50 Cent pro Stunde: Nicht nur indonesische Au-pairs werden in Deutschland von ihren Gastfamilien ausgebeutet

Tradition: "Ausländer" auf dem deutschen Arbeitsmarkt„In Deutschland sind Tausende Au-pairs tätig. Das sind junge Erwachsene aus dem Ausland, die bei einer Gastfamilie wohnen und sie bei Kinderbetreuung und kleineren Haus­arbeiten unterstützen. Im Gegenzug erhalten sie Kost, Logis, Versicherungsschutz sowie ein Taschengeld. Ein zentraler Bestandteil ihres Aufenthalts soll es zudem sein, ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen und die hiesige Alltagskultur kennen­zulernen. Dieses Tauschverhältnis hält das Wort Au-pair fest: Es bedeutet, ein auf gegenseitigem Nutzen beruhendes Verhältnis einzugehen, in dem das Au-pair einem Familienmitglied gleich aufgenommen wird. In Gesprächen mit vier Au-pairs aus Indonesien stellt sich jedoch heraus, dass die Realität oft anders aussieht…“ Artikel von Sabri Deniz Martin vom 6. Juni 2019 in der jungle world externer Link, siehe mehr daraus und dazu:

  • Arbeitsrechte von Au-pairs: Ausbeutung mit Familienanschluss New
    Als Au-pair wollte die Kolumbianerin Cristina Deutschland kennenlernen. Doch ihre Gastfamilie nutzte sie aus. Das ist kein Einzelfall, auch weil gesetzliche Kontrolle fehlt.
    Als Cristina* das Spielzeug der Kinder zusammensammelt, ist es bereits nach 22 Uhr. Die Kinder hat sie gerade erst ins Bett gebracht, und auch die Spülmaschine ausgeräumt. Jetzt nur noch das Spielzeug der Kinder reinigen, Stück für Stück, eine weitere tägliche Aufgabe. „Ich war so müde, dass ich wirklich nicht mehr wollte“, so erzählt es Cristina heute, fast vier Jahre nachdem die Kolumbianerin als Au-pair nach Deutschland kam. (…) Cristina, die in Wirklichkeit anders heißt, möchte von ihren Erinnerungen heute nur anonym berichten, weil sie nach wie vor Angst vor ihrer Gastmutter habe, wie sie sagt. Angst, die Gastmutter könne wieder versuchen, in ihr Leben einzugreifen und psychischen Druck auf sie auszuüben – wie vor einigen Jahren, als sie einmal Cristinas potenziellen Arbeitgeber anrief, um ihm davon abzuraten, Cristina einzustellen. Da war Cristinas Au-pair-Zeit in der Familie bereits beendet. (…)
    Dass Au-pairs deutlich mehr arbeiten müssen als vorgeschrieben, ist kein Einzelfall, erzählen Susanne Flegel und Marita Grammatopoulos. Die beiden Frauen haben selbst Au-pair-Vermittlungsagenturen betrieben. Als sie immer öfter von Regelbrüchen hörten, fingen sie an, sich um Au-pairs in Not zu kümmern. Im Jahr 2017 gründeten sie den Verein Au-pair-Hilfe e. V. (…) „Fast keine Familie hält sich an die Vorgaben zur Arbeitszeit. Oft sind es bis zu zwölf Stunden am Tag, dann wird noch das Wochenende ignoriert oder am freien Tag muss das Au-pair trotzdem irgendwelche Sachen tun, obwohl sie eigentlich frei hat.