»
Brasilien »
»

Millionen Menschen auf den Strassen Brasiliens: Für die Regierung. Gegen die Regierung. Um welche andere Politik geht es dabei?

Pro Dilma DemoDas Wochenende Mitte März 2015 war eines höhererer politischer Spannung in Brasilien: Sowohl für als auch gegen die Regierung der Präsidentin Rousseff (Arbeiterpartei, PT) demonstrierten so viele Menschen, wie selten zuvor. Das besondere Kennzeichen: In beiden Lagern, die sich seit den Protesten im (deutschen) Sommer 2013 deutlicher definiert als in den Jahren zuvor gebildet haben, wurde eine „andere Politik“ gefordert. Vor dem Hintergrund einer Wahl im Oktober 2014, die die politische Rechte in den Vormarsch gebracht hatte – und mit dem Anlass einer massiven Korruptionsaffäre im wichtigsten (noch?) staatlichen Unternehmen Petrobras, die Menschen aus der engsten Umgebung der Präsidentin betraf. Dazu unsere kommentierte Materialsammlung von Helmut Weiss vom 16. März 2015 aus Statements, Medienberichten und Telefongesprächen „Putschgefahr oder was? Die brasilianische Rechte mobilisiert“.

Was eigentlich ist Korruption? Und wer demonstriert wogegen?

Überfliegt man die ersten Berichte, die in der BRD über die Demonstrationen in São Paulo und vielen anderen Landeshauptstädten publiziert wurden, fallen zwei Dinge sehr schnell ins Auge: Zum einen wird berichtet, es habe sich um Demonstrationen gegen die Korruption gehandelt. Zum anderen wird so gut wie gar nicht über die Demonstrationen am Freitag berichtet, die ebenfalls Hunderttausende mobilisierten – für die Regierung. So beispielsweise: „Regierungsgegner hatten am Sonntag landesweit friedliche Protestaktionen organisiert. Die größte Menschenansammlung gab es in São Paulo, wo Rousseff und ihre Arbeiterpartei PT bei den Wahlen 2014 eine herbe Schlappe erlitten hatten. Dort gingen auf der zentralen Bankenmeile Avenida Paulista laut Polizei eine Million Menschen auf die Straße. In Curitiba waren es 80 000 Menschen, in der Hauptstadt Brasília fast 50 000 Menschen, in Belo Horizonte, Goiás und anderen Städten jeweils Zehntausende. Lokale Medien schrieben von landesweit über zwei Millionen Teilnehmern“ in dem redaktionellen Artikel „Millionen gegen Rousseff“ externer Link am 16. März 2015 in der taz, worin die Zahlenangaben über die TeilnehmerInnen umstandslos so wiedergegeben werden, wie sie die Militärpolizei veröffentlichte. Was auch in dem redaktionellen Bericht „Hunderttausende gehen gegen Regierung auf die Straßeexterner Link ebenfalls am 16. März 2015 in Spiegel-Online der Fall ist. Der Fall, der im Zentrum der Proteste steht ist der Bestechungsskandal beim wichtigsten Unternehmen des Landes, der Petrobras, ein globaler „big player“ der Ölwirtschaft – Lava jato (Autoschnellwäsche) ist der Name, den die Medien erfunden haben. „Anfang Februar war Maria das Graças Foster, Petrobras-Direktorin und enge Vertraute von Präsidentin Dilma Rousseff, nach öffentlichem Druck zurückgetreten. Rousseff, die von 2003 bis 2010 Verwaltungsratsvorsitzende des Unternehmens war, bestreitet eine persönliche Beteiligung. Nichtsdestotrotz sanken die Beliebtheitswerte der Präsidentin nach den neuesten Entwicklungen im „größten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes“ auf 23 Prozent. Die rechte Opposition nutzte den Skandal bereits im vergangenen Jahr als Wahlkampfthema. In den vergangenen Wochen wurden Stimmen lauter, die eine Amtsenthebung der Präsidentin fordern. An Demonstrationen beteiligten sich bisher zwar nur wenige Brasilianer, jedoch könnte die Bewegung mit einem möglichen Prozess an Fahrt gewinnen. Für den 15. März rufen rechte Gruppen und Oppositionsparteien zu Protesten im ganzen Land auf“ diese kurze Umschreibung ist aus „Verfahren gegen Spitzenpolitiker im Petrobras-Skandal?externer Link von Niklas Franzen am 06. März 2015 in amerika21.de, worin die Entwicklung des Skandals zusammengefasst wird.

