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›Modern Times‹ und Maulwurfsarbeit. Ayhan Ekinci über Organizing und Widerstände bei Renault, Bosch, Ford u.a. im türkischen Bursa

Artikel von Ayhan Ekinci*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 5/2016

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitNicht nur um klassische bürgerliche Freiheitsrechte, auch um Arbeits- und Gewerkschaftsrechte ist es in der Türkei schlecht bestellt. Der Entzug und die Einschränkung basaler Rechte wie Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen, begleitet von einer wachsenden politischen Verfolgung haben die Organisierung und Vertretung von Beschäftigten zu einer für Gewerkschaften und ArbeiterInnen riskanten Angelegenheit gemacht. Die Folge: Die türkische Wirtschaft boomt, ausländische Investoren profitieren von extrem niedrigen Löhnen und prekärer Arbeit. Umso überraschender die Aufstände, die in Bursa, einem Zentrum der Automobilindustrie, letztes Jahr ihren Ausgang nahmen (s. Hakan Kocak in express, Nr. 6-7/2015). Ayhan Ekinci berichtet, wie es nach den massiven Protesten weiter ging.

Die Arbeitsverhältnisse bei Renault im türkischen Bursa sind unmenschlich: Die hohen Bandgeschwindigkeiten lassen keine Pausen zu. Bei uns binden sich Arbeiter Plastikflaschen an ihre Gürtel, in die sie pinkeln. Um zu trinken, braucht ein Arbeiter drei Arbeitsschritte. In einer winzigen erarbeiteten Pause schraubt er die Flasche auf. Dann weiter im Takt arbeiten. Dann trinken. Dann wieder im Takt arbeiten. Dann Flasche zuschrauben, und weiter geht es – »Modern Times«! 80 Prozent der MetallarbeiterInnen haben Wirbelsäulenprobleme und Krampfadern. 80 Prozent der MetallarbeiterInnen sind unter 35 Jahre alt. Einen Arbeiter über 40 sieht man kaum. Der Frauenanteil liegt bei zehn Prozent, nur im Textilbereich ist er ein bisschen höher. Trotz der Atomisierung der ArbeiterInnen haben sie in den Aufständen im letzten Jahr aber sehr schnell zueinandergefunden. Dabei geht es eigentlich schon längst nicht mehr ums Geld, sondern um das Ende dieser unmenschlichen Ausbeutung.

In Bursa kommt es schon seit den 80er Jahren immer wieder zu Aufständen und Widerstandsaktionen. Renault ist nur ein Beispiel. Die dort ansässige Metall- und Autobranche ist immer noch die zentrale Achse der Großindustrie. Auch deswegen werden die MetallarbeiterInnen in der Türkei seit mehr als dreißig Jahren durch die – gemeinsam von Staat und Unternehmern – installierten gelben Gewerkschaften entmündigt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um inländisches oder ausländisches Kapital handelt. Wegen der gelben Gewerkschaften können Unternehmer und Staat die Rechte heute sogar um ein Vielfaches mehr beschneiden, als es die Generäle nach dem Militärputsch 1980 gewagt haben.

