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Interview über die Wahlen in der Türkei mit einem HDP Aktivisten: Ein moderner Fürst im Serail

Wahlkampf a la Erdogan: Sivas Oktober 2015Zum einen gelang es der AKP, die HDP diskursiv als Unterstützerpartei von sogenannten kurdischen Terroristen und deren zivilgesellschaftlichen Verbündeten darzustellen und sie für die kriegerischen Einsätze verantwortlich zu machen, die die AKP selbst in Syrien und Rojava begonnen hat. Zum zweiten gelang es ihr, durch den Fokus auf den traumatisierenden jahrelangen Krieg in Kurdistan die HDP wieder auf ihren Status als »Kurdenpartei« festzuschreiben. Die AKP hat also den sehr alten Konflikt zwischen Türken und Kurden dazu genutzt, sich als Retterin in der Not zu inszenieren und hat auf eine militärische Lösung gesetzt“ – aus den Antworten von Baris Sulu auf die Fragen von Ceren Türkmen in der ausführlichen Fassung des Interviews „Ein Schock für alle Oppositionellen“ vom 17. November 2015 (ursprünglich in kürzerer Fassung im a&k 610). Wir danken der Autorin!

Ein Schock für alle Oppositionellen

Der queere Aktivist und HDP-Politiker Baris Sulu über die Neuwahlen in der Türkei – Ein Interview von Ceren Türkmen

Vorbemerkung:
Im Juni 2015 brachte es die linke HDP wie die Prognosen es zuvor schon projizierten tatsächlich auf 13,1%. Die AKP erlebte, auch wenn es paradox klingen mag, mit nach wie vor zwar dominierenden 40,8% dennoch einen destabilisierenden Gegenschlag. Nach dem überraschenden Wahlsieg konnten sie vor allem ihre bis dato durch autoritäre Machtpolitik und taktische Machtsiege verdeckte politische Krise nicht mehr verschieben. Bis in internationale Medien hinein sprach man von einer politischen Krise der AKP und des Präsidenten Erdogan. Hierzu hatten mehrere Faktoren geführt: 1. Die außenpolitischen Machtverschiebungen im Nahen Osten nach dem Krieg in Syrien und die neue führende Rolle der PKK-Guerilla im Grenzgebiet zu Syrien gegen den drohenden Einmarsch der ISIS Richtung Europa. Hinzu kamen die in den letzten Jahren systematisch ausgeweiteten sozialen, ökonomischen und politischen Selbstorganisierungsstrukturen und Projekte im kurdischen Gebiet. 2. Die Widersprüche in der Gesellschaft und eine kollektive oppositionelle Haltung zur autoritären Staatsgewalt hatten durch die Gezi Proteste 2013 ein bedeutsames Ventil für den spontanen Frust der Opposition gefunden. Die Gründung der prokurdischen HDP fiel ebenso in das Jahr 2013. Der zunehmend sichtbare Protest von feministischen und LGTB Vereinen gegen Gewalt an Frauen und Trans-Personen in der türkischen Gesellschaft und gegen die frauenfeindlich-chauvinistische Politik der AKP kommt hinzu. 3. Zuletzt waren es die wilden Streiks von bis zu 20.000 Arbeiter_innen und Fabrikbesetzungen im Mai 2015 bei Renault in Bursa, die sich gleichermaßen schnell von einem Betrieb zum nächsten in der Automobil- und metallverarbeitenden Industrie in der Westtürkei verstreut hatten, wie sie in ihrer Radikalität gegen die Gewerkschaften für Furore sorgen konnten. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der AKP und der Wirtschaftsboom standen kurz vor den Juni-Wahlen auf wackeligen Beinen und Europa als größter Abnehmer blickte mehr als skeptisch auf die westtürkischen Industriestädte. Seit den Juni Wahlen hat die AKP offensiv Koalitionsgespräche blockiert und mit einer islamisch-rechtspopulistisch-nationalistischen Repression auf Neuwahlen gedrängt. Der HDP haben sie die Kriegskarte im Inneren gezeigt; außenpolitisch ist die türkische Armee Ende Juli vermeintlicherweise wegen der ISIS in kurdische PKK Gebiete einmarschiert, um ihre logistischen Stützpunkte zu zerstören. Der Konflikt spitzte sich gegen die Zustimmung der USA und Europas um das Abyad Gebiet zu, das die PKK mit Unterstützung amerikanischer Luftschläge erobert hatte. Daraufhin hat die PKK mit dem Ende des Waffenstilstands geantwortet und die verdeckte „Bürgerkriegssituation“ offen gelegt. Den Selbstmordanschlag der ISIS inmitten von Ankara 2 Wochen vor den November Wahlen auf einer Friedenskundgebung der HDP konnten sie nicht vereiteln. Die HDP hat derweil willkürliche Versammlungsverbote erhalten, Büros wurden von AKP Anhängern angegriffen, hunderte oppositionelle Politiker_innen und Journalist_innen wurden verhaftet, TV-Sender gesperrt, in kurdischen Gebieten wurden willkürliche Ausgangssperren verhangen. Das Interview mit Baris Sulu findet zwei Tage nach den Parlamentswahlen über die Ergebnisse der November-Wahlen statt.

