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Generalstreik & Unruhen/Riots in französischem „Überseebezirk“ Mayotte

Artikel von Bernard Schmid, Paris, vom 15.4.2016

Generalstreikdemo Mayotte 10.4.2016

Seit mehreren Tagen finden im französischen „Überseedépartement“ Mayotte, dem 101. französischen Verwaltungsbezirk, sowie „städtische Unruhen“ (émeutes urbaines) – also Riots – statt. Der Generalstreik dauert bereits seit über zwei Wochen, er fing am 31. März dieses Jahres an, und setzt im Prinzip nur einen bereits im November 2015 begonnenen Ausstand vor. Er war damals wegen der Verhängung des Ausnahmezustands über ganz Frankreich (also auch die „Überseegebiete und -bezirke“!, die buchstäblich fernab „vom Schuss“ lagen), infolge der Attentate vom 13. November 15 in Paris, abgebrochen respektive unterbrochen worden.

Gegenstand der Streikforderungen ist die „tatsächliche Gleichheit“ (égalité réélle), also eine Angleichung der Lebensverhältnisse mit dem übrigen Frankreich – dem Mayotte administrativ betrachtet zugehört – insbesondere auch im Bereich der Arbeitsgesetzgebung. Bislang gilt auf Mayotte ein eigenes Arbeitsgesetzbuch, der Code du travail de Mayotte, welcher nur wenigen ausgewählten Kapitel des in Frankreich geltenden Gesetzeswerks im Arbeitsrecht entspricht. (Vgl. zu den Ursachen des Streiks: http://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2016/04/14/greve-generale-et-emeutes-urbaines-comprendre-la-situation-a-mayotte-en-4-points_4901646_4355770.html externer Link und http://la1ere.francetvinfo.fr/mayotte-greve-et-manifestation-pour-l-egalite-reelle-345259.html externer Link)

Im Laufe dieser Woche kamen nun noch Riots hinzu (vgl. etwa http://comores-infos.com/mayotte-des-scenes-de-guerilla-a-mtsapere/ externer Link und http://www.linfo.re/ocean-indien/691149-mayotte-les-habitants-de-m-tsapere-veulent-porter-plainte-contre-le-prefet externer Link).

Am gestrigen Donnerstag nun gingen die staatlichen „Sicherheitskräfte“ daran, aufgebaute Straßensperren abzuräumen (vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2016/04/14/mayotte-des-barrages-routiers-enleves-par-les-forces-de-l-ordre_4902486_823448.html externer Link).

Wir werden unsere Leser/innen/schaft über die weitere Entwicklung diesbezüglich auf dem laufenden halten. Doch einstweilige einige, für das Verständnis wichtige Hintergründe zur Sache!

HINTERGRUND DAZU

Der südlichste Zipfel der Europäischen Union – weit jenseits von Ceuta und Melilla oder Lampedusa – liegt jedoch nicht in Nordafrika sondern im Südwesten des Indischen Ozeans. Was auf den ersten Blick nach mangelnder Geographiekenntnis des Verfassers klingt, ist Realität. Seit dem 1. April 2011 zählt Frankreich einen Verwaltungsbezirk, der an jenem Datum zum 101. Département der Französischen Republik wurde.

Die Inselgruppe Mayotte, die offiziell rund 212.000 Einwohner/inne/n – bei einer hohen Dunkelziffer, da ein geschätztes Drittel der Bevölkerung aus „illegalen Einwanderern“ besteht – und siebzehn Kommunen auf einer Hauptinsel und einigen winzigen Nebeneilanden aufweist, hat seit dem 1. Januar 2014 den Statuts eines so genannten „ultraperipheren Territoriums der Europäischen Union“ (eines „Gebiets in äußerster Randlage“). Dies verleiht ihr den Anspruch auf Hilfen aus dem Fonds der EU zur Förderung strukturschwacher Regionen verleiht. Zugleich ist Mayotte ein wichtiges Tor für, „erwünschte“ und besonders auch „unerwünschte“, Zuwanderung auf das französische Staatsgebiet. Die französische katholische Wochenzeitung La Vie bezeichnet die Inselgruppe am 28. Juni 2014 als „das Lampedusa des Indischen Ozeans“, unter Anspielung auf die südlich vor Italien vorgelagerte Insel, die als Nadelöhr für Migration aus Nordafrika dient. Hatte Frankreich von seinem europäischen Staatsgebiet aus im Jahr 2012 insgesamt 27.000 Menschen abgeschoben, so waren es allein auf dem mehrere Tausend mal kleineren Mayotte im selben Jahr insgesamt 17.000 Personen.