“ Ob ein Au-pair-Vertrag den Bestimmungen entspricht, prüft die Bundesagentur für Arbeit. Doch eine Instanz, die prüft, ob der geschlossene Vertrag dann auch eingehalten wird, die gibt es nicht. Auf taz-Anfrage schreibt das zuständige Bundesfamilienministerium über die Anzahl von Verstößen gegen die Au-pair-Richtlinien: „Aktuell sind nur wenig Fälle schwerer Rechtsverletzungen bekannt.“ Das Ministerium gibt aber zu: „Allerdings sind auch keine verlässlichen Statistiken verfügbar bzw. werden von den Behörden nicht geführt.“ (…) Pro Jahr kommen zwischen 13.000 und 14.000 Au-pairs nach Deutschland – auch das sind Schätzungen – davon etwas mehr als die Hälfte von außerhalb der EU, aus Afrika, Asien oder Lateinamerika. Au-pair heißt eigentlich auf Gegenseitigkeit. Doch in der Realität besteht ein enormes Machtgefälle zwischen Gastfamilie und Au-pair: So arbeiten oft junge People of Colour, meistens Frauen aus eher armen Familien, für wohlhabende weiße Familien. Dabei ist das Visum der Au-pairs mit einer bestimmten Gastfamilie verknüpft. Wenn ein Au-pair oder die Gastfamilie den Vertrag kündigt, ist auch der Aufenthaltsstatus in Gefahr. Das kann ein zusätzliches Druckmittel sein (…)
    Was Cristina erlebt hat, begegnet Flegel und Grammatopoulos häufiger in ihrer Beratung: Laut ihrer Aussage haben sich in den letzten Jahren mehr als 1.000 Au-pairs bei ihnen gemeldet. Mindestens ein Anruf pro Tag gehe auf der Nummer des Krisentelefons ein. Eine Person habe kürzlich um Hilfe gebeten, weil sie von 7 Uhr morgens bis 21 Uhr arbeiten musste und dass die Gastfamilie über die Anzahl der Kinder gelogen habe. In einem anderen Fall habe der besorgte Freund einer Au-pair berichtet: „Unter dem Deckmantel der Obhutspflicht wurde denen auch verboten, Partner zu treffen.“ Und ein zweites Au-pair in der Familei sei „anscheinend auch bis heute gar nicht bei der Ausländerbehörde angemeldet“. Die ehrenamtlichen Au-pair-Helferinnen hören aber auch noch schlimmere Berichte: „Es gibt auch viele Fälle von sexueller Nötigung – oder dass Au-pairs Essen vorenthalten wird“ (…)
    25 Au-pair-Agenturen haben sich in Deutschland zwar zur Gütegemeinschaft Au-pair zusammengeschlossen, bei der sich Ver­mitt­le­r*in­nen auf eigene Kosten freiwillig zertifizieren lassen können. Das Bundesfamilienministerium verweist auf taz-Anfrage, wie das Einhalten der Au-pair-Standards gesichert werden soll, auf diese Gütegemeinschaft, wo die Mitglieder sich aber lediglich selbst kontrollieren. Flegel und Grammatopoulos halten das für wirkungslos…“ Artikel von Fabian Grieger vom 28.7.2023 in der taz online externer Link
  • Ausbeutung von Au-Pairs: Kein Urlaub, kein Feierabend
    Niemand weiß, wie viele junge Menschen als Au-Pairs mehr arbeiten als erlaubt. Denn die Branche ist wenig erforscht – und nur schwach reguliert.