  • Das Interview

CT: Die parlamentarische Resonanz der neuen sozialen Kämpfe und Widersprüche schienen während der Juni-Wahlen auf staatlicher Ebene gegen Erdogan und die AKP in Form der HDP eine politische heterogene Plattform gefunden zu haben. Warum gelang das der HDP im November nicht? Zwischen den Wahlen liegen doch nur 4 Monate.

BS: Die AKP hat erstens die Friedenspolitik der HDP nach Hakkari als Unterstützerpartei von sogenannten „kurdischen Terroristen und ihren zivilgesellschaftlichen Verbündeten“ diskursiv und politisch umgedreht und sie für die kriegerischen Einsätze, die sie wegen der zunehmenden Machtstellung in Syrien und Kobane als auch Rojava selber begannen, für schuldig erklärt. Zweitens gelang es ihnen durch die Zentrierung auf den traumatisierenden jahrelangen Krieg in Kurdistan dabei die HDP als Partei der Kurden wieder einzugrenzen und darauf zu beschränken. Die AKP hat also einen sehr alten Konflikt zwischen Türken und Kurden zu ihrer eigenen Inszenierung und Krisenlösung mit militaristischer Gewalt freigesetzt. Die HDP konnte zu wenig auf diese Verdrehung eingehen und sich aus dieser Falle herausbewegen. Deshalb denke ich, dass die Überwindung der antidemokratischen 10% Hürde für die HDP während dieser Wahlen schon ein großer Erfolg war.

„Neue Staatsprojekt“ zwischen Krieg und Moderne

 CT: Sie haben ihre Macht auch auf der außenpolitischen Ebene durch die Provokation des bewaffneten Konflikts stabilisiert. Erdogan gelang die Integration der Außenpolitik mit dem Diskurs ihrer Vision einer „Neuen Türkei“ an der Seite und heute etwas weniger im Schatten des alten Vorbilds der USA.

BS: Sie stellen sich in ihrem Projekt als Großmacht im Osten nach Assad auf. Zunächst haben sie sich als Nato-Land gegen Obama aufgestellt und den Luftraum für USA Angriffe gegen die IS zugemacht. Die USA waren sogar in einen offenen Konflikt gegen den vermeintlichen „ISIS-freien Pufferzonen Plan“ von Erdogan nach der Eroberung von Tal Abyad durch die PKK getreten. Ende Juli gelang Obama dann doch ein „Big Deal.“ Sie haben Militärbasen und aktive Unterstützung an der Grenze für Luftschläge gegen ISIS Stellungen bekommen. Erdogan bekam im Austausch Unterstützung für den Pufferzonen-Plan im Grenzgebiet zu Syrien. Nicht nur die Wähler_innen haben dieses Mal eine offensichtliche Kriegspolitik der AKP bestätigt. Auch die USA und die EU haben das getan. Gleiches gilt für die EU, die Erdogan nun aus eigenen Interessen für ihre Grenzregime-Politik gegen die Flüchtlinge aufstellen werden und dabei seine aggressive Kriegspolitik und die autoritäre Politik unterstützen. Die volle Unterstützung von Erdogan lässt ihn vor seinen Wählern strahlen und als moderne Staatsmacht erscheinen, die Rückendeckung aus den USA und EU bekommt.

CT: In den internationalen und nationalen Medien wurde danach gefragt, ob es Wahlbetrug und Manipulationen gab.

