritt nach vorn hinsichtlich der Effizienz und einer bedeutenden Steigerung der Produktivität. Es ging darum, verschiedene Operationen zu synchronisieren, was nicht so problematisch ist, wenn alle diese Operationen von unternehmenseigenen Firmen oder Abteilungen ausgeführt werden. Wenn diese Operationen jedoch von anderen Unternehmen ausgeführt werden müssen, zum Beispiel von Transportfirmen, die ihre eigenen Verfahrensweisen entwickelt haben oder unter bestimmten nationalen und internationalen Regelungen arbeiten müssen, dann wird die Synchronisierung zum Problem der Integration verschiedener Systeme. Deswegen lautete das Hauptziel der Logistik zwei Jahrzehnte lang »Integration«. Eigentlich ist die Integration ein permanenter Prozess (oder ein permanentes Problem, man denke nur heute an die Integration zwischen verschiedenen IT-Systemen). Integration kann eine sehr schwierige Aufgabe darstellen, man denke nur an die Aufteilung der rechtlichen Verantwortung entlang der Logistikkette.

2. Man bräuchte zu viel Zeit, um alle Entwicklungsphasen der Logistik im Einzelnen zu analysieren. Es lohnt sich aber, wenn wir uns für einen Augenblick auf die 90er Jahre konzentrieren, weil in dieser Zeit zwei Innovationen die Welt der Logistik tief beeinflusst und zu wichtigen Veränderungen geführt haben.

Die erste Innovation war das Internet. Das Internet hat für alle in der Logistik bereits in Gang befindlichen Tendenzen einen enormen Schub nach vorn bedeutet: Integration, Beschleunigung, Standardisierung, Flexibilisierung, Internationalisierung der Prozesse und selbstverständlich Steigerung der Produktivität. In der Logistik wurde es üblich, rund um die Uhr zu arbeiten. Die Logistik wurde der Bereich, in dem das Arbeitstempo und der Arbeitsaufwand eine extreme Intensität erreichten, und so ist es bis heute geblieben. In dieser Zeit bekam die Logistik ihren richtigen Namen: the physical Internet. Genau in der Zeit, als das Internet die virtuelle, abstrakte Welt zu planetarischen Dimensionen erweiterte, trat die Logistik als sein Gegenstück – als permanenter materieller Faktor der wirtschaftlichen Prozesse – auf und bildete damit die Voraussetzungen einer neuen Phase der Konflikte zwischen Arbeit und Kapital. Die Gurus, die vorausgesagt hatten, dass die manuelle, materielle, physische Arbeit verschwinden werde und die gesamte menschliche Wertschöpfung durch intellektuelle Arbeit geleistet werden könne, wurden in ihren Erwartungen enttäuscht.

3. Die zweite große Innovation vollzog sich im Transportbereich. Die alten, großen Spediteure profilierten sich als Logistikdienstleister (Kühne & Nagel, DSV, Panalpina etc.), aber sie fanden auf ihrem Weg einen neuen Typus von Wettbewerbern vor – die Spezialisten der Expressdienste, TNT, DHL, Fedex, UPS –, die ganz andere Verfahren in den Güterverkehr eingeführt hatten. Während die traditionellen Spediteure aus dem Straßentransport heraus entstanden sind, benutzen die Expressdienste hauptsächlich Flugzeuge, d.h. sie waren viel besser ausgerüstet, um globale Netzwerke zu bedienen. Aber die eigentliche Revolution, die sie auf den Markt gebracht haben, lag in der Preisbildung. Traditionell wird der Preis eines Gütertransportes nach zwei Parametern berechnet: Entfernung und Gewicht, Kilometer und Tonne. Die neuen Expressdienste staffeln diese Preise nach der Geschwindigkeit der Lieferung: 12, 24, 48 Stunden. Zeit wird damit die eigentliche Ware, die sie anbieten, und die Lieferung die wichtigste Operation. Das geschah bereits 20 Jahre vor dem Auftritt von Amazon.

4. Der Auftritt der Logistikdienstleister (auch 3-PL genannt, third party logistics provider) auf der Bühne der Logistik führte dazu, dass die Unternehmen die Möglichkeit hatten, einen Teil der Logistik auszulagern. Die Dienstleister waren sehr solide multinationale Firmen mit Umsätzen und Profiten, die oft bei Weitem diejenigen ihrer Kunden überstiegen. Die Unternehmen konnten eine so sensible und strategische Funktion wie die Logistik auf die Verantwortung von Partnern mit einer finanziellen Macht überantworten, die bei Banken und Versicherungen Respekt genossen, die eine privilegierte Stellung in den Beziehungen zu den öffentlichen Behörden (Zoll) hatten und die vor allem über sehr mächtige IT-Systeme verfügten. Trotzdem hat sich die Auslagerung hauptsächlich auf Transport und Lagerung beschränkt und erst in zweiter Linie auf die Auftragsabwicklung. Bei der Verrechnung der Kosten für Logistik machen Transport und Lagerung zusammen durchschnittlich 50 Prozent der Gesamtkosten aus, mit großen Unterschieden zwischen Industriebranchen.