Nun gäbe es, wie überall, auch in Brasilien genug Gründe, gegen Korruption zu sein – und jetzt hat sich die Chance geboten, einen großen Skandal unter Beteiligung einer ganzen Reihe von PT-PolitkerInnen und ihrer Koalitionsverbündeten – vor allem aus der immer und ewig Regierungspartei PMDB – zu enthüllen: Bisher waren solcherart Skandale – bis auf den Fall Dirceu – meistens damit beantwortet worden, andere Parteien hätten in jedem Fall größere Bestechungsaffären, was insofern zutraf, als solche mit PT Beteiligung oftmals (noch) reichlich amateurhaft wirkten.

Anfang Februar rang sich die Präsidentin durch, ihre enge Freundin und Petrobras-Direktorin Maria das Graças Foster sowie den gesamten Vorstand des Konzerns zu entlassen. Da war die Krise des einstigen Prestige-Unternehmens und wichtigsten Energiekonzerns Lateinamerikas schon zu einem Staatsskandal geworden, der zunehmend auch die regierende Arbeiterpartei PT in Mitleidenschaft zieht“ – aus „Der Ölriese und seine „Autowäscheexterner Link von Andreas Behn am 17. Februar 2015 in der taz, worin versucht wird, eine Differenzierung in den Ermittlungen hervorzuheben.

Also: Petrobras ist der Skandal. So weit, so gut. Alleine: Wenn die mediale Dreckschleuder TV Globo auf ihrer Webseite fett titelt „Millionen gegen Korruption“ könnte man Ausführungen über die Korruption damit beginnen, wie das Medienunternehmen Globo von einem regionalen Betrieb in Rio de Janeiro zu der (im Zeitalter neuer Medien etwas weniger) absolut beherrschenden Macht auf dem brasilianischen Medienmarkt wurde und zum Global Player. Etwa durch die Zuteilung der Lizenzen 1965 durch die Militärdiktatur, aus deren Anlaß immer wieder die nie untersuchte Frage aufgeworfen wurde, wohin das vom US Konzern Time-Life bereit gestellte Geld denn wohl geflossen sei (ebensowenig wurde die These untersucht, dass diese Taschen an Uniformjacken mit hohen Abzeichen sich befunden hätten). Oder, aktueller: Wer denn etwa die Gelder der Firma Siemens erhalten hat, die in Zusammenhang mit dem riesigen Geschäft Metroausbau in Sao Paulo geflossen sind. Oder, hierzulande bekannter, wie etwa Konsortien der Bauindustrie wie Correia Camargo an die zahlreichen Aufträge in Zusammenhang mit der Fussball WM 2014 gekommen sind. Dies ist die eine Seite – was wird zum Skandal. Und was nicht. Jaime Pereira aus Rio, langjähriger Aktivist der Petrobras-Gewerkschaft FNP (Nationale Föderation der Erdölarbeiter) sieht das am Telefon so: „Klar ist, sie suchen sich heraus, was ins Konzept passt, aber das tun sie, seitdem die PT an der Regierung ist. Aber es ist mehr als das, die ganze Argumentation erwähnt den politischen Kauf von Entscheidungen nicht, der das zentrale Element von Korruptionskritik sein müsste, sondern es werden stattdessen sogenannte Werte propagiert, wie etwa Anständigkeit, die dann auch bruchlos in die Argumentation jener Kräfte eingepasst ist, die schon im Sommer 2013 beteiligt waren, als die Demonstrationen ganz andere waren, die da Familie, Gott und Vaterland zu vertreten vorgeben„.

