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Nach der Amtsenthebung der brasilianischen Regierung: 180 Tage, die entscheidend werden – für soziale Bewegungen und Gewerkschaften, die „auf der Straße bleiben“

Plakat gegen den brasilianischen Putschpräsidenten Temer bei der Demonstration vor dem Senat in Brasilia am 12. Mai 2016Mit der Abstimmung im Senat ist Präsidentin Rousseff zunächst für die Dauer des Verfahrens – 180 Tage – vom Amt suspendiert, und Michel Temer amtierender Präsident. Die neoliberale Rechte in Brasilien, die – im Gegensatz zu Argentinien und Venezuela – die Wahlen verloren hatte, ist mit ihrer Kampagne (zuletzt ganz offen angeführt vom Paulistaner Unternehmerverband FIESP, samt seiner deutschen Mitglieder) erfolgreich gewesen. Auch jene Bewegungen, die keineswegs zum „PT-Konvoi“ gehören, sehen in großer Mehrheit sehr deutlich, dass dieser legale Putsch keineswegs vor allem einer Regierung gilt, die durchaus neoliberale Politik verfolgt hat – sondern sozialen und politischen Rechten, die abgeschafft, und Organisationen, die intensiver bekämpft werden sollen. Und dass gerade der Oberste Gerichtshof diesem legalen Putsch ein Ende setzen wird, erwarten die wenigsten. Unsere kleine aktuelle Materialsammlung „Brasiliens Zukunft wird auf der Straße entschieden“ vom 13. Mai 2016 ist ein Versuch, einen aktuellen Über- und Ausblick zu leisten.

„Brasiliens Zukunft wird auf der Straße entschieden“

  • „Präsidentin von Brasilien vorläufig suspendiert“ von Eva von Steinburg am 12. Mai 2016 bei amerika21.de externer Link, worin berichtet wird: „Mit der vorläufigen Absetzung der Präsidentin der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) ist nun der Weg geebnet für eine eingehende juristische Prüfung aller Vorwürfe durch den Obersten Gerichtshof. Innerhalb von 180 Tagen muss der Gerichtshof feststellen, ob ausreichend Beweise für ein strafbares Handeln vorliegen oder nicht. Für die endgültige Amtsenthebung der Präsidentin ist dann eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat erforderlich. Das Verfahren gegen Rousseff wird nicht mit Korruptionsvorwürfen begründet, sondern vor allem mit Bilanz-Tricksereien im Staatshaushalt. Die Regierung soll ohne Zustimmung des Parlaments Gelder staatlicher Banken genutzt haben, um Defizite im Haushaltsbudget zu überbrücken und zu verschleiern. Das Absetzungsverfahren wird entsprechend mit Verstößen gegen das Haushaltsrecht begründet
  • „Putsch in Brasilien“ von Peter Steiniger am 13. Mai 2016 in der jungen welt externer Link, worin hervorgehoben wird: „Dem Finale vorausgegangen waren aggressive Kampagnen der Monopolmedien, von den weißen Mittelschichten beherrschte Demonstrationen gegen die Regierung und eine Kette von politischen und juristischen Intrigen. Von mächtigen Geldgebern im In- und Ausland gesponserte »nicht parteiliche« rechtspopulistische Bürgerbewegungen wurden installiert. Im Internet tobt eine hysterische Hasswelle gegen eine fiktive kommunistische Gefahr. Mit einer Reihe von politischen Fehlern und Zugeständnissen an die Rechte hatte die Regierung Rousseff selbst das Spiel der Putschisten erleichtert. Erst spät kam die PT aus der Defensive, mobilisierte ihrerseits die Straße und suchte wieder den engen Schulterschluss mit den sozialen Bewegungen und klassenkämpferischen Gewerkschaften
  • „Conheça as 55 ameaças a direitos sociais e trabalhistas que tramitam no Congresso“ Dokumentation der Fenafar vom 19. April 2016 externer Link – die Gewerkschaftsföderation der Pharmaziegewerkschaften legt darin eine Sammlung von 55 Gesetzesvorhaben der sogenannten neuen Regierung vor, die den Wunschkatalog der Unternehmerverbände verwirklichen sollen: Unter wirklich vielen anderen sind Unternehmerwünsche – die man auch aus vielen anderen Gegenden der Welt kennt – genannt wie unbegrenztes Outsourcing (also: auch im sogenannten Kerngeschäft), individuelle Arbeitsverträge (weil so am besten die Diktatur des Privatbesitzers ausgeübt werden kann), der Vorrang des ausgehandelten vor gesetzlichen Bestimmungen (wozu es dann, in Ermangelung von Betriebsräten und Pforzheim,  nur noch einer der reichlich vorhandenen gelben Gewerkschaften braucht) und viele weitere Wünsche, die die PT zumindest so nicht erfüllen wollte
  • „Die Linke braucht einen »brasilianischen Frühling«“ von Gerhard Dilger am 13. Mai 2016 in neues deutschland externer Link, der nochmals ein knappe Gesamtbilanz der Regierungszeit der PT so skizziert: „Vor seinem strahlenden Wahlsieg 2002 gelobte Lula unter Druck gegen über dem IWF und den Finanzmärkten die Einhaltung geltender Verträge. Statt die Aufbruchsstimmung Anfang 2003 dazu zu nutzen, beherzt Strukturreformen anzugehen, entschied sich Lula für einen konservativen wirtschaftspolitischen Kurs. Der Rohstoffreichtum wurde etwas gerechter verteilt, aber die Reichen mussten nichts abgeben. Die PT sei wie die PSDB eine Partei des Zentrums geworden, bürokratisiert, verbürgerlicht und »früh gealtert«, kritisierte der Soziologe Francisco de Oliveira bereits Ende 2003. Den Korruptionsskandal mensalão, bei dem Lulas Präsidialamtsminister José Dirceu monatliche Zahlungen an konservative ParlamentarierInnen organisierte, saß der Präsident aus, eine Rückbesinnung der PT auf die hohen moralischen Standards, die sie als Oppositionspartei proklamiert hatte, unterband er. Und all das trotz eines klassischen Lula-Zitats aus dem Jahr 1993, als er über »300 Gauner« im Kongress klagte, die nur ihre eigenen Interessen verteidigten. Anstatt in Zeiten eigener Stärke eine Reform des politischen Systems – angefangen bei der Wahlkampffinanzierung – in Angriff zu nehmen, ging die PT darin auf. Wie die Enthüllungen der seit zwei Jahren laufenden Untersuchung Lava Jato (Autowäsche) zeigen, sind in dem riesigen Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras nicht nur, aber eben auch Millionenbeträge an die PT geflossen
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=98149
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