   Gelbe Repression

Zur Vorgeschichte der aktuellen Kämpfe gehören Auseinandersetzungen in anderen Betrieben der Region. 2010 haben wir als Vereinigte MetallarbeiterInnen Gewerkschaft (Birlesik Metall-Is) mit einigen Metallunternehmern eine sogenannte Gruppentarifvereinbarung getroffen. Innerhalb der Metallindustrie gibt es drei Gewerkschaften: Türk Metall Sen, die Mitglied von Türk-Is ist, dann unsere Gewerkschaft und schließlich Celik-Is, Teil der religiösen Konföderation Hac-Is. Wir haben die Vereinbarung der gelben Türk Metall Sen nicht anerkannt und zum Streik aufgerufen. Landesweit schlossen sich dem etwa 40.000 ArbeiterInnen an. Einige Unternehmer sahen sich daraufhin gezwungen, mit uns in Verhandlungen einzutreten. Wir haben dadurch für unsere Mitglieder einen höheren Lohnabschluss erreicht als Türk Metall Sen, die für ihre 100.000 Mitglieder nur 5,35 Prozent Lohnerhöhung rausgeholt hat. Danach leugneten die Unternehmer, dass sie mit uns diesen Gruppentarifvertrag abgeschlossen hatten. Die Unternehmervereinigung (MES) hat die Mitglieder ihrer Vereinigung, die mit uns diesen Vertrag unterzeichnet haben, aber dafür gerügt, wodurch sie selbst die Existenz dieses Tarifvertrages eingestanden haben. So ist das dann auch in allen Medien gebracht worden, und viele ArbeiterInnen haben mitbekommen, dass wir bessere Lohnerhöhungen erkämpft haben als die beiden anderen Gewerkschaften. Eine Folge davon war, dass 2012 auch die Beschäftigten von Bosch zunehmend unserer Gewerkschaft beigetreten sind – bis heute insgesamt 4.000. Dadurch haben wir auch dort die Tariffähigkeit erlangt.

   Bosch-Ethik: lieber Geld verdienen als Vertrauen

Bosch ist eine deutsche Firma. Im Betrieb hängt überall folgendes Werbeplakat: »Lieber Geld verlieren als das Vertrauen der Menschen!« Was sie tatsächlich getan haben, entspricht nicht dieser Werbung, sondern eher hitleristischen Methoden. Sie haben die einzelnen ArbeiterInnen in Gesprächszimmer geführt, wo sie gezwungen wurden zu erklären, dass sie aus unserer Gewerkschaft aus- und der gelben wieder beitreten werden, ansonsten würden sie entlassen. Selbst langjährige und verdienstvolle MitarbeiterInnen wurden dieser Prozedur ausgesetzt. Für viele von ihnen bedeutete das extreme psychische Belastungen. Trotzdem war die Hälfte der Belegschaft, d.h. rund 2.500 Beschäftigte, weiterhin auf unserer Seite. Aber dann wechselten noch 70 Mitglieder aufgrund der Repression wieder zu den Gelben. Der Staat unterstützte Bosch und die gelbe Gewerkschaft mit allen nur erdenklichen Mitteln. Auf diese Weise wurde sie wieder tariffähig, weil sie nun wieder mehr als 50 Prozent der Belegschaft vertreten konnte. Wir haben längere Zeit dagegen prozessiert.

All jene ArbeiterInnen, die nicht Mitglieder der tariffähigen Gewerkschaft sind, sind von den Lohnerhöhungen ausgeschlossen. Sie erhalten sie nur, wenn sie eine Solidaritätserklärung für diese Gewerkschaft abgeben. Wir waren die am besten organisierte Gewerkschaft bei Bosch und haben daher gegen diese ungerechte Bestimmung landesweit mobilisiert. Durch diese Proteste waren wir – wie bereits 2010 – in der Lage, für unsere Mitglieder auch 2014 wieder einen Tarifvertrag abzuschließen. Diesmal konnten wir eine Lohnerhöhung von 9,78 Prozent rausholen. Sie galt für ca. 100.000 ArbeiterInnen, nicht jedoch für die Bosch-Beschäftigten, da sie sich ja in einem Rechtsstreit befanden und dadurch von der Erhöhung ausgenommen waren. Daraufhin traten die Bosch-ArbeiterInnen autonom in Verhandlungen mit ihren Bossen und konnten auch für sich den Abschluss des Kollektivvertrages erreichen. Als Folge dieser Entwicklung begannen auch die Mitglieder von Türk-Is im April 2015 zu rebellieren.

