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Updated: 18.12.2012 15:51
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Eine stand auf – über die rechtspolitische Bedeutung des »Emmely«-Urteils und Lehren aus der Kampagne

Von Rolf Geffken*

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) im Fall »Emmely« war verkündet. Die Tinte war trocken, da schien die Entscheidung manchen keine Sensation mehr zu sein. Da in den Medien über den Fall und das vorangegangene Urteil des LAG Berlin umfassend berichtet worden war und sich vielfaches Unverständnis über diese Rechtsprechung breitgemacht hatte, hielt sich die Überraschung durchaus in Grenzen. Vor allem aber hatten es viele »schon immer gewusst«, auch wenn sie sich während der Kampagne merklich zurückgehalten hatten. Aber bekanntlich hat der Erfolg ja immer viele Väter und Mütter.

Tatsächlich war die Entscheidung – wie noch weiter unten darzulegen sein wird – nur begrenzt eine juristische Sensation.

Zunächst: Die Entscheidung war nicht Ergebnis eines langjährigen juristischen Diskurses um die sogenannte Verdachts- und Bagatellkündigungen (»herrschende Meinung« contra »Mindermeinung«). Sie war vielmehr zunächst und vor allem ein großer politischer Erfolg der Solidaritätskampagne für die Betroffene. Das scheinbar Paradoxe: Vor der Entscheidung gab es in der gesamten juristischen Literatur keine grundsätzliche Kritik an den bislang herrschenden Positionen der Rechtssprechung (auch nicht von Gewerkschaftsseite). Schon deshalb lassen sich aus der Solidaritätskampagne grundlegende Erkenntnisse für das in Deutschland komplizierte Verhältnis von Recht und Politik, von Gesetzgebung und Prozessführung ableiten. In der Vermittlung dieser Erkenntnisse liegt der eigentliche Erfolg der Kampagne und der Verdienst der Betroffenen und ihrer Mitkämpfer.

Warum?

1.

Die Rechtslage bei sogenannten Bagatellkündigungen war bislang relativ eindeutig. Rechtslage? Eine gesetzliche Regelung gibt es dazu nicht. Das BAG selbst ist – verfassungsrechtlich problematisch – hier »Gesetzgeber«: Es ist Richterrecht, das da gilt, obwohl das deutsche Rechtssystem gerade kein »case-law« im angelsächsischen Sinn kennt.

Wiederholt wurde in der Berichterstattung – auch von »Experten« [1] – der Fall Emmely dem Komplex der »Verdachtskündigungen« zugeordnet. Doch es ging in dem Verfahren nicht um einen Verdacht, sondern – ob zu Recht oder Unrecht sei dahingestellt – um eine behauptete und später als unstreitig geltende Straftat. Nämlich um die Veruntreuung oder Unterschlagung eines – wenn auch sehr geringen – Geldbetrages. Es lag also eine sog. Bagatellkündigung vor. In Fällen dieser Art hat das BAG seit vielen Jahrzehnten eine ebenso konsequente wie wenig überzeugende Linie verfolgt: Wer Gegenstände – auch solche von geringem Wert – dem Arbeitgeber entwendet oder diese unterschlägt oder veruntreut, macht sich nicht nur strafbar. Er zerstört vielmehr dadurch das zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer notwendige Vertrauensverhältnis.

Gerade darin liege regelmäßig ein »wichtiger Grund« zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, da dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung eines solchen Arbeitnehmers nicht mehr zuzumuten sei. [2]

Hinterfragt wurde diese Rechtsprechung, wie eingangs bemerkt, auch von Gewerkschaftsseite nicht. Ein Umstand, der für die Bedeutung der Kampagne und das Urteil von allerhöchster Bedeutung ist: Wären die Betroffene und ihre Unterstützer dem Rat der zuständigen ver.di-Sekretärin gefolgt, so wäre es vielleicht zu einer Klage, gewiss aber nicht zu einer Kampagne gekommen.[3] In anderen Fällen wäre möglicherweise unter Hinweis auf eine »gefestigte Rechtsprechung« Rechtsschutz verwehrt worden. Im Falle der Beantragung von Prozesskostenhilfe hätten Gerichte unter Umständen wegen »mangelnder Aussicht auf Erfolg« die Beiordnung eines Anwaltes auf Kosten der Staatskasse abgelehnt. In jedem Falle aber war definitiv bis zu dieser BAG-Entscheidung jede andere Rechtsansicht eine »völlig unbedeutende Mindermeinung«.

