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Das Kapital zeigt Flagge: Wichtigster brasilianischer Unternehmerverband (inklusive bundesdeutscher Mitglieder) fordert Amtsenthebung der Regierung – sofort!

Demo gegen Rechts Sao Paulo 18.3.2016Auf den Straßen brasilianischer Städte folgt in diesen Tagen Demonstration auf Demonstration: Auch – und gerade – am 31. März, dem Jahrestag des Militärputsches von 1964 – waren in etwa 50 Orten rund eine Million Menschen auf den Straßen – in Verteidigung der Regierung diesmal. Ein Grund für die massive Mobilisierung war auch die in den Tagen zuvor – mit gigantischem Werbeaufwand – gestartete Beteiligung des wichtigsten Unternehmerverbandes des Landes: FIESP (die Industrieföderation des Bundesstaates Sao Paulo, der auch diverse bundesdeutsche Unternehmen angehören) an der Kampagne für ein Amtsenthebungsverfahren (Impeachment) gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT. Natürlich hat die PT für die Demonstrationen am 31. März ihren „Konvoi“ aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen mobilisiert. Aber eben, keinesfalls: Nur diesen. Es beteiligten sich auch zahlreiche Kräfte der politischen Linken und sozialer Bewegungen, die der PT-Regierung kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Sie – wie es etwa der Abgeordnete Ivan Valente von der P-Sol (Partei Sozialismus und Freiheit) ausdrückte – sind „nicht da um irgendeine Regierung zu verteidigen, sondern um die Demokratie zu verteidigen“. Und auch, das wird vor allem in den letzten Tagen immer klarer, um das wirtschaftliche und soziale Programm der Betreiber der Amtsenthebung zu verhindern. Der Beitrag „Brasilien: Auf des Messers Schneide“ vom 01. April 2016 ist eine kommentierte Materialsammlung von Helmut Weiss, mit der versucht werden soll, die komplexe Situation etwas verständlicher zu machen – auch anhand von telefonischen Interviews:

Brasilien: Auf des Messers Schneide

„Entidades que representam milhares de empresas e milhões de trabalhadores definem na Fiesp apoio ao Impeachment Já!“ am 21. März 2016 bei der FIESP externer Link ist die offizielle Mitteilung des Industrieverbandes, sich ab sofort für das Amtsenthebungsverfahren einzusetzen und gleichzeitig auf die Abgeordneten einzuwirken, den Prozess zu beschleunigen. Interessant dabei, dass in den Ausführungen zu dem Beschluss darauf verwiesen wird, der Verband verträte Tausende von Unternehmen – und Millionen ArbeiterInnen… Und, natürlich: Man werde einer kommenden Regierung dabei helfen, ein Wirtschaftsprogramm zu verwirklichen, das wieder Investitionen und Beschäftigung ermögliche…

„Mais de 800 mil pessoas foram às ruas dizer não ao golpe!“ am 31. März 2016 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist die zusammenfassende Berichterstattung über die Demonstrationen gegen die Amtsenthebung am selben Tag – ohne dass dabei schon die kleineren Veranstaltungen aufgenommen worden waren, wovon es einige gab, bei denen inzwischen ebenfalls Zehntausende berichtet werden.

“Metalúrgicos da CUT repudiam campanha da Fiesp: ‚O que está por trás do pato?’” am 30. März 2016 bei Brasil Atual externer Link ist die Dokumentation der Stellungnahme der Föderation der Metallgewerkschaften im Bundesstaat zur Offensive der FIESP, die rundweg abgelehnt und kritisiert wird – und darauf verwiesen, dass die Mitglieder des Industrieverbandes keineswegs völlig unbedeutend sind, wenn es um Korruption geht

Warum Amtsenthebung einer Regierung, die immer, aber zunehmend deutlichere neoliberale Politik betrieben hat?

Einige Markierungspunkte der bisherigen Regierungszeit der PT waren etwa die Veränderung des Rentensystems unter der Regierung Lula ab 2003 – die nichts anderes war, als eine Erhöhung des Renten-Eintrittsalters (Siehe dazu ausführlich: „Brasilien: Lulas Rentenreform“ im Archiv des LabourNet Germany). Bis hin zum jüngsten Sparhaushalt ist darin recht leicht eine Kontinuität zu bemerken, wie es etwa anhand des Beitrages „Motivo para ir às ruas no 1° de abril: querem acabar com a nossa aposentadoria“ am 29. März 2016 beim Gewerkschaftsbund CSP Conlutas externer Link hervorgehoben wird, der für den 1. April zu Demonstrationen in 18 Bundesstaaten aufruft – gegen alle.

