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Türkische Regierung treibt ihren Angriff weiter voran: Auf die HDP

Union Solidarity International: Erdoğan uses ISIS to attack the KurdsAm heutigen Mittwoch wird das türkische Parlament voraussichtlich über einen Gesetzes­antrag der religiös-nationalistischen Regierungspartei AKP abstimmen, der einer teilweisen Selbstentmachtung der Mandatsträger gleichkommt. Es geht um einen Zusatz zum Paragraphen 83 der Verfassung zur Immunität der Abgeordneten, mit dem dieser Paragraph »vorübergehend« außer Kraft gesetzt werden kann, um »einmalig die Immunität aller Abgeordneten aufzuheben«, gegen die Strafverfahren laufen“ so beginnt der Artikel „Kampf gegen Abgeordnete“ von Nick Brauns, ursprünglich am 20. April 2016 in der jungen welt (Abomodus) – und auch wenn die Abstimmung verschoben wurde, bleibt das Thema der weiteren massiven Einschränkung demokratischer Rechte aktuell. Wir danken dem Autor!

 Kampf gegen Abgeordnete

Türkisches Parlament entscheidet über Verfassungsänderung. Gesetz soll Immunität außer Kraft setzen und zielt auf Ausschaltung der linken HDP

Von Nick Brauns

Am heutigen Mittwoch wird das türkische Parlament voraussichtlich über einen Gesetzes­antrag der religiös-nationalistischen Regierungspartei AKP abstimmen, der einer teilweisen Selbstentmachtung der Mandatsträger gleichkommt. Es geht um einen Zusatz zum Paragraphen 83 der Verfassung zur Immunität der Abgeordneten, mit dem dieser Paragraph »vorübergehend« außer Kraft gesetzt werden kann, um »einmalig die Immunität aller Abgeordneten aufzuheben«, gegen die Strafverfahren laufen.

In der Gesetzesbegründung heißt es: »Die Türkei führt derzeit ihren größten und umfassendsten Kampf gegen den Terror durch, während einige Abgeordnete durch ihre Äußerungen vor oder nach der Wahl den Terrorismus unterstützten.« Das Gesetzesvorhaben zielt auf die Ausschaltung der Abgeordneten der linken und prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP). So hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gefordert, den Kovorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, die Immunität zu entziehen, nachdem sie sich Ende Dezember letzten Jahres auf einer Konferenz in Diyarbakir für eine Autonomieregelung zur Lösung der kurdischen Frage ausgesprochen hatten. Gegen 45 HDP-Abgeordnete laufen derzeit 328 Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen Propaganda für terroristische Organisationen und Separatismus.

Um das Gesetz durchzubringen und dementsprechend die Verfassung zu ändern, ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Nach der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hat auch Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen  Volkspartei (CHP), Unterstützung zugesichert. Die CHP stellt die stärkste Oppositionsfraktion im türkischen Parlament. Kilicdaroglu gestand dabei offen ein, dass »das Gesetz ein Verstoß gegen die Verfassung ist«. Dass er sich dennoch dafür aussprach, ist wohl der Sorge geschuldet, ansonsten in die Ecke der vermeintlichen Terroristenunterstützer gestellt zu werden.

Allerdings haben acht CHP-Abgeordnete, darunter Parteivize Sezgin Tanrikulu, Widerstand gegen den Gesetzentwurf angekündigt. Da die Abstimmung geheim sein wird, ist sogar von einer größeren Zahl von Neinstimmen aus den Reihen der CHP auszugehen. Denn auch gegen 51 CHP-Abgeordnete laufen nach Informationen der regierungsnahen Tageszeitung /Daily Sabah/ Ermittlungsverfahren. So hatte Erdogan erst vor wenigen Tagen persönlich Klage gegen CHP-Chef Kilicdaroglu wegen Beleidigung eingereicht. Es besteht zudem die Sorge, dass sich Erdogan des Gesetzes bedienen könnte, um gegebenenfalls gegen unliebsame Abgeordnete aller Fraktionen vorzugehen.

Sollten sämtliche Abgeordneten von AKP und MHP für den Antrag stimmen, bräuchte die Regierung zwar nur zwölf zusätzliche Stimmen der CHP. Fraglich ist jedoch, ob sie in geheimer Abstimmung auf alle AKP-Abgeordneten zählen kann. Denn einigen von ihnen könnte aufgrund laufender Ermittlungen, etwa wegen Korruption, selbst der Entzug ihrer Immunität drohen. Viele Abgeordnete würden derzeit beim Verfassungskomitee des Parlaments nachfragen, ob Verfahren gegen sie liefen, meldete die /Daily Sabah/.

Die HDP bezeichnete den AKP-Antrag in einer schriftlichen Erklärung alsTeil eines »seit dem 7. Juni 2015 voranschreitenden Staatsstreich des Palastes«. Gemeint ist die damalige Nichtanerkennung des Wahlergebnisses der Parlamentswahl durch Erdogan. Die AKP hatte dabei die für eine Alleinregierung notwendige Mehrheit nicht erreicht, woraufhin der Präsident Neuwahlen anordnete. Die Grenzen der Gewaltenteilung würden immer weiter verwischt – bis zur Liquidierung des Parlaments, warnte die HDP. »Sollte die Verfassung in der von der AKP vorgesehenen Weise geändert werden, dann wäre das ein Wendepunkt für die Türkei«, heißt es weiter.

Das Vorgehen der Regierung erinnert an den 2. März 1994, als sechs Abgeordneten der kurdischen Demokratiepartei (DEP) die Immunität entzogen wurde. Die Mandatsträger, darunter Leyla Zana, Ahmet Türk und Hatip Dicle, wurden im Parlament verhaftet und anschließend zu langjährigen Haftstrafen wegen angeblicher Unterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK verurteilt.

(20. April 2016)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=97004
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