BS: Ja, natürlich gab es die und selbst die internationalen Wahlbeobachter haben auch auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen. Die staatliche Machtfrage wurde allerdings mit der aggressiven Kriegspolitik beantwortet, die wiederum Bedrohung und Unsicherheitsgefühle in die Bevölkerung ausgeweitet hat. Wer gegen uns ist, der ist dagegen, dass sich die „Nation um ihre Kinder um ihre Sicherheit kümmert.“ Die Angst und der Schrecken vor Gewalt und Krieg haben gewirkt. Eigentlich war es aber auch bei vielen die Angst vor der den Auswirkungen der Wut. Die Angst- und Kriegspolitik war der große Betrug.

CT: Nach den Wahlen haben sich erstaunlich viel an den Einzug der AKP vor 13 Jahren ins Parlament erinnert. Ohne ein Jahr von der Regierung entfernt zu sein, ist es ihnen gelungen, sich neu aufzustellen , diskursiv im Projekt „Neue Türkei“ zu erneuern und fast ganze 50% zu erreichen.

BS: Ja, es war ein regelrechter politischer Schock für die Oppositionellen, von dem man sich noch erholen muss. Damals waren allerdings nur 3 Parteien im Parlament vertreten. Heute sind es durch die HDP 4. Ihm fehlen auch dieses Mal entscheidende Sitze, das Verfahren für das Präsidialsystem in einem ersten Schritt per Referendum einzuführen, das für Erdogans persönliche Machtposition so wichtig ist.

CT: Während der Pressekonferenz nach den Wahlen hat der Vorsitzende der HDP eine besonnene Analyse gemacht, in der er weniger wahlkampfanalytisch argumentierte. Er sprach vielmehr von einer gefährlichen Kriegssituation im Land und davon, dass sie keinen Wahlkampf betreiben konnten, sondern ihre Menschen und Wähler_innen schützen mussten. Und zwar vor faschistoiden Bedrohungen, die nicht nur von der ISIS kommen, sondern auch aus dem Staat. Demirtas analysiert im Gegensatz zu orthodoxen Gruppen sicher nicht ohne Grund die Politik als faschistoid. Welche Beziehung hat sich unter der AKP zwischen den breiten konservativen AKP-Wähler_innen, zivilgesellschaftlichen Apparaten und der Polizei entwickelt. Kann sie und wenn ja, wie mobilisiert die AKP die Massen?

BS: Die Regierung gibt, weil sie Angst hat vor der Bevölkerung, den Sicherheitskräften elementare Befugnisse. Der Präsident selber wird mit insgesamt 1.000 Schutzpolizisten geschützt. Im neuen innenpolitischen Sicherheitspaket sind die Rechte und Einsatzbereiche der Polizei systematisch ausgeweitet worden. Das tut er nur deshalb, weil Erdogan zuvor die Polizeistrukturen von seinem islamistischen Konkurrenten, der Gülen-Bewegung, zurückerobert hat. Hinzu kommt das neue Preisgeld für Hinweise auf Terrorist_innen aus der Bevölkerung. Das Preisgeld ist gestaffelt und kann für „Top-Terroristen“, aber auch für weniger wichtige vermeintliche Terroristen schon gelten. Bürger_innen selber werden hier als zivilgesellschaftliche Erweiterung der Polizei aktiviert. Das wird dazu führen, dass niemand niemandem mehr traut. Das Gesetz institutionalisiert, was die Menschen in der gesellschaftlichen Zerrissenheit, in der wir uns befinden, schon lange machen. Es gibt zudem organisierte, wie auch spontane Übergriffe gegen Linke, Oppositionelle, LGTBs, Kurden und Frauen. Sie bleiben auch ungestraft. Die Frage ist, wohin entwickeln wir uns, wenn NachbarInnen beginnen, sich gegenseitig an die Polizei auszuliefern. Kurz vor den Wahlen wurden zwei zwölfjährige Jungen an die Polizei ausgeliefert, weil sie den Präsidenten beleidigt hätten. Hetzkampagnen, aber auch einfache Informationen über Vereine oder Menschen werden über die Medien gestreut, reaktionäre Gruppen, aber auch unorganisierte Communities aus den Stadtteilen setzen sich in Bewegung und greifen Menschen an. Die Polizei wiederum schützt die Selbstjustiz der Massen. Zuletzt hat man diese Dynamik exemplarisch vor den Wahlen beim Angriff gegen das konservativ-nationalistische Boulevardblatt „Hürriyet“ gesehen. Aber erste Veränderungen nach den Wahlen mit der neuen politischen Situation und innenpolitischen Situation werden sich sicher bald zeigen. Vor allem ist offen, wie sich die HDP hierzu aufstellen wird und die Sozialen Bewegungen.