    Wer auf Instagram nach „#aupairlife“ sucht, bekommt über eine Viertelmillion Fotos angezeigt. Eine junge Frau vor einer Amsterdamer Gracht, die versinkende Sonne über dem Grand Canyon, der werbegrell erleuchtete New Yorker Times Square. „Au-pair“ heißt zu Deutsch „auf Gegenseitigkeit“. Das mit diesem französischen Wort bezeichnete Programm dient offiziell dem Kulturaustausch. Fremde Länder, ferne Reiseziele – der Traum vieler junger Menschen. Doch Au-pair-Leben heißt auch: wohnen, schlafen, arbeiten am selben Ort. „Man hat keinen Urlaub, keinen Feierabend“, berichtet Janil, die eigentlich anders heißt, ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, um Rückschlüsse auf ihre ehemalige Gastfamilie zu vermeiden. Die Kirgisin kam mit 19 Jahren nach Deutschland und verdingte sich für elf Monate als Au-pair. „Ich konnte nicht in Ruhe in meinem Zimmer sitzen, wenn alle zu Hause waren“, erzählt die inzwischen 25-Jährige, „weil ich dann immer das Gefühl hatte, ich muss helfen oder aufräumen.“ (…)
    Schilderungen von Au-pairs wie Janil finden sich im Internet massenhaft. Immer wieder berichten auch Medien über Ausbeutung und andere Missstände. Wie viele Stunden Au-pairs wirklich arbeiten, welche Tätigkeiten sie verrichten müssen, wie viel Rücksicht auf ihre Privatsphäre genommen wird, all das ist schwer zu kontrollieren. Zudem stellt sich generell die Frage, ob der Verdienst den Aufgaben angemessen ist. Wo hört Kulturaustausch auf? Und wo fängt Ausbeutung an? (…) Generell ist das Feld in Deutschland kaum untersucht und erstaunlich wenig reguliert: Seit 2002 bedarf es keiner besonderen Erlaubnis mehr, um als Au-pair-Vermittler:in zu arbeiten; ein Gewerbeschein genügt. Und auch wenn die Bundesrepublik wesentliche Rahmenvorgaben des vom Europarat bereits 1969 verabschiedeten „Europäischen Abkommens über die Au-pair-Beschäftigung“ anerkannt und übernommen hat – bestätigt hat sie den Vertrag nie. (…)
    Wolle man Au-Pairs schützen, findet Soziologin Rohde-Abuba, müsse man deren Tätigkeiten als Arbeit definieren. Dafür jedoch fehle der politische Wille. Denn das Au-pair-Programm gilt nicht als sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Also können Au-pairs auch nicht von den Gewerkschaften vertreten werden. „Es kann nicht sein, dass wir für so wenig Geld ausländische junge Menschen bei uns arbeiten lassen, weil unsere Kinderbetreuungsangebote so schlecht sind“, erklärt die Forscherin. Obendrein könne niemand kontrollieren, was in den Privathaushalten vorgehe, in denen Au-pairs lebten. Rohde-Abuba fordert deshalb eine stärkere Regulierung der Branche. Denn für viele der jungen Aus­län­de­r:in­nen sei nämlich das Visum für Deutschland der größte Vorteil des Programms. Einige blieben nach ihrem Au-pair-Dienst in der Bundesrepublik und versuchten, sich hier eine langfristige Karriere aufzubauen…“ Artikel von Jonas Wagner vom 25. 4. 2022 in der  taz online externer Link
  • Weiter aus dem Artikel von Sabri Deniz Martin vom 6. Juni 2019 in der jungle world externer Link: „… Zwar gibt es Gastfamilien, die es mit der Gegenseitigkeit ernst meinen, aber viele suchen nur nach einem billigen Dienstmädchen. Sie vergleichen die Kosten für Kinderkrippe, Babysitting, Haushaltshilfe und Putzkraft mit denen für ein zeitlich flexibles, stets abrufbares Au-pair. Nicht selten versuchen Alleinerziehende, mit einem Au-pair die Doppelbelastung durch Beruf und Kind in den Griff zu bekommen. (…) In Deutschland ist unter dem Deckmantel eines Quid-pro-quo-Kulturaustauschs ein dereguliertes Arbeitsverhältnis mit einem Stundenlohn von circa 50 Cent möglich, dem ein junger Mensch ohne lebenspraktische Kenntnisse der Gesellschaft, in der er sich aufhält, beinahe schutzlos ausgeliefert ist. Wenn die Bundesrepublik das Europäische Abkommen über die Au-pair-Beschäftigung ratifizieren oder eigene Maßnahmen einleiten würde, die darauf hinauslaufen, Au-pairs als Schutz­bedürftige mit einem Sonderstatus anzuerkennen und für sie Sorge zu tragen, wäre bereits viel gewonnen.“ 
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=150219
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