Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Buchempfehlung mit Leseproben von Ulrich Leicht

Christoph Jünke: Leo Koflers Philosophie der Praxis Der Autor und Kofler Biograf Christoph Jünke zieht Bilanz in einer Neuerscheinung zur Einführung in das Denken des Gesellschaftstheoretikers und Sozialphilosophen Leo Kofler, der vor 20 Jahren, am 28. Juli 1995, in seiner Wahlheimat Köln verstarb.

Der deutsch-österreichische Gesellschaftstheoretiker und Sozialphilosoph Leo Kofler (1907–1995) war ein herausragender Vertreter des deutschen Nachkriegsmarxismus und steht für einen „unverstümmelten, lebendigen Marxismus“ (Oskar Negt). Zeitlebens hat sich der an Max Adler und Georg Lukács geschulte „heimatlose Linke“ – gleichermaßen Vordenker wie Persona non grata der Neuen Linken – mit Themen der Geschichte und Gegenwart, der Philosophie- und Ideologiekritik, der Anthropologie und Ästhetik auseinandergesetzt und verstand seinen Marxismus dabei als eine Theorie mit praktischer Absicht. In seinem neuen Buch zieht der Autor und Kofler-Biograf Christoph Jünke nun eine vorläufige Bilanz seiner langjährigen Beschäftigung mit Koflers Leben und Werk. Er nähert sich dabei der anhaltenden Aktualität des sozialistischen Humanisten, verdeutlicht die Konturen seiner Philosophie der Praxis und spannt dabei einen Bogen von der sozialistischen Klassik bis zum Postmodernismus. Und einmal mehr versteht sich der Band nicht nur als Einführung in das Denken Leo Koflers, sondern auch als Auseinandersetzung mit früheren wie heutigen Marxismus-Diskussionen.

  • Der Autor – Christoph Jünke, Jahrgang 1964, hat nach seinem Studium an den Universitäten in Köln und Bochum lange Zeit als politischer Journalist gearbeitet und ist danach in die politische Wissenschaft, Abteilung Geschichtswissenschaft, gewechselt. Er arbeitet heute an der Fern-Universität Hagen, ist Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft externer Link und Autor sowie Herausgeber diverser Bücher. Bei LAIKA erschienen 2014 seine „Streifzüge durch das rote 20.Jahrhundert“ externer Link

Eine Buchempfehlung mit Leseprobe von Ulrich Leicht

Leo Kofler vor der RUBEs ist begrüßenswert, dass Christoph Jünke 20 Jahre nach Leo Koflers Tod – dieses leider zu wenig erinnerten Vertreters des deutschen Nachkriegsmarxismus – seinen zahlreichen bisherigen Veröffentlichungen jetzt eine Einführung in sein „gründliches Studium“ verlangendes Werk und Wirken hinzu gefügt, und der Hamburger LAIKA-Verlag publiziert hat. Das hier angezeigte Buch gewissermaßen ein theoretischer Ergänzungsband zu den Streifzügen, so wie diese ihrerseits quasi als ergänzende Lektüre zu den in diesem Buch dargelegten Positionen gelesen werden können. Auf diese „Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert“ hatten wir bereits im März 2014 auf labourNet aufmerksam gemacht.