  • Über Baris Sulu

Baris Sulu ist Filmemacher, Politiker und seit 17 Jahren in der türkischen LGBT-Bewegung aktiv. Zwischen 2000 und 2012 arbeitete er bei der LGBT-Organisation KAOS GL zu HIV und war Redaktionsmitglied der Vereinszeitschrift. Zuletzt war er Sprecher des Vereins Pembe Hayat („Rosa Leben“), der sich für die Rechte von Transgender-Sexarbeiter_innen einsetzt. Seit 2012 kämpfen er und sein Partner Aras Güngür für das Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung. 2013 erschien seine Dokumentation über Transmänner „Dikkat Okulda Trans Var“ („Achtung, es gibt eine Transe in der Schule“). 2015 kandidierte er in der nordwesttürkischen Stadt Eskişehir bei den für die Regierungspartei AKP verheerenden Wahlen als erster offen queerer Politiker für die HDP. Seine Chancen auf Einzug in das Parlament wurden angesichts der positiven Wahlprognosen für die HDP als sehr realistisch eingeschätzt. Dennoch konnte er sein Amt nicht antreten. Islamistische Gruppen – allen voran die Hizbullah –, IS-nahe Gruppen sowie einfache, unorganisierte AKP-Anhänger_innen aus der Bevölkerung verunmöglichten mit öffentlichen Morddrohungen, homophoben und kurdenfeindlichen Beschimpfungen den Amtsantritt. Zuletzt kursierten selbst in Istanbul Flyer mit intimen Bildern vom Paar als Teil der Hetzkampagne gegen ihn und seinen Partner. Heute leben beide im politischen Exil in Berlin.

Baris Sulu hat sich im Mai während der wilden Streiks in der Türkei mit den Arbeiter_innen solidarisiert. Mit den Soliaktionen wurde auf dreifache Art eine neue politische Gelegenheit geschaffen. Arbeiter_innen treten in den Streik und LGTB Aktivist_innen, die für die HDP kandidieren, solidarisieren sich mit ihnen. Was sich nach „Pride“ am Bosporus anhört, ist Zeichen und Element eines neuen linken gesellschaftlichen Projekts.

Dazu Barış Sulu: „Oppositionelle Kräfte wollen etwas in Bewegung setzen und sind fest entschlossen, Produktions- und Reproduktionsbedingungen aus der Perspektive von Ausbeutung und Unterdrückung als Basis zu nutzen, ohne dabei verkrustete Grabenpolitiken zu nutzen. Ich habe die Soliaktion mit den Streiks damals organisiert, weil ich keinen Sinn in den gegenseitigen Grenzen der alten Klassen- und der LGTB oder Minderheiten-Identitätspolitik sehe. Der „Patrone“ oder die „Patrona“ hat bei den Renault Arbeiter_innen nicht auf ihre Sexualität geguckt, als sie sie von der Polizei haben verprügeln lassen. Es geht hier auch nicht um queere Automobilarbeiter_innen, sondern darum, queere Klassenpolitik zu machen und umgekehrt. Ich denke, dass das zu gegenseitigen Politisierung führen kann und sollte. Gemeint ist keine Erweiterung, sondern eine Radikalisierung auch der Arbeitsanalyse und entsprechender sozialer Kämpfe: Die HDP nimmt dieser Frage sehr ernst und spricht von einer basisdemokratischen Gewerkschaftsbewegung, die den gesellschaftlichen Streik ebenso einschließt wie den politischen Streik. „Arbeiter_in“ zu sein, bezeichnet nur nur (un) bezahlte Stammbelegschaft in den Kernindustrien, sondern auch (un-)bezahlte Hausarbeiter_innen, Arme, Landarbeiter_innen, Praktikant_inne, Schüler_innen und Erwerbslose.“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=89477
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