Mit der Auslagerung konnte man die Personalkosten reduzieren und flexibler machen. In der Industrie wurden ganze Firmenabteilungen mit ihrem Personal von der Produktion zur Logistik »herabgestuft«: Ein Arbeitnehmer der Autoindustrie, der mit dem Arbeitsvertrag der Automobilbranche eingestellt worden war, konnte sich plötzlich in einem Arbeitsvertrag des Handels wiederfinden.

5. Es war die Zeit, als die breite Bevölkerung mit dem Wort »Logistik« Bekanntschaft machte. Autofahrer konnten dieses Wort auf jedem vorbeifahrenden LKW lesen. Es entwickelte sich auch ein Markt der Logistikimmobilien, auf dem sehr schnell große Akteure aufgetreten sind, die diesen Markt auf globaler Ebene beherrschen (Pro Logis u.a.). Hier etablierte sich mit der Zeit auch eine Arbeitsteilung zwischen den sogenannten Developern, den eigentlichen Immobilien-Spezialisten, die für ein logistisches Zentrum (Hub) oder für ein großes Warenhaus die passende Location suchen, das Land kaufen und den Bauauftrag vergeben, und dem Bauunternehmer, der auf den Bau von Logistikimmobilien spezialisiert ist. Auf diesem Markt findet heute ein derartiger Konzentrationsprozess statt, dass die Dimension der Transaktionen eine vorher unvorstellbare Stufe erreicht hat. Man denke nur daran, dass 2017 die China Investment Corporation – der chinesische Staatsfonds – alle Warenhäuser der amerikanischen Blackstone in Europa auf einen Schlag für 12,2 Milliarden Euro gekauft hat. Eine solch rasante Entwicklung der Logistik-Immobilien stellt die Raum- und Verkehrsplanung vor gehörige Probleme. (…) Man kann heute in Europa von vielen »logistischen Ballungsräumen« sprechen.

6. Man könnte sich die Frage stellen, ob es eine richtige Entscheidung war (…), dass die Deutsche Post DHL übernommen oder die Deutsche Bahn den großen Spediteur Schenker gekauft hat. Hat die holländische Post eine richtige Entscheidung getroffen, als sie den australischen Expressdienstleister TNT gekauft hat? Meine Antwort lautet: Ja, es war eine richtige Entscheidung, denn die Kontrolle der Logistik ist durchaus ein entscheidender Faktor hinsichtlich staatlicher Souveränität und nationaler Autonomie. Ganz anders würde ich hingegen die deutsche Politik im Schifffahrtsbereich beurteilen, vor allem im Bereich der Containerschifffahrt. Die Erfindung des Containers war von erheblicher Bedeutung für die Logistik, wiederum wegen seiner militärischen Verwendung (Nachschub für die amerikanischen Truppen im Ausland). Aber wichtiger als die Erfindung dieses Behälters war das neue Konzept der Intermodalität, d.h. die Idee, dass die Waren von einem Transportmittel zu einem anderen (zum Beispiel von einem Schiff zu einem Zug oder zu einem LKW) transferiert werden konnten, ohne die im Behälter enthaltenen Waren zu verändern. Die Supply-Chain gewann an Geschwindigkeit, die Eigentümer der Waren an Sicherheit, aber der Transport büßte an Transparenz ein. Wie kann man ganz sicher sein, dass die in den Reisedokumenten deklarierte Ware der in dem Behälter wirklich enthaltenen entspricht? Nur wenn die Siegel aufgebrochen werden, der Behälter geöffnet wird und eine Inspektion stattfindet, hat man die absolute Sicherheit. Auf der Außenwand des Containers steht nicht geschrieben: »Dieser Container enthält das und das«, sondern »the content is said to be …« (Es wird gesagt, dass …). In den letzten Jahren haben sich die Unfälle aufgrund falscher Erklärungen gehäuft. Vor allem wird das Gewicht der Waren falsch angegeben, und das kann gefährliche Folgen beim Umschlag im Hafen haben, Kräne gehen kaputt oder Menschen werden verletzt. Noch schwerwiegender können die Folgen sein, wenn Gefahrgut als normale Fracht erklärt und auf Schiffe geladen wird, die die Ozeane überqueren. (…) Seit 2017 hat die International Maritime Organisation (IMO) das Wiegen des Containers vor der Ladung an Bord als verpflichtend erklärt.