“Koalitionsbruch: Brasiliens Präsidentin droht das Aus” am 30. März 2016 in neues deutschland externer Link behandelt einerseits die Aussichten der PT-Regierung, nachdem die Mehrheit der PMDB Minister zurück getreten ist – und gibt andrerseits noch einmal eine knappe Zusammenfassung der Entwicklungen bis hierhin

Der jüngst eingebrachte Sparhaushalt ist in der Tat ein Höhepunkt dieser bisherigen Politik, worin unter anderem auch noch die – ohnehin geringe – Erwerbslosenunterstützung und andere soziale Errungenschaften gekürzt werden sollen. Nur anhand dieser wenigen Punkte sollte bereits deutlich werden, dass sich eben durchaus die Frage stellt, weshalb Unternehmer und neoliberale Rechtsparteien eine solche Regierung weg haben wollen.

Wir sprachen darüber am Telefon mit Ubirajara Alves de Freitas, Stahlarbeiter und langjähriger Internationaler Sekretär der Nationalen Föderation der Metallgewerkschaften in der CUT (und niemals Mitglied der PT gewesen). „Schau, das ist so: Es gibt überhaupt keinen Grund anzuzweifeln, dass etwa der jüngste Haushaltsentwurf ein nahezu geschlossenes antisoziales Programm ist – aber, schaue auf die Kritikpunkte von rechts, es geht denen nicht weit genug, es ist nicht direkt genug, nicht offensiv genug, sie wollen im Angesicht der aktuellen Wirtschaftskrise alles – und das sofort. Das ist das eine, und das andere ist die Geschichte mit Petrobras. Die Petrobras ist halt nicht nur das grösste Unternehmen des Landes, es ist auch eine Art Lokomotive für die gesamte Wirtschaft. Mit der Entdeckung der Meeresvorkommen vor Brasiliens Küste war die Zeit zu Ende, in der gesagt wurde „Brasilien hat alles – außer Öl“ – hat es, reichlich. Also winken enorme Profite. Jetzt ist ja die Kritik, diese Regierung betreibe die schrittweise Privatisierung der Petrobras, keineswegs gegenstandslos, nur – wie? Es gibt Versteigerungen über die gemeinsame Exploration bestimmter Ölfelder, und da haben beispielsweise Ölunternehmen aus China sich eingekauft, was weder dem brasilianischen noch dem ausländischen Kapital besonders gefallen hat. Deshalb war ja die Bestechungsaffäre (Lava Jato) rund um Petrobras so ein willkommenes Fressen – zur Offensive gegen die Regierung und gegen die staatliche Petrobras“.

Dazu zwei Meldungen, die die Ausführungen verdeutlichen:

“Plano econômico proposto por PMDB fragiliza CLT” von Rafael Tatemoto am 30. März 2016 bei der linken Zeitung Brasil de Fato externer Link ist ein Beitrag, der sich konkret mit den “neuen wirtschaftspolitischen Vorschlägen” der PMDB (also jener Partei, die gerade – mehrheitlich jedenfalls, keineswegs geschlossen – die Koalition mit der PT aufgekündigt hat). Darin sind sowohl eine Reihe von Kürzungen (beim sozialen Wohnungsbau vor allem, aber auch etwa bei Stipendien an Unis) enthalten, als auch eine politische Leitlinie nach der “Verhandeln über dem Gesetz” stehen soll – mit anderen Worten darauf gesetzt wird, Bestimmungen aus dem Arbeitsrecht qua Verhandlungen zu unterbieten (Siehe zu wirtschaftspolitischen Absichten der Rechten auch den Beitrag “Die Putschversuche der Rechten gegen die brasilianische Regierung haben ein Programm: Eine lange Liste von Gesetzen auf dem Weg zum Unternehmerparadies” am 21. März 2016 im LabourNet Germany)

„Desde início da Operação Lava Jato, Petrobras demitiu mais de 169 mil empregados“ ist eine Meldung im ISAPE Blog vom 30. März 2016 externer Link, die die Krisensituation der Petrobras deutlich macht: Von den insgesamt 276.000 bei Petrobras (und, wichtig: Subunternehmen, die etwa 2/3 aller Beschäftigten stellen) beschäftigten Menschen wurden seit Beginn des Skandals bereits 169.000 entlassen, rund 60%, die meisten in den Bauabteilungen (für neue Projekte) bei denen 85% aller Beschäftigten entlassen wurden.