Das Bemerkenswerte an einer solchen »unmöglichen Rechtsansicht« (so der Kommentar eines Richters am Hamburger Sozialgericht anlässlich eines Falls, in den der Verfasser als Anwalt involviert war), ist: dass sie quasi über Nacht doch möglich wurde, also eine »Erfolgsaussicht« hatte. Warum aber?

2.

So sehr Juristen vielleicht nicht von der Richtigkeit, aber jedenfalls von der Unanfechtbarkeit dieser alten BAG-Rechtsprechung ausgingen und jede andere Meinung als »unmöglich« denunzierten, so wenig stieß diese »Rechtsansicht« in den Medien auf Verständnis. Der Verfasser selbst hat in zahlreichen Interviews mit Journalisten erlebt, dass diese immer wieder größte Schwierigkeiten hatten, diese Rechtsprechung nachzuvollziehen. Da sie nicht gewohnt waren, in juristischen Denkkategorien zu arbeiten und da ihnen gleichzeitig nicht verborgen blieb, dass in der Öffentlichkeit nahezu ohne Ausnahme diese Rechtsprechung ebenfalls auf Unverständnis stieß, beeindruckten sie auch nicht die ständigen Wiederholungen von der angeblich »gefestigten Rechtsprechung«. Auch wenn dieses nie offizielles Thema in der Berichterstattung war: Die mangelnde Überzeugungskraft dieser Rechtsprechung verblasste vor allem vor dem Hintergrund des konkreten Gesichts, nämlich der Person von Emmely. Es ist dies eine alte Erfahrung aus Solidaritätskampagnen mit Betroffenen. Der Verfasser kann dies angesichts der Erfahrungen aus der Kampagne für die Seemannsfamilie Alviola in den Jahren 1982 bis 1984 in Hamburg bestätigen: In dem Moment, wo sich jemand ganz konkret und nicht abstrakt als Mensch, als Person und als Gesicht der Öffentlichkeit stellt, wird es für eine inhumane Justiz und Verwaltung extrem schwierig, noch einen Konsens in der Öffentlichkeit zu finden. Das war im Falle der Seemannsfrau Susan Alviola besonders deshalb überraschend, weil die massive Solidarität in der Öffentlichkeit zu einem Zeitpunkt erfolgte, wo Ausländerfeindlichkeit auch im Westen Deutschlands noch erheblich verbreitet war. Doch die Möglichkeit, sich in das Schicksal eines konkreten Menschen hineinzuversetzen und damit zu einer Identifikation mit dem Anliegen dieses Menschen zu kommen, beeinträchtigt massiv den erwünschten gesellschaftlichen Konsens und die Legitimität einer repressiven Politik.[4] Hinzu kommt, dass nicht nur der aufrechte Gang von Emmely die Menschen beeindruckte und zu einer Solidarisierung beitrug, sondern dass die zeitgleiche Berichterstattung und Kenntnis über das unmoralische und zum Teil kriminelle Verhalten vieler Manager und Unternehmer die Solidarität geradezu provozieren musste. Dabei ging es der Öffentlichkeit nicht um eine »Bagatellisierung« oder Rechtfertigung von Straftaten, sondern um den Unterschied zwischen einer Fehlbuchung von einem Euro und der millionenfachen Abfindung von Managern, die das Schicksal von Tausenden von Menschen auf dem Gewissen hatten und haben.

3.