7. Mitte der 70er Jahre hätten sich vielleicht auch die ExpertInnen nicht vorgestellt, dass die Containerisierung eine solche Verbreitung finden würde. Seit ein paar Jahren findet in diesem Bereich eine starke Konzentration statt, der Markt hat eine oligopolistische Struktur angenommen. Ein Phänomen, das sehr umstritten ist, die Zukunft dieser Branche jedoch stark prägen könnte, sind die Riesenschiffe mit einer Kapazität von über 20.000 TEU (»Twenty Foot Equivalent Unit«), die auch die besten Hafeninfrastrukturen wegen ihrer Länge (400 m), ihres Tiefgangs und ihrer Anforderungen an die Umschlagstechnik unter Druck setzen. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es regelmäßig zu Phänomenen wie Verkehrsstaus oder Verkehrsinfarkten in den Gebieten um die großen Häfen kommt. (…)

Die deutsche Reeder-Industrie hat sich auf das Geschäft des Charterings mit seinen vielen non operating owners spezialisiert, d.h. Reedereien, die zwar die Schiffe besitzen, sie jedoch nicht selbst betreiben, sondern an Dritte verchartern. Neben diesem Markt hat sich ein florierender Markt von Finanzgesellschaften entwickelt, die über Jahre eine Menge von kleinen Kapitalien mobilisiert und in den Betrieb von einzelnen Schiffen investiert haben. Es handelte sich um ganz normale Investmenfonds, deren Besonderheit darin besteht, dass sie die Form einer Kommanditgesellschaft haben und sehr günstige Versteuerungsregeln erhalten. Noch wichtiger war die Rolle gewisser Kreditinstitute, z.B. der HSH Nordbank, die in den Jahren vor der Krise von 2008 den Bau neuer Schiffe finanziert haben. Aber auch Großbanken, wie zum Beispiel die Commerzbank, oder kleinere Landesbanken, wie die Norddeutsche, hatten sich an diesem Spiel ein bisschen zu leichtfertig beteiligt. Mit der Krise von 2008 und dem katastrophalen Einbruch der Fracht- und Charterraten haben diese Schiffe an Wert verloren und die Reeder konnten ihre Anleihen nicht zurückzahlen. Die Banken – an erster Stelle die HSH Nordbank – befanden sich in großen Schwierigkeiten, der Bund versuchte sie zu retten, aber vergeblich. Sie mussten mit großen Verlusten verkauft werden, die auf die Steuerzahler abgewälzt wurden. (…)  Hunderte von Investmentfonds sind in Konkurs gegangen, einige traditionsreiche Namen der Hamburger Reedereibranche verschwanden. Deutschland hat seine führende Rolle in der Finanzwelt der Schifffahrt endgültig verloren und an Investoren aus China und arabischen Ländern abgegeben. Darüber hinaus fördern China oder Korea ihre Schiffbauindustrie, indem sie nur Reeder finanzieren, die ihre neuen Schiffe bei chinesischen oder koreanischen Werften bauen lassen.

8. Hauptverantwortlich für den Fall der Charterraten war das Überangebot, d.h. zu viele Schiffe für zu wenig Ladung. In den Jahren 2012, 2013, 2014 und 2015 sind die Containerschiffe immer unrentabler geworden, große Schifffahrtsgesellschaften, wie die koreanische Hanjin, sind Pleite gegangen. In diesem Bereich hat sich seither ein gewaltiger Konzentrationsprozess vollzogen. Doch die Branche scheint aus dieser Erfahrung nichts gelernt zu haben. Es werden weiterhin neue, immer größere Schiffe bei den Werften bestellt, selbst relativ neue Schiffe werden verschrottet. Das Überangebot ist chronisch geworden. Die Raten nach dem Shanghai Containerised Freight Index sind heute wieder auf niedrigerem Niveau als 2016, als Hanjin in Konkurs gegangen ist. Das Schiff wird nicht mehr als Transportmittel betrachtet, die Nachfrage nach Ladung scheint keine Rolle mehr zu spielen, es ist ein reines Finanz- und Spekulationsobjekt geworden: »trading ships, not cargo«, hat Martin Stopford, Autor des Standardwerks »Maritime Economics« und Geschäftsführer des maritimen Dienstleisters Clarksons PLC die Situation auf diesem Markt beschrieben. Statt darüber nachzudenken und einen vernünftigeren Weg zu finden, subven­tioniert die Politik weiter Reeder, die keine Aussicht haben, sich über Wasser zu halten, Reeder, die die staatlichen Subventionen kassieren und gleich danach ihre Schiffe ausflaggen, deutsche Mannschaften entlassen und Menschen aus den ärmsten Ländern der Welt für niedrige Löhne rekrutieren. Im Jahr 2017 hatte sich die finanzielle Situation der großen Schifffahrtsgesellschaften im Vergleich zu 2016 verbessert, doch mit dem steigendem Ölpreis und den fallenden Fracht- und Charterraten ist sie seit 2017 wieder kritisch geworden. (Ende Teil I, Fortsetzung folgt)

Teil I des Vortrags von Sergio Bologna, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 4/2019

*  Sergio Bologna war bis 1983 Dozent an den Universitäten Trient, Padua, Bremen, hat verschiedenen Zeitschriften gegründet (»Classe Operaia«, »Primo Maggio«, »Altre Ragioni«), war Mitarbeiter der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Bremen und ist seit 1985 Berater im Bereich Güterverkehr und Logistik.

Siehe zum Thema im express auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=147646
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