   Verbreitung der Kämpfe im Frühjahr 2015

Im Frühjahr 2015 gingen die Mitglieder der Türk-Is auf die Barrikaden – zwischen 40.000 und 50.000 ArbeiterInnen von TOFAS, Türk-Traktor, FORD, Renault u.a. –, um die Allgemeingültigkeit des Kollektivvertrages, den unsere Gewerkschaft bei Bosch abgeschlossen hatte, durchzusetzen. In diesem Zeitraum standen die Betriebe zwei Wochen lang still, aber die Unternehmer haben die Forderungen der ArbeiterInnen nicht übernommen. Wir konnten mit diesen kämpfenden ArbeiterInnen anfangs nicht wirklich gut kooperieren, weil sie gewerkschaftlich unerfahren waren. Anwälte, Politiker und Kandidaten zur damals bevorstehenden Parlamentswahl im Juni 2015 versuchten, die aufständischen ArbeiterInnen wieder mit ihren UnternehmerInnen zu versöhnen, und schlossen zu diesem Zwecke Verträge ab, um die ArbeiterInnen wieder zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. In vielen Betrieben funktionierte dies, bei Renault jedoch blieben die ArbeiterInnen standhaft. In den Belegschaften, die die Arbeit wieder aufgenommen hatten, waren wir fast gar nicht verankert. Hauptgrund dafür ist die große Repression. Wenn bekannt wird, dass jemand Mitglied unserer Gewerkschaft ist, droht umgehend die Entlassung. Bei Renault hatten wir zu diesem Zeitpunkt aber 1.500 Mitglieder.

   14 Tage Ausstand

Die ArbeiterInnen haben diesen Aufstand selbst organisiert. Die gelbe Gewerkschaft war natürlich gegen diese Bewegung. Nach dem 14-tägigen Widerstand gelang es den aus den Reihen der Renault-ArbeiterInnen gewählten VertreterInnen, mit dem Management einen Vertrag abzuschließen: 1) Kein Arbeiter, keine Arbeiterin wird entlassen. 2) Bessere Arbeitsbedingungen werden angekündigt. 3) Auf demokratischer Grundlage können BelegschaftsvertreterInnen gewählt werden. 4) Betriebsdemokratie – Schluss mit Zwang und Einschüchterung. 5) Weg mit der gelben Gewerkschaft.

Die Renault-ArbeiterInnen erlebten während dieses Aufstandes, dass sie ohne Organisierung ihre Errungenschaften nicht bewahren können. Sie erfuhren an sich selbst die volle Repression des Systems. Der jeweilige Unternehmer steht nicht allein. Andere Unternehmer, Regierung, Polizei und Staat unterstützen ihn mit allen Mitteln. Wenn man genau berichten würde über die 14 Tage des Arbeiteraufstandes, würde die Geschichte ein dickes Buch füllen. Nationalistisch gesinnte Renault-ArbeiterInnen mussten plötzlich unerwartet gegen »ihre« Polizei, gegen »ihre« Behörden ankämpfen. Die ArbeiterInnen besetzten den Betrieb und ließen die Sicherheitskräfte nicht rein. Sie mussten sich gegen die Polizei und den Renault-Werkschutz verteidigen. Das Unternehmen hat das Wasser im Werk sperren lassen, ebenso die Toilettenanlagen und vieles andere mehr. Nur durch die Unterstützung ihrer Familien konnten die ArbeiterInnen die Werksbesetzung aufrechterhalten.

Schließlich nahmen sie mit der religiösen Gewerkschaft Kontakt auf, erkannten jedoch schnell, dass es keinen großen Unterschied zwischen dieser und der gelben Gewerkschaft gibt. Sie sind dann auch in den Dialog mit uns eingetreten, was sie offensichtlich Überwindung gekostet hat, weil wir einen schlechten Ruf haben – regierungsfeindlich und radikal. Wir haben ein Komitee gegründet, um mit den Renault-ArbeiterInnen in Kontakt treten zu können. Sie haben ihre eigenen VertreterInnen dorthin entsandt.