Was in der Öffentlichkeit nicht diskutiert wurde, war der ideologische und politisch höchst reaktionäre Hintergrund der Rechtsprechung des BAG: Das erste Urteil des BAG zu diesem Komplex datiert aus dem Jahre 1955 [5] und trug die Züge der Konzeption des »Personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses«, die wiederum auf das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit der Nazis aus dem Jahre 1934 zurückgeht. Kommentiert worden war dieses Gesetz durch den späteren Präsidenten des BAG Hans-Carl Nipperdey. Als das erste Urteil zu diesem Komplex gesprochen wurde, war er Präsident des BAG. Nur wenn man das Arbeitsverhältnis nicht als »bloßes« Austauschverhältnis (Arbeit gegen Lohn) interpretiert, sondern ihm aufgrund einer solchen Gemeinschaftsideologie ein bestimmtes »Vertrauensverhältnis« unterstellt, kann man auch zu einer derartigen Überhöhung des vermeintlichen »Vertrauens« in Fällen wie diesen kommen. Die Gemeinschaftsideologie war die Übernahme beziehungsweise Fortführung einer partiell faschistischen Ideologie im Wege der Rechtsfortbildung durch das BAG. Zu einer solchen Rechtsfortbildung eines rein ideologischen Konstrukts ohne jede Rechtsgrundlage besaß das BAG niemals irgendeine Art von Legitimation. Das Personenrechtliche Gemeinschaftsverhältnis baute auf auf »Treue« und »Fürsorge«. Damit wies es dem Arbeitnehmer von vornherein quasi die Rolle eines »Mündels« zu, der in besonderer Weise das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen habe.

Kritisiert worden war diese Rechtsprechung – aber auch erst unter dem Eindruck der Kampagne – unter durchaus immanenten Gesichtspunkten: Vor allem Klueß kritisiert, dass die Rechtsprechung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße und dass sie in keiner Weise kompatibel sei mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu Beamten oder sogar Soldaten, welche nämlich in ähnlichen Fällen keineswegs mit einer Entlassung zu rechnen hätten. [6]

4.

Noch bevor es zur Entscheidung des BAG über die Frage der Zulassung der Revision im Fall Emmely kam, wurde die gewissermaßen »alte Garde« der »Arbeitsrechtswissenschaft« nervös. Man erkannte sehr wohl, dass die immer kritischer werdende Öffentlichkeit im Falle Emmely unter Umständen zu einer Kurskorrektur des BAG führen könnte. Also zog man die Notbremse. Es war der Rechtsprofessor Rieble von der Universität München, der eigens in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) einen ebenso kuriosen wie ärgerlichen Artikel schrieb und zwar unter der merkwürdigen Überschrift »Barbara Emme – Ein Lehrstück über den Umgang mit der Justiz«[7] Darin war zunächst bemerkenswert, dass – ein totales Novum in der deutschen Rechtswissenschaft – eine Klägerin mit vollem Namen genannt wurde.