Der Unterschied der Demonstrationen im Juni 2013 zum März 2015

rechte fordern militaerputschMan kann die Unterschiede durchaus auf den ersten Blick sehen – und auch daran, wer zu den Demonstrationen aufrief und wer nicht. Waren beispielsweise die Demonstrationen vor der WM etwa in  São Paulo – nicht ausschliesslich, aber stark – geprägt von der Jugendbewegung gegen hohe Fahrpreise im Nahverkehr, so waren diesmal die zahlreichen Gruppierungen dieser Bewegung überhaupt nicht vertreten. Wie auch, als weiteres Beispiel, die linksoppositionelle Gewerkschaftsföderation CSP Conlutas, die in der Erklärung „CSP-Conlutas: é hora de preparar a luta unificada rumo a uma Greve Geral em defesa dos direitos dos trabalhadores“ vom 11. März 2015 externer Link öffentlich dazu aufrief, sich nicht an diesen Demonstrationen zu beteiligen – und in dieser Erklärung zugleich unterstreicht, dass es Unzufriedenheit in allen Bereichen der Gesellschaft gibt, eben auch und gerade in der Arbeiterschaft, die in den Maßnahmen der neu gebildeten zweiten Rousseff-Regierung Angriffe direkter Art erlebt.

Den Unterschied macht Ubirajara Alves de Freitas, Mitglied im exekutiven Komitee der Nationalen Föderation der Metallgewerkschaften (CNM – CUT) in seiner Antwort deutlich: „Nun, als 2013 die Demonstrationen im Vorfeld der WM – war das Fußball, ich interessiere mich nicht mehr sehr dafür, da war irgendwas mit Deutschland – stattfanden, da gab es auf der Sitzung des Exekutivkomitees einen Resolutionsentwurf, der besagte, das wäre die politische Rechte, die da gegen „unsere“ Regierung“ demonstriere. Ich habe dann in der Debatte gesagt, dass genau dies falsch sei. Der schwarze Block ist nicht rechts, die Jungen gegen Fahrpreiserhöhung sind nicht rechts, die Menschen, die sich dagegen wehren, wegen Großbauten zwangsweise umgesiedelt zu werden sind nicht rechts – und noch ein paar mehr. Klar, auch damals war die Rechte dabei aktiv – sie versucht, genauso wie wir von der Linken bei Bewegungen Einfluss zu gewinnen. Heute hast Du keine einzige soziale Forderung, sondern nur Ausdruck des Hasses auf die Regierung, das ist der wesentliche Unterschied, da ist die Rechte auf der Strasse„.

Ziemlich knapp und deutlich zusammengefasst sind diese Unterschiede etwa in dem Beitrag „Brasiliens reaktionäre Rechte“ von Niklas Franzen im Blättchen Nr 2 vom 19. Januar 2015 externer Link worin es unter anderem heißt „Nun entlädt sich der Frust dieser „harten“ Rechten auch auf der Straße. Am 1. November, eine Woche nach der Wahl, demonstrierten zum ersten Mal 2.500 Menschen in São Paulo für die Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff. Ultrarechte Politiker und andere Gruppen hatten zu dem Protest aufgerufen. Zahlreiche Demonstranten forderten dabei auch eine Intervention des Militärs„.