Anders als beispielsweise Neukaledonien im Westpazifik – das bis Ende dieses Jahrzehnts in einem Referendum über seine Unabhängigkeit von Frankreich abstimmen wird -, Französisch-Polynesien oder die Kerguelen-Inseln in der Nähe der Antarktis handelt es sich bei Mayotte nicht um eine so genannte „Übersee-Gebietskörperschaft“. Diesen Namen tragen seit 2003 die früheren „Überseeterritorien“, ein Name, den nach dem Zweiten Weltkrieg auch damalige Kolonien wie Französisch-Westafrika und Französisch-Äquatorialafrika trugen. Ein solches Überseegebiet ist eine ausländische Besitzung, die im Augenblick mehr oder minder freiwillig ihrem Verbleib bei Frankreich zugestimmt hat, aber in näherer oder fernerer Zukunft ihre Unabhängigkeit zurückerlangen könnte. Um dies zu fordern, existieren in Neukaledonien oder Polynesien recht starke Bewegungen. Anders liegt der Fall von Mayotte: Als Département ist es integraler Bestandteil der französischen Staatsstruktur, also der laut Verfassung „Einen und unteilbaren Republik“, und soll es theoretisch auch bleiben.

Der 101. französische Verwaltungsbezirk kam außergewöhnlich spät hinzu. Am 29. März 2009 war über die Umwandlung in eine solche Verwaltungseinheit, die départementalisation, abgestimmt worden. Zuvor war Mayotte ein französisches Überseegebiet mit begrenzter Autonomie gewesen. 95,2 Prozent der an der Volksabstimmung Teilnehmenden hatten ihr zugestimmt. Allerdings hatten sich fast vierzig Prozent der Stimmen enthalten, und viele Beobachter beklagten, es habe keinerlei offene und plurale Debatte über die Abstimmungsvorlage gegeben. Nur die Anhänger des „Ja“ waren damals in der Öffentlichkeit zu Wort gekommen. Und hohe Staatsvertreter wie der Präfekt – der Repräsentant des französischen Zentralstaats vor Ort – und viele Beamte machten offen Wahlwerbung für die Annahme der Vorlage, obwohl sie juristisch grundsätzlich zu politischer Neutralität in ihrer Außendarstellung verpflichtet sind.

Als einzige im Parlament vertretene politische Kraft hatte sich damals die Französische kommunistische Partei gegen das Referendum geäußert. Anlässlich eines Besuchs ihrer Parlamentarierin Eliane Assassi und eines weiteren Führungsmitglieds der Partei, Jean-Louis Le Moigne, auf Mayotte vom 18. bis 22. März jenes Jahren waren sie von Aktivistinnen am Flughafen in Empfang genommen und mit Sprechchören niedergebrüllt worden. Die daran beteiligten Damen bezeichnete man im Volksmund als les chatouilleuses (ungefähr: „die Kitzlerinnen“ oder „die kitzelnden Frauen“). Unter dem gleichen Namen war in den 1960er Jahren eine Miliz aktiv, die ihre politischen Gegner damals allerdings nicht niederschrie, sondern tötete. Davon unbeirrt besuchten die KP-Parlamentarier/innen diverse Orte auf der Inselgruppe, unterhielten sich mit NGOs und Bürgerrechtsaktivistin, und dank ihres Status als Parlamentarierin konnte Assassi das berüchtigte Abschiebegefängnis auf Mayotte besuchen.