Der denunziatorische Charakter dieser Namensnennung, ja die darin enthaltene Provokation war offensichtlich und beabsichtigt. Schlimmer war der Inhalt. Er war im wahrsten Sinne des Wortes eine Re-Aktion auf die Solidaritätskampagne und versuchte – vergeblich – das Rad der Geschichte noch einmal zu stoppen. Dabei ging der Herr Professor auch politisch in die Offensive. Die Bestätigung der Kündigung der Betroffenen sei keine Klassenjustiz, sondern ein Beleg dafür, »dass die Bürger ihre Justiz nicht verstehen!« Allerdings unterzog sich Herr Rieble nicht der Mühe, auch nur im Ansatz den Begriff der Klassenjustiz zu klären. Danach war und ist Klassenjustiz nichts anderes als sowohl der Form wie dem Inhalt nach eine Rechtsprechung, die im Ergebnis und objektiv im Interesse einer bestimmten (herrschenden) Klasse gesprochen wird und in deren Interesse funktioniert. [8] Wenn aber die Mehrzahl der Bürger (hier vor allem die arbeitende Bevölkerung) eine solche Justiz innerlich nicht akzeptiert, so ist dies ein geradezu beispielhafter Beleg für Klassenjustiz. Die These des Herrn Rieble widerlegt sich also bereits selbst. Dies wäre noch hinnehmbar, wenngleich es mit wissenschaftlicher Argumentation nichts mehr zu tun hat. Doch die Niveaulosigkeit des Beitrags des Herrn Professors offenbart sich in dem persönlichen Angriff auf die Betroffene. In strafrechtlich relevanter Weise greift er die Betroffene unmittelbar persönlich als Arbeitnehmerin an und nennt sie fast in jedem zweiten Satz mit ihrem bürgerlichen Namen, wobei er das in der Öffentlichkeit verwendete Pseudonym als »kampagnentaugliche Verzärtelung« denunziert und die Betroffene zusätzlich an den Pranger stellt. In grenzenlosem Zynismus erwartet er in seinem Beitrag nicht nur, dass sie keinen neuen Arbeitsplatz mehr finden werde, sondern rechtfertigt dieses sogar noch und unterstellt, ihr sei sicherlich schon »Kompensation ... anderweitig versprochen« worden, »etwa durch Beschäftigung bei ver.di«. Das sei »nur gerecht«, dann könne sie »zweckentsprechend aus dem Streikfonds entschädigt« werden. Dass die Betroffene weder einen Job in der Gewerkschaft erhalten hatte, noch naturgemäß aus einem Streikfonds entschädigt werden konnte, wusste der Herr Professor nur zu genau. Was aus seinen Worten sprach, war nichts anderes als schlichter Klassenhass. Dabei ging er soweit, dass ihm offensichtlich jegliches Maß fehlte. In einer juristischen Fachzeitschrift (!) bezeichnete er sie als »notorische Lügnerin«. So als wäre die Betroffene noch nicht genügend durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes bestraft, wurde sie jetzt für ihren aufrechten Gang im Kampf für ihren Arbeitsplatz (und natürlich auch gegen die Justiz) von einem deutschen Professor – quasi stellvertretend – bestraft. Dabei ließ es der Herr Professor nicht einfach bei abwertenden Äußerungen bewenden. Nein, er erklärte ausdrücklich, dass die Berliner Staatsanwaltschaft sich durchaus für den Fall interessieren würde, denn wer in einer von ihr betriebenen Kampagne die Berliner Gerichtsbarkeit massiv angreife und den Rechtsstaat (?) in Frage stelle, müsse mit einem erheblichen Interesse an der Verfolgung von Straftaten rechnen. Mit anderen Worten: Wer massiv öffentliche Justizkritik betreibe und dazu noch als einfache Arbeitnehmerin eigentlich gar nicht »berechtigt« sei, sei zu Recht der Strafverfolgung ausgesetzt. Jene, die sich mit der Betroffenen solidarisierten, wie zum Beispiel der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Thierse, bezeichnete er als »empörungswillige Sozialromantiker«, die mit ihrer Kritik wohl die »Volksgerichte« (einen solchen Begriff gab es überhaupt nicht!) in der »guten alten DDR« reaktivieren wollten.

Es ist bedauerlich, dass – soweit bekannt – diese Eskapaden eines deutschen Professors noch nicht einmal ein studentisches Echo gefunden haben, etwa in Form von entsprechenden Vorlesungsbesuchen. Es ist auch nicht bekannt, dass sich Herr Rieble zwischenzeitlich für seine Ausfälle entschuldigt hat. Ebenso hat sich die Neue Juristische Wochenschrift für den Abdruck eines solchen Pamphlets nicht entschuldigt.

5.

Den Richtern am BAG muss man nun allerdings zugestehen, dass sie von einem anderen intellektuellen, politischen und ideologischen Kaliber sind als Herr Rieble. Den höchsten deutschen Arbeitsrichtern konnte es schon aus eigenem Interesse nicht darum gehen, eine Publikumsbeschimpfung im Stile übelster Klassenjustiz zu betreiben, nur weil die Öffentlichkeit die Justiz einfach nicht mehr verstehe. Im Gegenteil: Den Richtern musste es darauf ankommen, zum einen auf die Kampagne in der Weise zu reagieren, dass sie eine gewisse Kurskorrektur der eigenen Rechtsprechung vornahmen, um auf der anderen Seite aber auch bekräftigen zu können, dass alles eine Frage des »Einzelfalles« sei und daher in anderen Fällen auch durchaus anders entschieden werden könne. Zu dieser Einschätzung konnte man durchaus auch schon anlässlich der Zulassung der Revision vor einem Jahr gelangen. Damals wie heute gilt:

»Selbstverständlich vermitteln sich Öffentlichkeit und politischer Druck auf der Ebene der Justiz nicht derart direkt und unmittelbar wie etwa im Bereich der Gesetzgebung oder der Exekutive. (...) Und dennoch: Dass hier so reagiert wurde, ist und bleibt bemerkenswert. Ein rein juristischer Diskurs hätte buchstäblich nichts bewirkt. Es gab aber keinen rein juristischen Diskurs, sondern es gab eine öffentliche Kampagne, die ein massives öffentliches Echo hervorrief und zwar im Wesentlichen ein für die Arbeitnehmer positives Echo. Die Öffentlichkeit – auch die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit – sah sich einfach nicht in der Lage, gedanklich, moralisch, ideologisch und auch rechtlich nachzuvollziehen, weshalb in solchen Fällen ein Arbeitsverhältnis einfach aufgelöst werden kann. Dieser drohende Legitimationsverlust einer jahrzehntelangen Rechtsprechung musste auf all diejenigen, die Interesse an dieser Rechtsprechung hatten, bedrohlich wirken. Deshalb war es kein Wunder, dass einige besonders radikale Vertreter traditioneller Klassenjustiz sogar zu einer Art Gegenkampagne übergingen... Doch es war klar, dass es sich hier um ein radikales Rückzugsgefecht handelte, das in der herrschenden Justiz wenig konsensfähig war. Auf derart reaktionäre Weise mithilfe einer völlig überholten Sozialarroganz verlorenes öffentliches Terrain wieder zurückzugewinnen, konnte kein erfolgreicher Versuch zur Legitimierung einer nicht mehr konsensfähigen Rechtsprechung sein. Trotz Krise und Arbeitsplatzangst: Mit einer Basta-Politik lässt sich der auch für die Justiz erforderliche öffentliche Konsens nicht mehr herstellen. Die Kampagne bewirkte also gerade weil sie sich auf klassische juristische Argumente nicht einließ, sondern von einem allgemeinen Gerechtigkeitsstandpunkt ausging, dass die Rechtsprechung selbst anfängt, ihre eigenen Positionen zu überdenken.« [9]

Mit seinem jetzigen Urteil hat das BAG diese Einschätzung bestätigt. Dabei hat es das Kunststück einer Kurskorrektur fertiggebracht, mit der Bagatellkündigungen keineswegs generell als ungerechtfertigt zu bezeichnen seien, wohl aber hat es auf den Einzelfall abgestellt. Danach ist es also durchaus möglich, dass etwa eine Verkäuferin, der das gleiche Missgeschick passiert wie Emmely, die aber im Gegensatz zu Emmely vielleicht nur ein oder zwei Jahre bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt war, mit Erfolg gekündigt werden kann. Der Kampf gegen sogenannte Bagatellkündigungen und gegen die Ideologisierung des Arbeitsrechts ist damit keineswegs beendet. Allerdings ist der erzielte Erfolg ein enormer Sieg gegen die angebliche »Unanfechtbarkeit« sogenannter gefestigter Rechtsprechungen.

