[Interview] Undine de Rivière über Sexarbeit in Deutschland

Sexarbeit ist ArbeitFrau de Rivière, Sie argumentieren in Ihrem Buch gegen die Stigmatisierung der Prostitution, dass die normale Erwerbstätigkeit so frei gar nicht wäre und überwiegend Elemente einer Notlösung zur Sicherung der Existenz in sich berge. Ist also die freie Lohnarbeit eine Form der Prostitution? Wie würden sie den Unterschied von freier Lohnarbeit und Prostitution beschreiben? Undine de Rivière: Ich persönlich finde in der Sexarbeit mehr Freiheit und kenne viele Sexarbeiterinnen, die gerade diese Freiheit, die Selbständigkeit und die Flexibilität in ihrem Beruf sehr schätzen. Andererseits kenne ich auch Menschen, die mit diesem Job nicht besonders glücklich sind, weil sie sich nicht selbst verwirklichen können. Wie andere Leute in anderen Berufen auch, die eben ihren Job machen – die Geld verdienen, um zu überleben. Ich glaube, das ist leider, so wie unsere Gesellschaft strukturiert ist, derzeit der Normalzustand. Ich finde vor allem wichtig, dass man in der Sexarbeit keine anderen Maßstäbe ansetzt, als bei anderen Berufen. Dass ein Unterschied gemacht wird; zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Oft werden nur die sogenannten glücklichen Huren von denjenigen abgegrenzt, die ausgebeutet oder gezwungen werden. Das große Mittelfeld von Sexarbeiterinnen, deren Arbeitszufriedenheit mit den konkreten Umständen zusammenhängt – also wie viel Geld verdient wird, ob man angenehme oder unangenehme Kunden hat, wie die kollegiale Zusammenarbeit ist, wie die Vermieter drauf sind – fällt völlig unter den Tisch. Ich würde mir wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, in der niemand gezwungen ist, für Geld Dinge zu tun, die ihm gegen den Strich gehen. Das gilt für die Sexarbeit genauso wie für andere Berufe.“…“ Kennen Sie zufälligerweise das Lied externer Link „We Are All Prostitutes“ von der Pop Group? Undine de Rivière: Nein, das kenne ich nicht. Würden Sie dieser allgemeinen These zustimmen? Undine de Rivière: Das hängt davon ab, was unter Prostitution verstanden wird: Ursprünglich bedeutet der Begriff „die Preisgegebene“. Es geht also um jemanden, der zur Schau gestellt und vermietet wird. Bei der Leiharbeit könnte man schon sagen, dass das irgendwie hinkommt. Dagegen arbeiten viele Sexarbeiterinnen selbstbestimmt, sie werden nicht von jemandem vermietet und zur Schau gestellt. Sie sind selbst handelnde Subjekte. Insofern weiß ich nicht, ob uns der inflationäre Begriff der Prostitution hier so viel weiter bringt. Ich finde, wir sollten ihn durch „Sexarbeit“ ersetzen…“ Interview von Reinhard Jellen mit Undine de Rivière auf und bei Heise vom 07.07.2018 externer Link, 1.Teil und Teil 2 des Interviews:

  • Undine de Rivière über das horizontale Gewerbe – Teil 2 des Interviews
    „Frau de Rivière, bei wie vielen Sexarbeiterinnen gehen Sie von Menschenhandel und Zwangsverhältnissen aus? Undine de Rivière: Ich habe das in meinem Buch anhand eines Zahlenbeispiels durchgerechnet: Jedes Jahr meldet das BKA mehrere hundert Verdachtsfälle von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Zuhälterei, also der sogenannten Rotlichtkriminalität. Gerichtlich bestätigt werden davon jährlich unter hundert. Das BKA kann ja so viele Verdachtsmomente melden, wie es will – relevant sind tatsächliche Verurteilungen. Dann wird immer mit einer riesigen Dunkelziffer argumentiert, für die es aber keine Studien gibt und für die auch keine Studien geplant sind. Ich habe mir überlegt, ob sich diese mit der Dunkelziffer von Vergewaltigung und sexueller Nötigung vergleichen lässt – also schwere Verbrechen, die ähnlich schambehaftet sind und oft nicht angezeigt werden. Dazu gibt es Forschung, da haben wir eine Aufklärungsquote von fünf Prozent. Also auf eine Verurteilung kommen zwanzig Fälle, die tatsächlich passiert sind. Wenn wir das auf die Sexarbeit übertragen, kommen wir bei hundert Fällen, die gerichtlich bestätigt worden sind, auf 2000 tatsächliche Fälle pro Jahr. Wir wissen nicht genau, wie viel Sexarbeit es in Deutschland gibt. Schätzungen gehen von 47.000 bis 400.000 Sexdienstleistenden aus. Gehen wir der Einfachheit halber einmal von der Zahl in der Mitte, von 200.000 aus. Bei 2.000 Fällen von sexueller Ausbeutung jeglicher Couleur sind also ein Prozent der Sexarbeiterinnen betroffen. Das finde ich nicht unplausibel, und das ist weit von der propagierten Zahl von 90 Prozent Zwangsprostitution entfernt.“…“ Wie hat man sich diese Razzien vorzustellen, passieren die oft und sind die dann brutal? Undine de Rivière: Das kommt auf das Bundesland an und darauf, wer an den verantwortlichen Stellen sitzt. In der Hälfte der Bundesländer hat die Polizei ein anlassunabhängiges Kontrollrecht an allen Orten, an denen Sexarbeit stattfindet. Nach dem neuen Prostituiertenschutzgesetz hat die zuständige Behörde (die oft die Polizei selbst ist) außerdem auch Zugang zu Privatwohnungen, in denen der Sexarbeit nachgegangen wird. Damit wird unser Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung außer Kraft gesetzt. Das wäre mit einer Einbindung von Sexarbeit in das ganz normale Gewerberecht nie möglich gewesen. Die Razzien werden teilweise mit Waffen und Hunden durchgeführt, man fällt in voller Montur zu jeder Tages- und Nachtzeit ein. Teilweise auch schlicht und einfach deswegen, um zu üben: Wir haben in einigen Fällen mitbekommen, dass bei der Gelegenheit Polizeischüler ausgebildet werde, weil das Rotlichtmilieu so schön harmlos ist im Vergleich zur organisierten Kriminalität. Teilweise sind die Razzien auch Schikane: Beispielsweise in München nutzt die Polizei regelmäßig – also ein- bis zweimal die Woche – ihr anlassunabhängiges Kontrollrecht, um Bordelle aufzusuchen, dort einzufallen, teilweise die Tür aufzubrechen, wenn nicht geöffnet wird, und dort den Betrieb aufzumischen. Dort wird den Betreibern erklärt, dass, wenn sie die Mieterinnen proaktiv bei der Sitte vorbeischicken, um dort die Personalien aufnehmen zu lassen, die Razzien nur mehr zweimal im Monat durchgeführt würden. Dadurch ist die Registrierung von Sexarbeitenden in München seit Jahrzehnten weitgehend durchgesetzt. Sollte sich herausstellen, dass der Betreiber Mieterinnen akzeptiert, die nicht bei der Sitte registriert sind, wird dann wieder öfter eine Razzia durchgeführt. Diese Registrierung führt übrigens nicht dazu, dass es weniger Fälle von Menschenhandel oder Ausbeutung gibt. Aber das anlassunabhängige Kontrollrecht führt dazu, dass wir wie Verbrecher behandelt werden…“ Interview von Reinhard Jellen mit Undine de Rivière auf und bei Heise vom 08.07.2018 2.Teil externer Link
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