Betrachtet man sich die sozialen Medien genauer – und natürlich ist es auch in diesem Fall so, dass sie zwar durchaus sehr wirksam sind, aber dass, wie stets, auch dahinter politische Organisationen stehen, die ihre Ressourcen einsetzen – so lassen sich drei verschiedene politische Strömungen unterscheiden, die hier zusammenwirken. Unterschiedlich, wohlgemerkt in ihrer Radikalität, geeinigt in ihrem reaktionären Denken und Tun. Vicente Trindade, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft in der Datenverarbeitung in Brasilia (Sindados) sagt dazu: „Wenn man versucht, das aufzuschlüsseln, wer da aktiv ist, lassen sich drei Zentren festhalten, die sich um Netzblogs gruppieren und jeweils prominente FürsprecherInnen oder Galionsfiguren haben, aber hinter denen natürlich weitaus mehr an Organisationskraft steckt, als hinter einem gewöhnlichen Blog. Du hast eine Strömung, die schon ziemlich sichtbar die Interessen der großen Unternehmen vertritt, die auch teuer und gesponsort aussehen. Die haben richtig prominente Leute, die für sie den Aushang machen, wer weiss, was die dafür bekommen – ein paar bekannte Schauspielerinnen und Ronaldo, den Fußballer. Das ist schon erstaunlich, dass sich so jemand traut, über Korruption zu reden, der so viel von der Fifa-Mafia und Nikes asiatischen Schwitzbuden profitiert hat, wie kaum ein anderer. Und dann gibt es einen Kreis, der die jungen Selbstständigen vertritt, die alles privatisiert haben wollen, um selbst Geschäfte machen zu können – und natürlich vor allem die Petrobras, da würden sich ja Milliardengeschäfte auftun, die für viele etwas bieten. Das ist vor allem die Paulistaner Besonderheit, davon gibt es in Brasilien nirgends so viele wie in  São Paulo. Und dann gibt es, ganz stark, die Rechtsradikalen, die nach einer neuen Militärdiktatur schreien. Verbunden mit serienweise rassistischer Tiraden gegen etwa die Quotenpolitik der Regierung an den Universitäten, das ist der rechtsradikale Abschaum, der hier geduldet worden ist, weil es nie eine Aufarbeitung der Diktatur gegeben hat, da erntet jetzt die PT, was sie selbst verschuldet hat„.

Die Gewerkschaften, Petrobras und die Alternativen

Petrobras, 1953 gegründet – sollte in den 90er Jahren von der neoliberalen Regierung des PSDB Präsidenten (und Soziologieprofessors) Fernando Henrique Cardoso (FHC genannt) provatisiert werden, genauso wie die Erzgesellschaft Vale do Rio Doce – im Fall der Petrobras gelang das nur teilweise, der brasialisniche Staat blieb einziger Großaktionär. Hatte der feine Herr Professor die Vale noch für den lächerlichen Preis von 100 Milliarden Dollar sozusagen nach Japan verkauft – wo man jährlich etwa 15 Milliarden Gewinn damit macht – scheiterte er bei der Petrobras, die immer auch als Emblem nationaler Unabhängigkeit diente. Jaime Pereira, der Ölgewerkschafter aus Rio sagt dazu: „Du kannst schon davon ausgehen, dass Petrobras für viele Brasilianer auch eine Emotion ist – und das erst recht, nachdem das Pré Sal entdeckt wurde, die riesigen Ölvorkommen vor der Küste, deren Entdeckung eben auch deutlich machte, welch entwickelte Ingenierustätigkeit Petrobras hat – mehr jedenfalls als beispielsweise Exxon. Die Gewerkschaft bei Petrobras hat schon lange darauf hingewiesen, dass es da dunkle geschäfte geben muss – aber sie hat nicht Alarm gegeben, weil sie eben im Konvoi der PT segelt. Wir von der Gewerkschaftsopposition hatten das immer versucht und eigentlich erst jetzt richtiges Echo dazu bekommen – natürlich nicht von der Rechten, weil wir ja gegen Privatisierung sind, wie so viele, das haben ja die letzten Tage auch gezeigt. Die Paulistaner Jungs aus der Pribvatisierungsliga kriegen hier von der Belegschaft eher aufs Maul, wenn sie mal auftauchen, das war 1-2 mal der Fall. Aber: Unsere Alternative ist es zu demokratisieren statt zu privatisieren, das heißt, die Übel einer bürokratischen Wirtschaft nicht mit den Mitteln der Diktatur des Eigentümers vergeblich zu bekämpfen, sondern über strukturierten Einfluss der Belegschaft und der Bevölkerung, wie – das müsste man dann disktuieren und ausprobieren„.