Hierfür gibt es auch ein – leider weithin vergessenes – historisches Beispiel, an dem die Gewerkschaften seinerzeit mitgewirkt hatten, nämlich die Kampagne vor allem der IG Metall und der IG Druck gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Aussperrung. Ende der 70er-Jahre griff die IG Metall in einem eigenen Fachkongress diese Rechtsprechung massiv juristisch an und versuchte, durch eine Reihe von Massenklagen die bisherige Rechtsprechung in Frage zu stellen. Vor allem im Bereich der Instanzgerichte war sie damit erfolgreich. Seitdem war die Rechtsprechung des BAG im Bereich des Arbeitskampfes wiederholt erheblichen Veränderungen unterworfen. Auch dieses Beispiel unterstreicht die These, die der Verfasser in einem Grundsatzbeitrag in dem von Heinrich Hannover herausgegebenen und unter anderem von Wolfgang Abendroth bestückten Band »Die Linke« im Jahre 1980 vertrat: »Notwendig ist die Herstellung einer politischen und wissenschaftlich begründeten Einheit von demokratischer Rechtspolitik und Rechtsstrategie im prozessualen und außerprozessualen Bereich.« [10] Eine solche Einheit setzt eine politisch verstandene Prozessstrategie ebenso voraus wie eine an demokratischen Grundrechten orientierte Rechtspolitik. Dass der zentrale verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jahrzehntelang im Bereich des Individualarbeitsrechts nicht zur Geltung kam, ist nicht zuletzt auch ein Versagen gewerkschaftlicher Rechtsstrategien. Zwischen der Forderung nach Gesetzesnovellierung und der Durchsetzung von Rechten im Rahmen des geltenden Rechts besteht nämlich nur theoretisch ein Widerspruch. Beides ist in einem politischen Gesamtzusammenhang zu sehen, und beides bedingt sich. Es macht keinen Sinn, im Bundestag alternative Gesetzesentwürfe einzubringen, wenn zur gleichen Zeit immer mehr Menschen nicht den Mut haben, ihre Rechte auch im Einzelfall wahrzunehmen. Es wird keine Solidarität im Großen stattfinden, wenn bereits im Kleinen Einzelne aus Angst um den Arbeitsplatz oder aus (auch von der Justiz geschürter!) Angst vor einem möglicherweise verlorenen Prozess auf eine Rechtswahrnehmung verzichten. Es ist dies das große, auch individuelle Verdienst eines Menschen wie Emmely, ein Beispiel gegeben zu haben und den aufrechten Gang praktiziert zu haben, und es ist das Verdienst all ihrer Begleiter, die sich nicht vom eingeschlagenen Kurs haben abbringen lassen. Die vermeintlich »unmöglichen Rechtsansichten« haben durchaus ihren Stellenwert im Rahmen einer selbstsicheren Klassenjustiz. Diese Selbstsicherheit gilt es zu durchbrechen. Um es mit Ernst Bloch zu formulieren: »Subjektives Vermögen in Gang setzen, um objektiv-real Mögliches zu verwirklichen.«[11] Oder noch einfacher: Das Mögliche muss zum Wirklichen drängen. Auch und gerade im Recht. Und die Kampagne »Emmely« hat bewiesen: Es geht!

* Rolf Geffken, Rechtsanwalt, Hamburg / Cadenberge
(Information und Kontakt: www.DrGeffken.de externer Link)

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/10. express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link, www.labournet.de/express externer Link


1) So die sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei »Die Linke« Jutta Krellmann in einer Pressemitteilung vom 10. Juni 2010 (»Solidarität mit Emmely hat sich gelohnt«), die im Namen der Partei »Die Linke« ausdrücklich die bisherige Rechtslage bei Verdachtskündigungen kritisiert und zudem Bagatellkündigungen als zulässig ansehen will, wenn eine Abmahnung vorausgegangen sei.

2) Vgl. u.a. BAG vom 04. Juni 1964 – 2 AZR 310/63; vgl. auch: R. Geffken: »Verdachtskündigung – Eine juristische Kritik«, in: BIG-Business Crime, Frankfurt a.M., Nr. 2/2009, S. 13f.

3) Dies belegt eindrucksvoll der Film des Emmely-Komitees, der noch vor der ersten BAG-Entscheidung fertiggestellt wurde und der darüber hinaus auch den Zusammenhang zwischen dem Arbeitskampf im Einzelhandel und der Kündigung darstellt.

4) Komitee Susan Alviola (Hrsg.): »Die Angst vor dem aufrechten Gang einer Frau – Der Kampf der Familie Alviola«, Hamburg 1985

5) BAG vom 12. Mai 1955 – 2 AZR 77/53, in: BAGE 4 Band 2, S. 1

6) Achim Klueß: »Geringwertige Vermögensdelikte – Keine zwangsläufige Entlassung«, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2009, S. 337ff.

7) Volker Rieble: »Barbara Emme – Ein Lehrstück über den Umgang mit der Justiz«, in: NJW 2009, S. 2101-2105; hierzu auch: R. Geffken: »Ohne Tünche«, in: Junge Welt vom 28. Juli 2009, S. 3

8) Vgl. R. Geffken: »Klassenjustiz«, Frankfurt 1972

9) R. Geffken: »Die Dialektik von Recht und Politik – Erste Erfolge der Emmely-Kampagne«, vgl. express, Nr. 7-8/2009 und www.drgeffken.de externer Link

10) R. Geffken: »Die Linke und das Recht«, in: »Die Linke«, hrsg. von H. Gremliza / H. Hannover, Hamburg 1980, S. 97ff., hier S. 105

11) Gesamtausgabe der Werke Ernst Bloch, Frankfurt 1959ff, Band 15, S. 255


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