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Die Call Center-Rezession

 

Nachrichten wie die folgende häufen sich:

"Der Onlinebroker Comdirect führt für den grössten Teil der Mitarbeiter vom 1. Oktober an Kurzarbeit ein. Betroffen sind 765 Beschäftigte in den Callcentern und der Verwaltung in Kiel und Quickborn, bestätigte gestern ein Sprecher des Unternehmens." (Günter Heismann, "Krise der Onlinebroker zwingt Comdirect zur Kurzarbeit", FTD, 31.08.2001, S. 1)

Was ist geworden aus der "Job-Maschine Call Center"? Ganz einfach. Sie ist von vornherein sowohl eine Jobmaschine als auch eine Job-los-Maschine gewesen. Dabei ist gerade der Begriff, "Job" zutreffend – denn bei durchschnittlich 1,5 Jahren Verweildauer eines Agent im Call Center kann von einer "Arbeitsplatzmaschine" nicht die Rede sein.

Die hohe Fluktuation im Call Center-Bereich hat zwei Aspekte, die sich gegenseitig begünstigen: zum einen die offenbar geringe, dauerhafte Attraktivität hochstressbelasteter und zugleich monotoner Telefonie in tayloristischen Arbeitsorganisationen, die den Agents kaum Gestaltungs- und Entscheidungs- und Entwicklungsspielräume lassen, zum anderen die grosse Abhängigkeit der Zahl von Call Center-Arbeitsplätzen von den Konjukturen der Auftraggeber und Betreiber. Weil die Betreiber um letzteres wissen, gestalten sie die Arbeit prophylaktisch nach dem Prinzip der McDonalds-Kantinen: richte den Ort so ein, das keiner zu lange bleibt. Weil die Agenten ebenfalls darum wissen, ist die Fluktuation auch in den Call Centern hoch, die aufgrund einer branchen- oder unternehmensbezogenen Baisse händeringend qualifiziertes Personal suchen.

Call Center-Arbeitsplätze sind gerade deswegen immer bedroht, weil die Call Center-Branche eben keine Branche ist, sondern ein äusserst heterogenes Konglomerat, das an allen nur erdenkbaren Branchen andockt und damit den Wirtschaftszyklen, den Auf- und Abschwüngen aller Branchen ausgeliefert ist. Im Gegensatz zu einer Branche, die bestimmte Produktlinien abbildet, oder aber einem Dienstleistungssektor, der ein klar von anderen Dienstleistungen abgrenzbares Profil hast (etwa Entsorgung), besteht das Call Center-Angebot aus einer alle diese voneinander abgrenzbaren Branchen und Dienstleistungssektoren berührenden Aktivität allgemeiner Art, die so komplex und allgemein ist, das ihre konkrete Definition als Produkt von Call Center zu Call Center, von Auftrag zu Auftrag, ja sogar von Anruf zu Anruf variiert, schon weil sie nur in Kooperation mit unendlich verschiedenen Kunden erbracht werden kann: aus Kommunikation, aus Dialog.

Aus genau demselben Grund haben sie immer Konjunktur.

Call Center sind keine Branche, sondern ein Appendix aller Branchen. Wie eine permutierende Flechte, die ihre Schattierung und Farbe ebenso wechselt, wie sie einzelne Fäden ausbildet und an anderen Stellen abbaut, legt sich das Call Center-Konglomerat als Netz über alle Branchen. Dementsprechend ist kaum vorhersehbar, wie die quantitative Entwicklung des blauen Call Center-Jobwunders sich zukünftig vollzieht.

Es wird nach meinem Dafürhalten davon gekennzeichnet sein, dass das globale Phänomen der Call Center entsprechend konjuntureller Schwankungen in unterschiedlichen, geographischen Regionen und unterschiedlichen Branchen immer zugleich Arbeitsplätze entstehen lässt und anderswo Arbeitsplätze vernichtet. Deswegen herrscht immer zugleich Personalbedarf und Rationalisierungsdruck. Boomt eine Branche oder ein Betreib, boomt auch ihr oder sein Call Center. Ereignet sich eine Flaute, erlebt auch das Call Center Flauten. Call Center haben insgesamt keine eigene Konjunktur – dies spüren vor allem freie Betreiber, die nun dem selben, harten Verdrängungswettbewerb ausgesetzt sind, der zuvor äusserst geräuschvoll (da es sich um börsennotierte Unternehmen handelte) die "New Economy" ereilt hat.