Der Beitrag „Petrobrás, símbolo de luta e capacidade de superação do povo brasileiro“ von Emanuel Cancella am 12. März 2015 dokumentiert bei indymedia externer Link ist eine Art Zusammenfassung der gewerkschaftlichen Stellung zur Petrobras – zumindest der gewerkschaftsoffiziellen, denn Cancella ist im Vorstand der Nationalen Ölarbeiterföderation FNP tätig. Darin zeichnet er die Geschichte des Unternehmens seit seiner Gründung nach – und die Geschichte der Privatisierungsversuche in den letzten 20 Jahren.

In dem Artikel „Verdades e aparências: Pasadena é só a ponta do novelo de linha“ vom 08. Mai 2014 hat die Gewerkschaftsopposition der Petroleiros externer Link ziemlich deutlich unterstrichen, dass es in bezug auf die Regierungspolitik gegenüber Petrobras eine Kontinuität zwischen der PSDB Regierung von FHC bis 2002 und den ‚PT Regierungen danach gibt – die „scheibchenweise“ Privatisierung.

In der Pressemitteilung „Para FNP, nova diretoria da Petros peca por ligação com governo em detrimento da categoria“ der Gewerkschaft FNP vom 04. März 2015 externer Link wird unterstrichen, dass die Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat gegen die Besetzung der neuen Unternehmensleitung gestimmt haben – aber dass es auch zahlreiche Vertreter der Gewerkschaft in exekutiven Funktionen gibt – ein Hinweis darauf, dass die Gewerkschaft bei Petrobras einen entfernt vergleichbaren Status hat, wie etwa hierzulande in (einst) Montanmitbestimmten Betrieben.

Was ist mit dem Putschversuch? Wie sehen Brasiliens Perspektiven der nächsten Zeit aus?

plakat volksbrigadenDie „Familie“ der Arbeiterpartei PT, ruft dazu auf, den Putschversuch der Rechten zu verhindern. Gibt es den? Oder ist das ganze nur ein Versuch der PT, die linkeren Kräfte hinter sich zu bekommen?

Der Gewerkschaftsbund CUT, immer noch – neben der eigentlichen Partei – die soziale und politische Hauptkraft des „PT-Konvois“, sieht das in der Berichterstattung über die – hierzulande kaum aufgetauchten – Demonstrationen für die Regierung in der Pressemitteilung „100 mil exigem mudança nos rumos da política, mas sem golpe à Democracia“ vom 13. März 2015 externer Link als Kampf ziwschen demokratischen und antidemokratischen Bestrebungen. Wobei – im Gegensatz zu noch 2013 etwa – schon sehr deutlich wird, dass die CUT eine Veränderung der Regierungspolitik fordert. Es wird darin deutlich, dass die Politik von Rousseff nach der Wahl vom Oktober 2014 – sie nannte es selbst „die Gräben zuschütten“ – auf sehr viel Kritik stösst, weil sie noch deutlicher als vorher einen neoliberalen Kurs einschlägt, was sich auch etwa in der personellen Besetzung der Ministerien ausdrückt – aber eben auch und vor allem in den ersten „Reformen“ nach der Neuwahl, die allesamt in Richtung Abbau von Sozialstaat und Arbeiterrechten gehen.