Die Belegschaft bei Renault besteht aus rund 5.000 ArbeiterInnen und 6.000 Angestellten. Von  den ArbeiterInnen waren im Juli 2015 ca. 4.000 Mitglied bei uns. Die »Gelben« hatten nunmehr 200-250 Mitglieder. Der Rest war und ist unorganisiert, sympathisiert aber mit uns. Nach dem Beginn der Zusammenarbeit mit den Renault-ArbeiterInnen haben wir Kontakt mit dem Management aufgenommen. Es gab drei Gesprächsrunden, die eher dem Kennenlernen dienten. Bei der vierten Gesprächsrunde hat der Renault-Vorstand gesagt, dass er legitimierte Ansprechpartner im Betrieb haben will. Es gibt zwar zwölf freigestellte gelbe Gewerkschafter, die aber keinerlei Einfluss mehr auf die Belegschaft haben. Unsere Antwort war, dass wir der Belegschaft nicht irgendwelche Aufträge erteilen, sondern es demokratischer Wahlen im Betrieb bedarf. Das ist genau unser Vorgehen: Durch demokratische Wahlen soll eine Art Betriebsrat entstehen. Über die Notwendigkeit von Wahlen zur Betriebsratsgründung kam es zu einer Einigung. Andererseits mussten die zwölf gelben Gewerkschafter weiter freigestellt bleiben. Am 29. Februar 2016 sollten die Betriebsratswahlen abgehalten werden. Als Wahlbeobachter wurden fünf Leute vom Renault-Management, fünf von unserer Gewerkschaft, ein Notar und ein internationaler Gewerkschaftsvertreter zugelassen.

Nach dieser Vereinbarung gab es auf einer Versammlung von Renault-ArbeiterInnen heftige Diskussionen, weil wir die Linie verteidigten, dass alle Belegschaftsmitglieder wahlberechtigt sein sollten, auch die Angestellten und die Unorganisierten. Anfangs waren die ArbeiterInnen vehement dagegen. Nach langer Diskussion haben wir sie umgestimmt.

Außerdem forderten die ArbeiterInnen das Recht, Überstunden zu verweigern. In der Türkei zwingen viele Betriebe die ArbeiterInnen durch niedrige Löhne, Überstunden zu leisten, weil sonst das Einkommen nicht für eine Familie ausreicht. Die ArbeiterInnen haben beschlossen, zweimal in der Woche bei Schichtwechsel gegen die niedrigen Löhne am Werksgelände zu demonstrieren. Die letzte dieser Kundgebungen war am 28. Februar 2016 auf dem Helikopterplatz des Werks. Am gleichen Tag hat der Renault-Vorstand die Schicht von 0 bis 8 Uhr morgens mit Verweis auf technische Probleme aufgehoben. Um 10 Uhr morgens gab es Gerüchte, dass es Kündigungen geben würde. Tatsächlich wurden zehn ArbeiterInnen entlassen,  am nächsten Tag weitere zehn. Die ArbeiterInnen haben daraufhin wieder für einige Tage gestreikt, und wir haben versucht, vor dem Betrieb eine Kundgebung und eine Pressekonferenz abzuhalten. Doch die Fabrik war vollkommen von Polizei abgeriegelt. Wir haben die Straße vor dem Betrieb besetzt und sind von der Polizei angegriffen, mit Tränengas beschossen und schließlich vertrieben worden. Ich selbst wurde mit 24 anderen KollegInnen verhaftet und am nächsten Tag vor Gericht gestellt.

Das ist eine weitere Ebene des Konfliktes. Unsere Vereinbarung mit dem Renault-Management hat den Herrschenden nicht gepasst. Das Arbeits-, und das Handelsministerium sowie der Staatspräsident Erdogan haben interveniert. Der Renault-Vorstand wurde nach Ankara zitiert und genötigt, das Abkommen mit den ArbeiterInnen aufzukündigen. Wenn die Wahl bei Renault stattfinden sollte, dann könnte dies einen industriellen Flächenbrand in der Türkei auslösen. Dies sollte mit allen Mitteln verhindert werden.