Erst gab es einen Gründerboom, dann kamen konjunturelle Einbrüche in typischen Branchen, die Call Center-Aufträge zu vergeben haben, dann erwies sich der Markt für Freie als übersättigt, auf Outsourcing-Boom folgte ein Insourcing-Boom, und grosse Betreiber drücken im Kampf um Kunden die Preise unter die Rentabilitätsgrenzen und graben so kleineren Betreibern das Wasser ab.

Was bedeutet dies für Erwerbstätige und für arbeitnehmerorientierte Politik?

Call Center-Agenten sind potentielle Nomaden. Da in kaum vorhersehbarer Weise das Call Center-Geflecht "oszilliert" und den konjunkturellen Schwankungen sämtlicher Branchen in unterschiedlichsten geographischen und kulturellen Regionen ausgesetzt sind, ist die Forderung nach zeitlicher Flexibilität, die an die Erwerbstätigen vom konkreten Betreiber gestellt wird noch verschärft durch eine sich aus konjunkturellen Fluktuationen ableitenden geographischen und thematischen Flexibilität. Dem Agent bleibt praktisch nur, auf seinen Reisen zwischen Engagement und Engagement (lebenslang) zu lernen. Einen festen Wohnsitz sollte er tunlichst vergessen. In keinem Betrieb sollte er heimisch werden und soziale Bindungen aufbauen. Der Agent lebt wie ein Söldner: nie wissend, wann der Einsatzort wechselt und wie weit er von der Heimatfront entfernt ist.

Dementsprechend sind Bestrebungen zur sozial angemessenen globalen Angleichung der Arbeitsbedingungen zwar zu begrüssen. Call Center "docken" zwar an den unterschiedlichsten Organisationen, Branchen und Regionen an, doch bezüglich der Bedingungen in der Arbeit herrscht Homogenität. Das globale Phänomen Call Center eignet sich also vorzüglich etwa für eine globale Tarifpolitik oder globale Arbeitsschutzkriterien. Doch die Belastungen der Agents bestehen in Zukunft nicht nur in der Arbeit, sondern in der Perspektive des permanenten Nomadentums und des Büffelns neuer Themen, die aber immer gleich öde sind und nicht auf das vorherige Thema aufbauen. Das Leben des CCA der Zukunft besteht in einer dauerhaft gebrochenen Erwerbs- und Bildungsbiographie, einem dauerhaften Zwischenlagern in Warteschleifen, die keinerlei biographische Kontinuität zulässt.

Dementsprechend wäre Hauptziel einer Interessenvertretung für Call Center-Beschäftigte Entwicklungsperspektiven aus dem Call Center-Bereich hinaus zu forcieren. Bei der überwiegenden Anzahl der Call Center-Arbeitsplätze handelt es sich um Arbeitsplätze in Inhouse Call Centern, die zu einer Unternehmensmutter gehören. Arbeitsverträge von Agents und Branchentarifvereinbarungen sollten Klauseln enthalten, die den Anspruch des Erwerbstätigen zementieren, bei Rationalisierungsszenarien im Call Center-Bereich in anderen Bereichen des Mutterkonzerns eingesetzt zu werden – das heißt vor allem eine vertraglich festgelegte Verpflichtung der Unternehmensmutter, die Agents aktiv in bezug auf andere Tätigkeitsgebiete weiterzubilden, die für das Unternehmen (und für andere) von strategischer Bedeutung sind. Schließlich sind bei Call Center-Agents etliche Schlüsselqualifikationen schon vorhanden, die sie für weniger dröge und perspektivlose Aufgaben prädestinieren.

Auch für gewerkschaftliche Weiterbildungs- und Qualifizierungspolitik und überhaupt Call Center-Politik sollte dies bedeuten, das Richtige zu tun ohne das wichtige zu lassen: statt nur auf vergebliche Bemühungen zu setzen, die Arbeit in Call Centern humaner zu gestalten, sollte man aus den oben genannten strukturellen Gegebenheiten die Konsequenzen ziehen, Erwerbstätigen Mittel und Wege aufzuzeigen, aus der Call Center-Diaspora herauszufinden.

Hannes Oberlindober
August 2001


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