Das Referendum hatte trotz allem eine Reihe von Kritikern und Gegnern. Hauptansatzpunkt der Kritik war zunächst der langjährige Bruch internationalen Rechts, der durch das Referendum von 2009 endgültig besiegelt wurde. Mayotte zählt zum Archipel der Komoren, der 1889 als Kolonie in französischen Besitz kam – damals zunächst unter dem Verwaltungsnamen „Mayotte und von ihm abhängige Territorien“ – und drei weitere Hauptinseln zählt: Grande Comore, Mohéli und Anjouan. Die gesamte Zeit der französischen Kolonialpräsenz über hatte die Pariser Regierung die Inselgruppe als eine Einheit behandelt, und auch ihre Bevölkerung ist relativ homogen: schwarz, muslimischen Glaubens, Swaheli sprechend und mutmaßlich gemeinsamer Abstammung. Doch nachdem Frankreich im Jahr 1973 der Einleitung eines Unabhängigkeitsprozesses zugestimmt hatte, wurde im Dezember des darauffolgenden Jahres auf den Inseln darüber abgestimmt. Dabei ergaben sich unterschiedliche Resultate auf Mayotte und auf den übrigen Hauptinseln.

Eine knappe Mehrheit stimmte auf der östlichsten Insel Mayotte gegen die Unabhängigkeit, die auf den übrigen Inseln mit jeweils deutlicher Mehrheit angenommen wurde. Dieser Unterschied ist weniger einem Zufall geschuldet als der historischen Tatsache, dass der französische Einfluss in Mayottes Inselhauptstadt Mamoudzou, wo die kolonialen Verwaltungsstrukturen angesiedelt waren, mit Abstand am stärksten ausfiel.

Unter Bruch seiner eigenen bisherigen Versprechungen, bisheriger französischer Gesetze und des internationalen Rechts beschloss die französische Regierung daraufhin 1975, die Einheit des Archipels aufzubrechen und Mayotte als eigenständige Einheit zu behandeln. Dies stand allen bisherigen Ankündigungen, man werde die Komoren nur als Einheit in die Unabhängigkeit entlassen oder aber bei Frankreich behalten, entgegen. Treibendes Motiv hinter diesem Handeln war der Wunsch, durch den Verbleib auf Mayotte auf deutliche Weise einen Fuß im Indischen Ozean zu behalten – wo mit der Insel La Réunion, südlich von Madagaskar, ein weiterer, bereits alter französischer Bezirk liegt – und so eine wichtige Seemacht zu bleiben. Bis heute ist Frankreich die weltweit zweitgrößte maritime Supermacht. Bis zum Sturz des Apartheid-Regimes in Südafrika blieb Mayotte aber auch eine Drehscheibe für den, zumindest in der Schlussphase bereits illegalen, Handel Frankreichs mit dem damaligen Südafrika der Rassisten.

Die Einwohner Mayottes erhielten davon zum Teil auch eigene Vorteile: Die 9,000 Kilometer entfernte „Metropole“ in Europa schüttet nach wie vor Geld aus, um der lokalen Bevölkerung ihren Verbleib mehr oder minder schmackhaft zu machen. Jährlich transferiert Frankreich rund 400 Millionen Euro an Mayotte, während der Staatshaushalt der benachbarten Inselrepublik der Komoren insgesamt rund 60 Millionen beträgt. Bei der Abstimmung von 2009 wurden die Einwohner mit der Versprechung neuer Vorzüge geködert: Würde Mayotte zum Département, dann fände dort auch das französische Gesetz zur Sozialhilfe (RSA) Anwendung. Mit der Begründung, es solle kein zu starkes Ungleichgewicht zu den örtlichen Lebensumständen geschaffen werden, wurde der RSA aber zunächst auf 25 Prozent seiner Höhe im europäischen Frankreich beschränkt. Erst innerhalb von zwanzig Jahren soll eine Angleichung an den Metropolenstandard erfolgen. Seit dem 1. Januar dieses Jahres beträgt der RSA auf Mayotte nunmehr 50 Prozent des französischen Standardsatzes, also 249 Euro im Monat.