Unsere Funktionäre in Ankara berichteten – und es stand auch in allen Zeitungen –, dass der Minister im Gespräch mit Renault darauf bestand, dass die gelbe Gewerkschaft weiterhin die Vertretung der Renault-Belegschaft stellt. Schließlich wurde der Konflikt an Erdogan übertragen. Der Präsident hat am 8. März, dem internationalen Frauentag, die gelbe Metallarbeitergewerkschaft geehrt und eine Rede vor ihr gehalten. Er hat unsere Gewerkschaft DISK darin zum Feindbild erklärt. Seit dieser Intervention gibt es kein normales gewerkschaftliches Arbeiten mehr. Wie nach dem Militärputsch von 1980 befürchten wir, dass unabhängige Gewerkschaftsaktivitäten und unsere Organisierungsarbeit vollends unmöglich werden.

   Renault: Eine Belegschaft ›bildet‹ sich

Bursa ist für die Türkei das, was Detroit einmal für die Autoproduktion in den USA war. Die wichtigsten Unternehmen des Großkapitals sind hier konzentriert, aber auch viele Zulieferfirmen. Durch den Militärputsch und den 30-jährigen Niedergang der Gewerkschaftsarbeit ist die Arbeiterschaft gewerkschaftlich unerfahren. Gewerkschafter sein bedeutet in den Augen der türkischen ArbeiterInnen, mit schwarzem Anzug, Krawatte und Sonnenbrille, also wie ein Mafiosi durch die Gegend zu laufen.

Wir haben seit Juli 2015 bei Renault 2.500 ArbeiterInnen geschult. Das half ihnen beim diesjährigen Aufstand. Unsere Bildungsarbeit hat die Unternehmer, aber auch die gelben Gewerkschaften sehr beunruhigt, weil ihnen klar ist, dass geschulte ArbeiterInnen die Zustände bei Renault nicht weiter akzeptieren werden. Deshalb wollen sie auch die mafiösen Verhältnisse weiter aufrechterhalten, unter denen ein wegen gewerkschaftlicher Aktivität gekündigter Arbeiter keine Arbeit mehr in seiner Branche findet, weil er auf eine schwarze Liste gesetzt wird. Der Arbeiter ist dauernd gezwungen, den Kopf einzuziehen, wenn er überleben will. Die Bursa-Region ist im allgemeinen konservativ, was bedeutet, dass Du in Deinem sozialen Kampf kaum Unterstützung findest.

Diese Verhältnisse haben auf das Bewusstsein der ArbeiterInnen abgefärbt. Jahrelang haben sie AKP gewählt und können nur schwer begreifen, dass diese Partei, diese Regierung ihre Interessen mit Füßen tritt. Die ArbeiterInnen schauen zu, wenn die Leiharbeit zunimmt, ihre Abfindungen nicht bezahlt werden usw. Erst wenn sie in der Praxis mit uns zusammentreffen, erkennen sie andere Betrachtungsweisen und Perspektiven eines möglichen Widerstandes. Das durchschnittliche Niveau der Bezahlung liegt auf dem eines Hungerlohns. Wir sind damit beschäftigt, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, und wir sehen, dass das Geld dafür einfach nicht ausreicht. Staat und Kapital drängen danach, dass die gelben Gewerkschaften ihre Gesprächspartner bleiben, weil die ein Garant dafür sind, dass die ArbeiterInnen weiter unter rigider Kontrolle gehalten werden können.

Am 29. Februar und 1. März wurden 20 ArbeiterInnen ohne Abfindung entlassen. Zudem wurde wurde die elektronische Überwachung ausgebaut und für »gefährlich« gehaltene ArbeiterInnen wurden unbezahlt vom Betrieb beurlaubt. Das ist illegal, wird aber trotzdem geduldet. Alle ArbeiterInnen werden ständig überwacht, und wenn festgestellt wird, dass ein Arbeiter mit uns zu tun hat, sagen sie ihm, dass er ohne Abfindung entlassen wird. Oder sie sagen, dass man die Abfindung bekommt, wenn man freiwillig geht. Solche Fälle könnte man alle vor Gericht gewinnen. Aber solch ein Prozess dauert mindestens ein Jahr, was bedeutet, dass der Arbeiter in dieser Zeit kein Einkommen hat und seine Familie nicht ernähren kann. Deshalb entscheiden sich viele Beschäftigte dafür, die Bedingungen der Unternehmer zu akzeptieren. Viele Zulieferer in der Region sind von Renault abhängig. Verlierst Du Deinen Arbeitsplatz bei Renault, so findest Du daher auch in vielen anderen Betrieben in Bursa keinen Job, weil Renault das Sagen hat.