Den Zusammenhang mit der aktuellen politischen Entwicklung sehen die Ölgewerkschaften so:
„Petroleiros dizem que impeachment é pretexto para entregar o pré-sal“ am 31. März 2016 bei Brasil Atual externer Link ist ein Beitrag über die Reaktion der Ölarbeitergewerkschften auf die Offensive der Rechten: Sie sehen darin einen Vorwand, nun endlich die offene und volle Privatisierung der Petrobras zu erreichen. Der Koordinator von Sindipetro Rio verweist in seinem Redebeitrag während der Demonstration gegen das Amtsenthebungsverfahren darauf, dass die Gewerkschaften schon seit Jahren immer wieder versucht hätten, das Thema Korruption bei der Petrobras in die Öffentlichkeit zu bringen – um sie zu retten, nicht, um sie zu zerschlagen

Am Telefon sagt uns dazu Arturo Vagner de Lima, seit 30 Jahren Ölarbeiter im Bundesstaat Sergipe (in dem die Gewerkschaftsopposition die Mehrheit hat): „Die Korruption bei Petrobras hat eine lange Tradition, an der die PT nichts geändert hat. Was glaubst Du denn, wie es läuft, wenn die meisten betrieblichen Tätigkeiten von Subunternehmen geleistet werden, für die das sozusagen das Geschäft ihres Lebens ist? Da ist es mehr als nahe liegend, dass der Alltag von allen möglichen Formen der „Bewerbung um Aufträge“ gekennzeichnet ist, wenn Du weißt, was ich meine… Deswegen waren wir immer dafür, das Subunternehmen-Wesen bei Petrobras prinzipiell und endgültig zu beenden, aber die Gewerkschaftsmehrheit beschränkte sich stets darauf, dies zu „gestalten“, was weder für die arbeitenden Menschen richtig funktioniert hat – es gab halt keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit – noch irgendeinen Riegel für die Korruption bedeutet. Aber es ist klar: Die Rechte will jetzt die offene Privatisierung beschleunigen und rechnet damit, dass die Unternehmen dann die Petrobras-Anteile so billig nachgeworfen bekommen, wie es einst bei der Vale do Rio Doce (Erzbergbaugesellschaft) passiert ist – zum Preis von Bananen, wie wir sagen“.

„‘Governo arruinou a Petrobras; Brasil já perdeu janela aberta pelo Pré-Sal pra se alavancar’“ am 30. März 2016 beim Correio da Cidadania externer Link ist ein Interview mit dem Ökonomen Pergentino Mendes de Almeida der, wie der CdC auch, zu jenen Strömungen auf der Linken gehört, die keinen großen Unterschied zwischen den streitenden Lagern sehen. In dem Gespräch weist er darauf hin, dass die PT-Regierung nichts unternommen habe, um die Petrobras in der aktuellen Situation der globalen Ölbranche zu stärken – und die Gelder des Staatshaushalts ohenhin die ganze Zeit per politischer Priorität an die internationalen Banken geflossen seien. Auch die Geschichte der Petrobras als ein Flagschiff nationaler Unabhängigkeit wird darin skizziert.

Warum so viele Kräfte links von der PT gegen das Amtsenthebungsverfahren sind – trotz allem

Wenn, wie eingangs zitiert, etwa der Abgeordnete Ivan Valente sagt, sie verteidigen hier nicht die Regierung, sondern die Demokratie, dann gibt der Politiker der P-Sol eine Argumentation vor, die von einer großen Mehrheit links der PT geteilt wird (die Strömung „es sollen alle gehen“ ist deutlich minderheitlich).

Am Telefon sagt uns Ivana Clara de Souza Filho, Hausbesetzungsaktivistin in Belo Horizonte (und im Vorfeld der Fussball-WM aus ihrem damaligen Wohnort vertrieben) zu der bisherigen und der künftig zu befürchtenden Sozialpolitik: „Sie wollen natürlich zum einen, das wenige, das passiert ist, rückgängig machen. Und damit zweitens, Zeichen setzen. Es gab beispielsweise verschiedentlich in verschiedensten Orten Angebote, statt Hausbesetzungen oder Baugeländebesetzungen zu organisieren, ins Programm des sozialen Wohnungsbaus aufgenommen zu werden. Wir waren mehrheitlich davon nicht begeistert, weil wir uns unser Leben lieber selbst gestalten wollten, als in die Schachteln zu ziehen. Und es gibt auch nicht wenige, die sagen, am meisten von dem Programm haben die großen Baufirmen profitiert. Aber: Solche Angebote soll es künftig nicht mehr geben, sie sollen ersetzt werden durch den sofortigen Einsatz des Polizeiknüppels, den es ja auch bisher oft genug gab, aber halt nicht ausschließlich. Diesen Wunsch nach Veränderung der sozialen Zugeständnisse – die ja immer nur die Brosamen waren – gibt es sozsuagen rundherum, bei allem: Den Quoten für den Zugang ins Bildungswesen für benachteiligte BrasilianerInnen samt der dazu gehörenden Stipendien, dem Gesetz gegen Sklavenarbeit, das die Großgrundbesitzer für „zu weitgehend“ erachten, wie auch das Gesetz zum Schutz der Flussufer – auch so ein Gesetz, das von der gesamten Umweltbewegung als bei weitem nicht ausreichend kritisiert wurde – und so kannst Du die Liste verlängern. Wir verteidigen also ausgesprochen magere Errungenschaften, wenn man das so sagen will“.