Die benachbarten Komoren, deren einziger Devisen bringender Reichtum aus Naturschätzen wie parfümhaltigen Orchideen und dem Vanille-Anbau liegt, sind nicht nur relativ arm, sondern waren auch immer wieder Gegenstand politischer Destabilisierungsversuche. Viele davon wurden durch Frankreich initiiert oder gesteuert, da es den sukzessiven Pariser Regierungen darum ging, die Republik Komoren davon abzuhalten, eine Wiederangliederung von Mayotte zu fordern.

Eine wichtige Rolle spielte dabei der französische Söldnerführer Bob Denard, der oft auf den Komoren intervenierte. Er stürzte etwa im September 1975, ein knappes Vierteljahr nach der Unabhängigkeit, den dortigen Präsidenten Ahmad Abdallah, der durch den Putschisten Ali Soilih ersetzt wurde. Im September 1995 war Denard erneut an der gewaltsamen Absetzung eines Präsidenten, Said Mohamed Djohar, beteiligt. Die Waffen waren unter anderem von Francois-Xavier Sidos, einem rechtsextremen Kommunalparlamentarier (/ Stadtverordnten) in Saint-Denis bei Paris, verschickt worden. Kurz darauf berichtete das Wochenmagazin L’Evénement du jeudi über die Komplizenschaft des französischen Auslandsgeheimdiensts, dank derer die Waffen über Le Havre verschifft werden konnte. Wiederholt sollte Denard der Prozess gemacht werden, in Frankreich, aber auch in Italien, wo er wegen der Rekrutierung von Söldnern im rechtsextremen Milieu belangt werden sollte. Denard starb jedoch 2007 in Südwestfrankreich im Bett, unbestraft, allerdings verarmt wie eine Kirchenmaus.
Der Strudel von Konflikten, in den die Komoren immer wieder gezogen wurden, und ihre schlechte Position auf dem Weltmarkt trugen dazu bei, dass ein immenses Gefälle der Lebensverhältnisse zwischen Mayotte und den Rest-Komoren besteht und immer weiter anwächst. Dies sorgt für starke Migrationsflüsse, zumal ein auf Mayotte geborenes Kind dann von Geburt an automatisch französische/r Staatsbürger/in ist, wenn mindestens einer der beiden Elternteile vor der Unabhängigkeit von 1975 im damals französischen verwalteten Gebiet der Komoren geboren wurde. Dies ist ein Ausfluss des so genannten „doppelten Bodenrechts“ (double droit du sol). Auch wenn Nachkömmlinge von Eltern, die selbst nach der komorischen Unabhängigkeit auf die Welt kamen, nicht in dessen Genuss kommen und die Staatsangehörigkeit – nach den allgemeinen Regeln des Code civil – frühestens im Alter von 13 und unter Erbringung diverser Nachweise, die einen mindestens fünfjährigen Aufenthalt belegen, erringen kann.

Die beiden Inseln Anjouan und Mayotte werden durch einen Meeresarm von siebzig Kilometern Breite geführt. Seitdem die französische Regierung 1994 einen Visazwang für den Verkehr zwischen der übrigen Inselgruppe und Mayotte einführte, in Gestalt des so genannten „Balladur-Visums“ – nach dem Namen des damaligen Premierministers Edouard Balladur -, versuchen zahlreiche Komorer/innen, „illegal“ überzusetzen. Die Fahrt kostet zwischen 400 und 1.000 Euro und ist, je nach Winden und Meeresströmung, unter Umständen sehr gefährlich. Zum Zeitpunkt des Referendums über die definitive Angliederung Mayottes an Frankreich vor fünf Jahren wurde die Zahl der „Toten des Balladur-Visums“ auf 6.000 geschätzt, inzwischen wird sie jedoch bei 10.000 vermutet.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=96636
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