In dem Vorwort zu seinem neuen Buch schreibt Jünke über seine Beweggründe:
Dieses Buch ist Wiederholung und Vertiefung zugleich. Es beschäftigt sich mit der anhaltenden Aktualität der Theoreme und Haltungen des marxistischen Gesellschaftstheoretiker und Sozialphilosophen Leo Kofler und vereinigt eine Auswahl alter, überarbeiteter und neuer Beiträge, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten als Neben- und Folgeprodukte meiner 2005 abgeschlossenen und 2007 unter dem Titel Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk 1907-1995 veröffentlichten Studie zu Koflers Leben und Werk entstanden sind. Das umfangreiche wissenschaftliche Werk ist damals auf starkes Interesse gestoßen. (…) In die folgenden Theoriediskussionen der deutschen Lin­ken ging diese kleine Hausse jedoch nicht wirklich ein und die akademische Wis­senschaft ignoriert marxistische Denker wie Kofler aus jahrzehntelangem Prin­zip. So ist es zwar gelungen, die Erinnerung an einen der originellsten deutschen Nachkriegsrnarxisten nicht ganz verblassen zu lassen, sie vielmehr auf einen ers­ten soliden Boden zu stellen, doch noch immer gehört Kofler zu den von der (ohnehin schlechten) linken Gedächtnispflege weitgehend Ignorierten. (…) Ob er auch in der näheren Zukunft dort verbleibt, wird die neue Generation zu entscheiden haben. Sie ist es, die nun vor der Aufgabe einer retrospektiven Aneignung auch des Koflerschen Werkes steht (eines Werkes, das überwiegend nur antiquarisch zu erwerben ist). Sie wird zu entscheiden haben, auf welche Weise sie mit ihrer Gegenwartsarbeit und Zukunftsforderung auch die Gedanken der Vergangenheit vollenden möchte und ob die von Kofler theoreti­sierten Zielvorstellungen und Sehnsüchte auch die ihren sind. (…) Die anhaltende Beschäftigung mit dem Werk Koflers erlaubte mir jeden­falls, meine im Sozialistischen Strandgutvorgelegte Darstellung und Interpreta­tion immer wieder zu überdenken, zu schärfen und entsprechend zu vertiefen. Wenn auch die folgenden Buch-Kapitel – dies sei gleich zu Beginn eingeräumt – in meinen Augen nichts substantiell Neues und über Sozialistisches Strandgut Hinausgehendes bieten, so versuchen sie nichts desto trotz den vor allem theore­tischen Gehalt des Koflerschen Marxismus nochmals klarer heraus zu destillieren und durch veränderte Aufbereitung und Gewichtung, sowie durch In-Bezug-Set­zung vor allem zu zeitgenössischen und heutigen Denkern deutlicher werden zu lassen. Anvisiert ist hier also eine Einführung in Koflers Denken, die auch jene erreichen möchte, die nicht zu dicken und teuren Büchern greifen (zumal mein Sozialistisches Strandgut bereits seit langem vergriffen ist). Und so findet sich in den folgenden Kapiteln Koflers Philosophie der Praxis und seine meines Erach­tens anhaltende Aktualität einmal mehr dargestellt und diskutiert.

In acht Kapiteln versucht uns der Autor die Haltung und das Denken dieses radikalen Gesellschaftskritikers und seine „Philosophie der Praxis“ näher zu bringen:

Das Kapitel 1 – Von der sozialistischen Klassik zur Kritik neoliberaler Globalisierung. Leo Koflers Marxismus als Theorie in praktischer Absicht“ – ist eine überarbeitete Zusammenfassung gleich mehrerer zuvor erschienener Aufsätze. „Es bietet“, wie Jünke darlegt, „einen einführenden Überblick über das zentrale werktheoretische Schaffen Koflers, behandelt die Grundpfeiler seines Verständ­nisses marxistischer Philosophie, stellt den Historiker der bürgerlichen Gesell­schaft und ihrer Ideengeschichte ebenso wie den Kritiker des Neokapitalismus und seiner spätbürgerlichen Ideologie vor, bevor es schließlich auf Koflers Kritik der organisierten Arbeiterbewegung und seine Theorie einer progressiv-huma­nistischen Elite als programmatischem Kern einer Neuen Linken eingeht und sein Wirken historisierend einzuordnen versucht.“ Ausschnitte daraus finden sich in Leseprobe 1 und Leseprobe 2 .

Diese verschiedenen Aspekte seines Werkes werden dann in den folgenden Kapiteln vertie­fend behandelt.

Das 2. Kapitel –Koflers Stalinismuskritik“ erschien bereits in dem Buch Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute (2007).

Kapitel 3 – „Sozialistischer Humanismus und marxistische Anthropologie“ – geht auf einen bislang unveröffentlichten Vortrag zurück, den Jünke Ende 2011 in Amsterdam, London, Neu-Delhi und Köln gehalten und für eine angelsächsische Theoriezeitschrift geschrieben hatte. Der Aufsatz nimmt die Analyse des 2. Kapitels wieder auf und verdeutlicht deren Zusammenhänge zu Koflers humanistischem Marxismus-Verständnis und seinem theoriegeschichtlich durchaus originellen Versuch der Grundlegung einer anthropologischen Erkenntnistheorie.

Die nächsten beiden Kapitel zeichnen die spezifischen Konturen von Koflers sozialistischem Humanismus.

Kapitel 4 – Der Streit um eine marxistische Ästhetik: Mit Kofler und Lefebvre über Adorno und Lukacs hinaus“ – erschien im Lukacs-Jahrbuch 2005 externer Link. Darin wird Koflers Kritik des ästhetischen Avantgardismus am Beispiel der berühmt-berüchtigten Adorno-Lukacs-Debatte in den Zusammenhang seiner Theorie der progressiven Elite und seiner Kritik des Frankfurter „Marxo-Nihilismus“ gestellt.