„O que pretendem os setores dominantes com o impeachment de Dilma: notas preliminares“ von Roberto Leher am 28. März 2016 beim Correio da Cidadania externer Link ist ein Beitrag, der versucht die Frage der Absichten mit der Amtsenthebung genau zu ergründen. Sein Ausgangspunkt ist dabei der Rücktritt des Finanzministers Levy nach wenigen Wochen Amtszeit. Die Nominierung des Bankiers war auch innerhalb der PT-Familie auf heftige Kritik gestoßen – denn er war Mitautor und Realisator des antisozialen Sparplanes der PT-Regierung. Mit seinem schnellen Rücktritt, so der Autor, sei das Signal an die herrschende Klasse gegeben worden, dass es mit dieser Regierung nicht mehr gehe, das gewünschte umfangreiche „Reformprogramm“ durchzusetzen. Und diese Liste ist lang – von dem viel zu hohen Mindestlohn (und speziell seine Koppelung an künftige Rentenbezüge) bis zur Bolsa Familia (eine Art Grundeinkommen – wenn arme Familien ihre Kinder zur Schule statt zur Arbeit schicken, bekommen sie eine – kleine, aber für sie nicht unwichtige – Beihilfe) soll alles gegenreformiert werden.

In einem abschließenden Telefongespräch sagt Pedro Otoni, Koordinator der linken Basisbewegung Volksbrigaden aus dem Bundesstaat Santa Catarina: „Warum sollten wir die PT verteidigen, die doch bis gestern mit jenen im Bett war, die sie heute loswerden wollen? Oder einen Rechtsstaat, der 300.000 Menschen aus armen Stadteilen ohne Urteil seit Jahren im Gefängnis hält – wegen Bagatelldelikten? Da sehe ich keine Gründe, nur Parolen. Nein, das Einzige, das wir verteidigen sind Ziele: Für eine voll verstaatliche Petrobras, anstatt einer, die von einer privaten Diktatur geführt wird und zerschlagen. Ohne Subunternehmen, also auch ohne eine wesentliche Quelle der Korruption. Wir verteidigen eine Stadtentwicklung, die weit über den sozialen Wohnungsbau – den die Rechte abschaffen will – hinausgeht, wie auch einen Mindestlohn und Renten, die zum Leben reichen. Damit haben wir als kleine Gruppierung es geschafft, Zehntausende zu mobilisieren seit 2013. Das nehme ich als Zeichen dafür, dass es durchaus Raum und Möglichkeit gibt, eine unabhängige Linke zu entwickeln, die das als gemeinsames Programm hat, was ohnehin in den ärmeren Schichten der Gesellschaft einen nicht unbeträchtlichen Einfluss hat“.

„A BURGUESIA QUE DEMITE EM MASSA, ARROCHA SALÁRIOS, ATACA DIREITOS, SE APROVEITA DO QUE ELA MESMA PROVOCOU, PARA EXIGIR MAIS ATAQUES CONTRA A CLASSE TRABALHADORA“ am 17. März 2016 ist die Stellungnahme des Gewerkschaftsbundes Intersindical externer Link zur aktuellen Situation, in der hervor gehoben wird, dass es dem Bürgertum daraum gehe, eine Regierung zu haben, die noch konsequenter, allseitiger und offener gegen die Errungenschaften und Rechte der Arbeiterschaft vorgehe, als die bisherige. Es wird ebenfalls darauf verwiesen, dass auf keiner der großen Demonstrationen gegen die Regierung eine einzige soziale Forderungen erhoben worden sei – wohl aber serienweise solche für den Abbau sozialer Errungenschaften

Helmut Weiss
01. April 2016

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=95830
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