Der türkische Staat ist kein geeignetes Schutzobjekt

Dossier

Freiheit für alle ATIK AktivistInnen und politischen Gefangenen! (Juni 2016)Am 17. Juni 2016 beginnt vor dem Oberlandesgericht München der größte Staatsschutzprozess in Deutschland seit Ende der 1980er Jahre. Angeklagt sind zehn türkische und kurdische Kommunist_innen, denen vorgeworfen wird, das sogenannte Auslandskomitee der maoistischen TKP/ML (Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) gebildet zu haben. Ihnen wird die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach § 129b StGB vorgeworfen, der einen Strafrahmen von einem Jahr bis zehn Jahren Haft vorsieht. (…) Während in Deutschland fast täglich von Nazis und Rassist_innen Anschläge auf unbewohnte und bewohnte Flüchtlingsunterkünfte, die in den meisten Fällen unaufgeklärt bleiben, verübt werden, führt die Bundesanwaltschaft mit einem enormen Aufwand ein Verfahren gegen die zehn Angeklagten…Gemeinsame Erklärung der Bürgerrechtsorganisationen Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., RAV und der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ) vom 16. Juni 2016 externer Link. Siehe dazu und zu weiteren Verfahren:

  • PKK-Verfahren: Kommissar Google ermittelt
    Michaela Müller und Jürgen Becker forschen für das Bundeskriminalamt Organisationen der kurdischen Befreiungsbewegung aus. Einblicke in die Arbeitsweise zweier tragisch-komischer Gestalten…Beitrag von Peter Schaber beim LowerClassMagazine vom 13. November 2016 externer Link

    • Dort heißt es z.B.: „… „Ich mache das so: Ich rufe die Seite hezenparastin.com [eine Webpräsenz der kurdischen Guerilla] auf. Dann kopiere ich die ganze Seite in den google-Translator und suche nach Wörtern wie ‚Anschlag‘ oder ‚Aktion‘.“ Wird Müller bei ihrer Investigativ-Recherche fündig, schickt sie die betreffenden Absätze an eine Dolmetscherin, denn sie selbst spricht – trotz 8-jähriger Beschäftigung mit der PKK – weder türkisch noch kurdisch. Kriegt sie das nun verdeutschte Bekennerschreiben zurück, trägt sie den Anschlag in eine Liste ein – und fertig. Fertig? Nicht ganz. Es weiß ja jeder, dass die Angaben von Kriegsparteien manchmal eben nicht stimmen, deshalb führt die Kriminalistin nun ihre „Zweitrecherche“ durch. Sie nimmt das Datum der Aktion und googelt erneut. Die erstbeste Webseite, die irgendwas ausspuckt – oft nationalistische Blätter von aktifhaber über Sabah bis Milliyet -, trägt Müller nun auch noch in die Liste ein. Damit enden die Ermittlungen. Schwierig ist an diesem Beruf, so erzählt die Anfang 40-jährige, dass der google-translator manchmal Worte nicht kennt, so wie etwa den kurdischen Namen der Stadt Diyarbakir, Amed. Noch schwieriger ist allerdings in diesem Moment der Beruf des Anwalts der Verteidigung, Lukas Theune. Er muss Fragen stellen, die zur sachdienlichen Aufklärung der Frage beitragen: War denn das Handelns der PKK während des Friedensprozesses von 2013 bis 2015 wirklich auf „Mord und Totschlag“ gerichtet. Und er stellt diese Fragen einer Person, der jenseits ihres Aufgabenbereichs (Strg+C → googletranslate) so ziemlich alles egal ist…
    • Prozessprotokolle zu aktuellen PKK-Verfahren unter https://freiheit.blackblogs.org/category/aktuelles/ externer Link
  • PKK-Prozess in Stuttgart: Keine Straftat – doch laut Gericht Terrorist
    Nach zehn Monaten Verhandlung hat das Oberlandesgericht Stuttgart einen kurdischen Aktivisten am 13. Oktober nach dem Strafrechts-Paragraphen 129b StGB zu dreieinhalb Jahren Gefängnis wegen der aktiven Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilt. Dem Angeklagten Ö. wurde vorgeworfen, zwischen 2010 und 2015 in Deutschland für die PKK gearbeitet zu haben. Die Verteidigung zeigte sich enttäuscht, dass die Aktivitäten der PKK trotz der extensiven Gewalt der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung von den RichterInnen als terroristisch eingestuft und dem Angeklagten kein völkerrechtlicher Kombattantenstatus zuerkannt wurde…Beitrag von Markus Rolle bei den BeobachterNews vom 31. Oktober 2016 externer Link
  • Münchner Kommunistenverfahren: Verdacht auf Weiterleitung von Verteidigerpost an türkische Behörden. Bürgerrechtsorganisationen fordern die Gewährleistung des absoluten Schutzes von Verteidigerpost.
    In dem derzeit vor dem OLG München stattfindenden Strafverfahren gegen zehn kurdisch- und türkischstämmige Angeklagte, denen gem. § 129 b StGB die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird, weil sie Mitglieder der TKP/ML (Türkischen Kommunistischen Partei/ Marxisten-Leninisten) sein sollen, ist der Schutz der Verteidigerkommunikation und damit das Mandatsgeheimnis nicht gewährleistet. Wie die Verteidigung jetzt aufgedeckt hat, ist Verteidigerpost zur Fertigung von Übersetzungen für den Kontrollrichter in die Türkei versandt worden. Dies stellt einen gravierenden und nicht akzeptablen Eingriff in die fundamentalen Rechte von Verteidigung und Angeklagten dar…Gemeinsame Erklärung von Bürgerrechtsorganisationen vom 18. Oktober 2016 externer Link. In der Erklärung heißt es schließlich: „… Die Möglichkeit der Anordnung eines Kontrollrichters ist ein Relikt aus den Zeiten der RAF-Prozesse, als Verteidigern immer wieder vorgeworfen wurde, ihre Rechte für die Kommunikation zwischen den Inhaftierten und der RAF zu missbrauchen;¸ dieses Relikt sollte nach unserer Auffassung aus der Strafprozessordnung gestrichen werden.
  • TKP/ML-Prozess in München: Bayerische Justiz ermöglicht türkischem Staat Zugriff auf vertrauliche Post zwischen Angeklagtem und Verteidigern
    … Wie berichtet, unterliegen in diesem § 129b-Verfahren die Mandanten und die Verteidiger_innen erheblichen Einschränkungen. Die Mandanten und ihre Verteidiger_innen sind bei Gesprächen durch eine Glasscheibe getrennt und es wird sämtliche Verteidigerpost – also alle zwischen den Mandanten und den Verteidigern gewechselten Schriftstücke – durch einen sogenannten Kontrollrichter gelesen. Die Anordnung solch einer Kontrolle unterstellt den Verteidigern, sie würden sich mit dem Mandanten schriftlich über andere Themen als die der Verteidigung austauschen. Dieser Kontrollrichter gehört nicht dem erkennenden Senat des OLG München an, sondern sind jeweils in dem für die JVA zuständigen Bezirk ansässig. Soweit die Schreiben der Mandanten und Verteidiger auf Türkisch verfasst sind – was bei fast allen Schreiben der Fall ist –, leitet der Kontrollrichter diese an einen Übersetzer, der sie übersetzt, damit der Kontrollrichter sie anschließend auf Deutsch lesen und „kontrollieren“ kann. (…) Zunächst ein vager Verdacht, es könnte aus Kostengründen Verteidigerpost zu Übersetzern in die Türkei gelangt sein, brachte die Verteidigung Elma dazu nachzuforschen, wie der Kontrollrichter die Übersetzungen der Verteidigerpost konkret umgesetzt hatte…Prozessbericht zum TKP/ML-Prozess in München vom 10. Oktober 2016 externer Link. Weiter heißt es dort:

    • … Das von dem Kontrollrichter beauftragte Übersetzungsbüro hatte nach möglichst billigen Übersetzern gesucht mindestens ein Schreiben – also sensible Verteidigerpost – an Übersetzer in der Türkei abgegeben. Gleichzeitig teilt das Übersetzungsbüro mit, dass ihm von dem Kontrollrichter keinerlei Einschränkungen bzgl. der Weitergabe der Verteidigerpost gemacht worden waren und es weigert sich, die dort noch vorhandenen Kopien dieser Verteidigerpost zu vernichten. Das bedeutet, dass die ansonsten absolut geschützte schriftliche Kommunikation zwischen Angeklagten und ihren Verteidigern per Post oder womöglich unverschlüsselt per Email an nicht weiter überprüfte Dolmetscher geschickt wurde, die nicht einmal zur Verschwiegenheit verpflichtet wurden. Ganz abgesehen von dem Problem, dass unter solchen Umständen keinerlei vertrauliche Kommunikation zwischen der Verteidigung und den Angeklagten mehr möglich ist, schließlich könnte diese Verteidigerpost ja auch an die Staatsanwaltschaft oder die Polizei gelangen, besteht vorliegend ja wegen des erklärten Strafverfolgungsinteresse des türkischen Staat ein besonderes Problem…
  • Von deutschen Behörden fleißig verfolgt wird weiterhin auch die PKK. Siehe dazu: Feindstrafrecht gegen Kurden. Die Bundesregierung intensiviert ihren Feldzug gegen linke Exilstrukturen
    Am kommenden Dienstag (11.10.16) beginnt in Berlin der Prozess gegen den 51-jährigen Ali Hidir Dogan. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Ende April in Bremen Festgenommenen vor, als Gebietsleiter für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) tätig gewesen zu sein. Dogan ist nicht der einzige Kurde, der sich zur Zeit wegen derartiger Anschuldigungen vor Gericht verantworten muss. Die deutsche Justiz ging in den vergangenen Wochen gegen insgesamt zwölf mutmaßliche Funktionäre der PKK vor…Artikel von Peter Schaber in der jW vom 08.10.2016 externer Link
  • Aus o.g. Gemeinsamer Erklärung der Bürgerrechtsorganisationen Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., RAV und der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ) vom 16. Juni 2016 externer Link : „… Die 1972 in der Türkei gegründete TKP/ML ist laut Angaben des Verfassungsschutzes in Deutschland nur politisch aktiv. Laut der Anklageschrift soll sie dort auch eine bewaffnete Organisation – die TIKKO – unterhalten, der diverse Anschläge, unter anderem gegen Angehörige der Polizei und des türkischen Militärs, vorgeworfen werden. Sie ist weder in Deutschland noch in anderen europäischen Staaten verboten und auf keiner der nationalen und internationalen Terror-Listen – außer in der Türkei – als Organisation aufgeführt. (…) Die deutsche Strafjustiz macht sich damit zum Erfüllungsgehilfen von Erdogan und der AKP. Solange der türkische Staat permanent und systematisch nationales und internationales Recht bricht und die Menschenrechte mit Füßen tritt ist die türkische Staatsräson kein Schutzobjekt des deutschen Strafrechts…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=99932
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