   Die aktuelle Situation bei Renault

Nach dem 1. März ist die Schichtregelung so geändert worden, dass die KollegInnen sich während des Schichtwechsels nicht mehr begegnen. Die ArbeiterInnen, die versuchten, sich während der Arbeitszeit zu treffen und auszutauschen, wurden fotografiert und in der Folge entlassen – fast 300 seit dem 29. Februar.

De facto machen wir momentan unsere Gewerkschaftsarbeit in einem Zustand der Illegalität. Jede erkennbare Zusammenarbeit mit uns bedeutet für den jeweiligen Arbeiter die umgehende Entlassung. Meistens fangen wir in einem Betrieb mit ein oder zwei Leuten zu organisieren an. Wenn ein Kollege bei Renault einen anderen gewinnt, so wird dies gegenwärtig geheim gehalten. Die KollegInnen kennen sich als Gewerkschaftsmitglieder dann oft nicht einmal. Das liegt nicht an mangelndem Vertrauen, sondern ist lediglich eine Schutzvorkehrung. Seit dem 29. Februar arbeiten wir klandestin, weil all unsere Gesprächspartner verfolgt werden. Kein Arbeiter tritt mehr in der Öffentlichkeit und in den Medien auf. Wahrscheinlich wird die Arbeit in der Illegalität bis 2017 fortgeführt werden müssen, weil ja die Unternehmer eine gegenseitige Unterstützungserklärung abgegeben haben, dass keiner von ihnen demokratische Spielregeln im Betrieb anerkennen wird. Die gesetzlich legitimierte Gewerkschaftsvertretung bei Renault ist immer noch die gelbe Türk-Is. Ihr Mandat läuft bis zum 30. August 2017. Wenn unsere Gewerkschaft 120 Tage vor Ablauf dieser Frist 50 Prozent der Belegschaft organisieren kann, dann würde das Verhandlungsmandat an uns übergehen.

Während der Arbeitskämpfe 2014 habe ich in einer Verhandlungsrunde mit den Unternehmern gesagt, dass die Folge der desaströsen Arbeitsverhältnisse Streiks oder ein Aufstand sein werden, weil ich gesehen habe, dass die ArbeiterInnen bereits mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Unternehmervertreter haben den Kopf geschüttelt und erklärt, dass sie das nie zulassen werden. Die MetallarbeiterInnen sind aber ein zentrales Segment der Arbeiterklasse. Wir sind sicher, dass wir in eine neue und sehr ernste Kampfphase eintreten, in der wir die Solidarität der europäischen Gewerkschaftsbewegung brauchen. Wir werden erpresst mit dem niedrigen Lohnniveau im globalen Osten und der Drohung von Standortverlagerungen. Die Internationalisierung des Kapitals muss durch unsere Internationalisierung beantwortet werden. In Frankreich sind die Rechte der ArbeiterInnen weit besser als in der Türkei. Die Autoindustrie in Frankreich und der Türkei ist fast gleich groß und auf einem vergleichbaren Modernisierungsstand. Aber in der Türkei wird deutlich mehr produziert Die Renault-ArbeiterInnen in der Türkei sollten Schulter an Schulter mit denen in Frankreich kämpfen. Wir sind Völker des Mittelmeeres. Unsere Augen können zwar verschiedene Farben haben, aber unsere Tränen sind gleich.

* Ayhan Ekinci, Birlesik Metal-Is Sendikasi (Provinz Bursa), ist DISK-Vertreter für die Region Marmara. Das Gespräch mit Ayhan Ekinci führten Cemalettin Efe und Peter Haumer am 12. März 2016 in Bursa.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=98516
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