Muslima gegen Müller. Bundesarbeitsgericht überweist Klage einer Kopftuchträgerin gegen Drogeriemarkt an Europäischen Gerichtshof

Nein zum Kopftuch-Verbot! Kein Berufsverbot für Frauen! Und: Kein Kopftuchzwang…Ein Privatunternehmen sollte seinen Mitarbeitern nicht alle sichtbaren religiösen Zeichen verbieten können – meinen die höchsten deutschen Arbeitsrichter. Doch ganz sicher scheinen sie nicht zu sein. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt übergab deshalb den Fall am Mittwoch an den Europäischen Gerichtshof (EuGH), statt in dem Revisionsverfahren selbst ein Urteil zu fällen. Ursprünglich hatte eine 35-jährige muslimische Verkäuferin aus dem Raum Nürnberg gegen die Drogerie Müller geklagt. Die für alle Filialen der Kette geltende Kleiderordnung hatte der Frau untersagt, bei der Arbeit im Ladenraum ein Kopftuch zu tragen. Die Beschäftigte hatte nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit begonnen, ihr Haar zu verhüllen. Denn in ihren Augen ist das religiöse Pflicht. Die Vorsitzende Richterin am BAG, Inken Gallner, sprach von einem Konflikt zwischen Religionsfreiheit und unternehmerischer Freiheit. Letztere haben etwa durch Paragraf 106 Gewerbeordnung das Recht, ihren Beschäftigten Weisungen zu erteilen. Darunter fallen auch Bekleidungsfragen. Zugleich müssen aber die Grundrechte der davon betroffenen Arbeitnehmer beachtet werden. (…) die Urteile in den unteren Instanzen bislang zu ihren Gunsten ausgefallen sind, sowohl am Arbeitsgericht Nürnberg als auch am Landesarbeitsgericht Nürnberg. Denn die Kleiderordnung der Drogerie untersagt nur »großflächige« religiöse Zeichen, worunter etwa das Kopftuch fällt. Die Formulierung »großflächig« umfasst keine kleineren Symbole, wie zum Beispiel christliche Halsketten mit Kreuzanhänger. Deshalb sind diese Kleiderregeln laut der ersten Urteile »unmittelbar diskriminierend«…“ Artikel von Lotte Laloire vom 30.01.2019 beim ND online externer Link – siehe auch einen Kommentar und nun das Urteil:

  • EuGH-Urteil: Kopftuchverbot am Arbeitsplatz in engem Rahmen möglich New
    Immer wieder gibt es an Arbeitsplätzen Diskussionen und gerichtliche Auseinandersetzungen um das Tragen eines muslimischen Kopftuches oder anderer religiöser Zeichen. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) aufgezeigt, unter welchen engen Voraussetzungen der Arbeitgeber trotz Religionsfreiheit ein Verbot aussprechen kann: Dann und nur dann, wenn er ein ‚wirkliches Bedürfnis‘ geltend machen kann und ohne ein solches Verbot Nachteile hinnehmen müsste. Hintergrund des Verfahrens sind zwei Fälle aus Deutschland: Sowohl in der Kindertagesstätte des Vereins WABE als auch in der Drogeriemarktkette Müller wurde jeweils einer Mitarbeiterin das Tragen eines Kopftuches während der Arbeitszeit aufgrund einer Dienstanweisung respektive wegen einer Kleiderordnung untersagt. Die Mitarbeiterinnen klagten jeweils. Das Arbeitsgericht Hamburg, dem der Fall der WABE-Mitarbeiterin vorlag, rief den Gerichtshof in Luxemburg zur Klärung an. Ebenfalls vorgelegt wurde dem EuGH das Verfahren der Kassiererin der Drogeriemarktkette gegen ihren Arbeitgeber – und zwar vom Bundesarbeitsgericht. Wie die Große Kammer des EuGH entschied, kann ein Kopftuchverbot im Job dann u.U. gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber gegenüber den Kunden Neutralität vermitteln und soziale Konflikte vermeiden will…“ Beitrag von Beate Henes-Karnahl vom 20.07.2021 bei betriebsratspraxis24 externer Link, siehe auch:

    • EuGH zu Religionsfreiheit: Das Tragen von Kopftüchern am Arbeitsplatz kann verboten werden
      „… Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich am Donnerstag ebenfalls mit den Neutralitätsvorgaben zweier Unternehmen beschäftigt (Urt. v. 15.07.2021, Az. C-804/18 und C-341/19). (…)  Die europäische Sichtweise hierauf war hingegen teilweise unternehmensfreundlicher. So ließ der EuGH in der Vergangenheit Sympathien für betriebliche Neutralitätsvorgaben erkennen, als er unter Betonung der unternehmerischen Freiheit das arbeitgeberseitige Verlangen eines religiös „neutralen“ Erscheinungsbildes einer Empfangsmitarbeiterin mit direkten Kundenkontakt als berechtigt ansah (Urt. v. 14.03.2017, Az. C-157/15 externer Link). (…) Der EuGH vertrat dazu nun eine differenzierende Sichtweise: Ein Verbot jedweder religiöser Zeichen im Betrieb unabhängig von der Konfession oder Weltanschauung stelle eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion dar. Gebe es ein „wirkliches“ und vom Arbeitgeber nachgewiesenes Bedürfnis an betrieblicher Neutralität und drohe ohne deren Befolgung eine Beeinträchtigung der unternehmerischen Freiheit aufgrund entsprechender Kundenerwartungen, könne eine solche Neutralitätspolitik allerdings gerechtfertigt sein. Abzuwägen sei aber, dass dieses Verbot Angehörige bestimmter religiöser Gruppen in höherem Maße treffe, wenn bei diesen das Tragen großflächiger religiöser Zeichen stärker mit der Religion verbunden sei als bei anderen religiösen oder weltanschaulichen Strömungen. Dabei sei auch zu beachten, dass eine wirksame betriebliche Neutralitätspolitik nur wirksam verfolgt werden könne, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt seien, da das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens das mit der Neutralitätsregel verfolgte Ziel beeinträchtigen könne. Zudem legt der EuGH Wert darauf, dass nationale Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit bei der Abwägung ebenfalls zu beachten seien. (…) Pauschale Kopftuchverbote werden damit weiterhin unzulässig sein. Nur, wenn im Ausnahmefall konkrete Störungen bzw. „wirkliche Bedürfnisse“ dargelegt werden können, erscheinen Verbote religiöser Zeichen denkbar. Das ist letztlich aber nichts anderes als die Handhabe, die bislang schon von deutschen Arbeits- und Verfassungsgerichten verfolgt wurde…“ Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Fuhlrott vom 15.07.2021 bei LTO.de externer Link
  • BAG zur Wirksamkeit des Kopftuchverbots: EuGH könnte für Wirbel sorgen
    Für das BAG verletzt ein Kopftuchverbot die Religionsfreiheit. Gleichwohl wollte das Gericht nicht abschließend über die Wirksamkeit des Verbots entscheiden und legte die Frage dem EuGH vor. Zu Recht, wie Michael Fuhlrott findet. (…) Ob das Tragen des Tuches während der Arbeitszeit durch den Arbeitgeber verboten werden darf, sollte das Bundesarbeitsgericht (BAG) am Donnerstag entscheiden (Beschl. v. 30.1.2019, Az. 10 AZR 299/18). Das Gericht betonte zwar die Bedeutung der grundgesetzlich geschützten Religions- und Glaubensfreiheit, die einem pauschalen Kopftuchverbot entgegenstehe. Allerdings sah sich das deutsche Gericht aufgrund der insoweit die unternehmerische Freiheit stärker betonenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) an einer abschließenden Entscheidung gehindert und legte dem EuGH das Verfahren im Wege der Vorabentscheidung vor. (…) So müsse der EuGH etwa die Frage beantworten, ob eine allgemeine arbeitgeberseitige Anordnung in der Privatwirtschaft, die auch das Tragen auffälliger religiöser Zeichen verbiete, aufgrund der von Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) geschützten unternehmerischen Freiheit diskriminierungsrechtlich stets gerechtfertigt sei. Hierbei gab das BAG zu bedenken, dass maßgeblich auch die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin berücksichtigt werden müsse, die nicht nur nach deutschem Verfassungsrecht, sondern auch von der GRC und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) geschützt werde. Die endgültige Klärung der Frage, ob Kopftuchverbote damit aufgrund innerbetrieblicher Neutralitätsvorgaben gerechtfertigt sein können, wird damit noch einige Zeit in Anspruch nehmen…“ Kommentar von Prof. Dr. Michael Fuhlrott am 30.01.2019 bei Legal Tribune Online externer Link
  • Siehe auch BVerfGE: Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß und Bundesarbeitsgericht: Pauschales Kopftuchverbot im Unterricht ist diskriminierend
  • Wir erinnern an die Kampagne im LabourNet-Archiv: Nein zum Kopftuch-Verbot! Kein Berufsverbot für Frauen! Und: Kein Kopftuchzwang…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=143554
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