Das 5. Kapitel – „Pseudonatur und Pseudokritik. Krahl, Kofler und die Kritik der Frankfurter Schule in praktischer Absicht“ – ist die gekürzte Fassung eines ursprünglich für die Festschrift eines namhaften linken Frankfurter Theorie-Schülers bestellten und geschriebenen Aufsatzes, dessen Veröffentlichung aber nach Erhalt desselben ohne Angabe von Gründen abgelehnt wurde Er erschien dann 2003 in den Sozialistischen Heften für Theorie und Praxis. – Die Kritik der Kritischen Theorie wird dabei in den Kontext anderer Kritiken gestellt und an ihr die Widersprüche von Theorie und Praxis im westlichen Marxismus problematisiert. Es waren „Koflers Rede von menschlicher Natur, von einer marxistischen Anthropologie gar, sein explizit sozialistischer Huma­nismus, aber auch seine Kritik modernistischer Ästhetik-Konzeptionen und der hegemonialen Kritischen Theorie eines Adorno und anderer – all dies war ent­scheidend mitverantwortlich dafür, dass er zur Persona non grata linker Intelli­genz wurde, obwohl er doch gleichzeitig Fleisch vom Fleische, Geist vom Geiste derselben gewesen ist, wie an den zahllosen, auch dieses Buch durchziehen­den Vergleichen mit den neu-linken Geistesgrößen wie Theodor W. Adorno, Georg Lukacs, Henri Lefebvre, Herbert Marcuse, Isaac Deutscher, E.P. Thomp­son, Raymond Williams, Ernest Mandel, Perry Anderson, Terry Eagleton, Hans-Jürgen Krahl, Peter Brückner usw. deutlich wird.“ (Jünke im Vorwort)

Die Beiträge in den beiden folgenden Kapiteln setzen sich kritisch mit anderen Kofler-Interpretationen auseinander. Der Aufsatz in

Kapitel 6 – „Wie ein reaktionäres Häuflein versucht, den Leo Kofler auf rechtsaußen zu drehen“ – stammt aus dem Jahre 2008.

Kapitel 7 – „Kofler und die Kommunisten. Anmerkungen zu Hans Heinz Holz und Werner Seppmann“ – ist eine Erstveröffentlichung.

Einen Höhepunkt und bemerkenswerten Abschluss findet das Buch mit dem Beitrag in Kapitel 8 – „Ein Grenzgänger des 20. Jahrhunderts“ -, der jüngst in einer Festschrift für Peter Brandt erschienen ist und den Christoph Jünke hier, Wiederholungen vermeidend, in gekürzter und überarbeiteter Form aufgenommen hat. Dabei lässt uns der Autor erkennen und nachvollziehen, was für ihn in seiner nun schon jahrzehntelangen Beschäftigung mit Kofler so fasziniert und wichtig geworden ist:
Es war Koflers gelebtes Ethos, seine ebenso theoretische wie praktische Haltung, die mir jenseits einzelner seiner Theoreme und ihres Wahrheitsgehaltes das entscheidende Vermittlungsglied lieferte zwischen den theoriepolitischen Kontinuitäten seines Werkes und seiner von bemerkenswerten Brüchen geprägten Biografie (wie ich sie schließlich im letzten Kapitel schildere). Und ich denke, dass auch Ernst Bloch darauf anspielte, als er seinen geschätzten Kollegen und Genossen Kofler nicht zu Unrecht zu einem originär dialektischen Denker stilisierte: ‚Dialektisches Denken ist mehr als Sich-Vergewissern von dem, was auch ohne es ist. Denn es weiß sich stets als Moment dessen, was es begreift. Es kann daher gerade für den dialektischen Materialismus keine einseitige Ableitung des Bewusstseins aus dem ökonomischen Sein geben, dergestalt, dass dieses als schlechthinnige causa sui alles andere determinierte. Vielmehr macht es das Wesen der menschlichen Verhältnisse aus, eben die Verhältnisse von handelnden, mit Bewusstsein begabten und ihre Zwecke verfolgenden Menschen zu sein. Marxismus ist somit der von einer rein kontemplativen Beziehung des Denkens zum Sein weit entfernte Versuch einer historischen Selbsterkenntnis des produktiven Subjekt-Objekts der Gesellschaft. Dies gilt in besonderem Maße für das Denken Leo Koflers, das wie schon Lukacs‘ Geschichte und Klassenbewusstsein der Wiederbelebung einer marxistischen Dialektik gewidmet ist. ‘ (Bloch 1977, S. 143) In einer Zeit, in der viel geschrieben wird von einer Renaissance marxistischen Denkens, sollte dies nicht vergessen werden.“ (Jünke im Vorwort)

Eine Liste der zitierten Literatur schließt den rundum gelungenen und lesenswerten Band 38 in der LAIKAtheorie-Reihe ab.

Ulrich Leicht, Rentner, Industriebuchbinder, langjähriger BR-Vorsitzender, gesellschaftskritischer Aktivist in der IG-Druck, IG Medien, zuletzt ver.di und bei der Gewerkschaftslinken, Vorstandsmitglied bei Labournet.de und Mitglied im Berliner Verein zu Förderung der MEGA-Edition e.V

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=84371
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