Die andere besonders wichtige Organisation im PT Verbund, die Landlosenorganisation MST (die nach der „Vereinnahmung der CUT durch die erste Lula-Regierung eine Zeit lang der Pol der sozialen und politischen Protestbewegungen von Links gewesen war, diese Rolle aber inzwischen schon seit einiger Zeit ebenfalls eingebüßt hat) warnt vor einem Putsch, der im Rahmen der Institutionen stattfinden könne, etwa durch das mit der grössten rechten Mehrheit seit 1989 besetzten Parlament oder durch das Verfassungsgericht. „Stedile: sociedade não aceitará golpes do Congresso ou Poder Judiciário“ ist ein Interview des Koordinators der MST, das dies am 27. Februar 2015 dokumentiert externer Link in der JPS, wie er von vielen genannt wird, vor allem die These vertritt, dass der Angriff der Rechten auf die Regierung weniger dieser selbst gelte, als vielmehr den Forderungen jener Bewegungen, die die Wiederwahl mit ermöglicht haben und nun eine andere Politik fordern.

„‘Constrói-se clima de tensão no país, para amedrontar protestos por direitos’“ ist ein Artikel von Gabriel Brito und Paulo Silva Jr beim linken, regierungskritischen Correio da Cidadania am 13. März 2015 externer Link in dem ebenfalls der Aufmarsch der Rechten als vor allem gegen die sozialen und politischen Protestbewegungen gerichtet analysiert werden – als ein Beispiel dafür, wie viele linkere Kräfte es tun.

Das die Aktivität auch und gerade gegen jene Bewegungen gerichtet ist, die Ausdruck der Hoffnungen und Bestrebungen des „niederen Volkes“ sind, zeigt auch der – an historischen Vorbildern orientierte – Suchaufruf „Tot oder lebendig“ gegen J. P. Stedile, der zunächst noch als böser Witz durchgehen mag – aber auch das wäre schon genug, dass solche Witze wieder salonfähig würden. In der Stellungnahme der CUT „CUT se solidariza com Stedile“ vom 12. März 2015 externer Link wird auch deutlich, dass der Autor des Plakats ein Lokalpolizist ist…

Die linkeren Kräfte versuchen ihrerseits eine Politik zu entfalten, die die wachsende Unzufriedenheit mit und Kritik an der Regierung in Aktionen umsetzt, die sich von jenen der verschiedenen rechten politischen Strömungen deutlich unterscheiden. Die CSP Conlutas etwa versucht dies im Sinne der vorne bereits angeführten Erklärung „CSP-Conlutas: é hora de preparar a luta unificada rumo a uma Greve Geral em defesa dos direitos dos trabalhadores“ vom 11. März 2015 externer Link worin in Zusammenarbeit mit einer Reihe anderer Gewerkschaften die Perspektive eines Generalstreiks aufgezeigt wird, der allerdings noch viel Vorarbeit bedürfe.

Der Beitrag „A direita nao precisa de impeachment“ von Gilberto Magnolli am 04. März 2015 im Alainet externer Link fasst eine allgemeine Einschätzung der linkeren Strömungen zusammen, die da sagt, die politische Rechte brauche eben das Amtsenthebungsverfahren nicht (und auch die Unternehmerverbände vertreten diese Position mit keinem Wort, auch die der Agrarkapitalisten nicht – ganz im Gegensatz etwa zu ihrem hysterischen Ruf nach einem Militärputsch 1964) – und sie braucht diese Verfahren nicht, weil die PT Regierung die Agenda der Unternehmen getreulich umsetze.

Die Brigadas Populares, eine jener linken Organisationen, die bei der Präsidentschaftswahl im zweiten Wahlgang dazu aufriefen, Dilma zu wählen „ohne jede Illusion, einzig um Aécio Neves zu verhindern“ sehen dann auch in dem „Gerede von Putschgefahr“ eine Taktik, die Volksbewegungen sozusagen zur Verteidigung der PT Regierung zu erpressen. In der Erklärung „As Brigadas Populares no Brasil de Hoje: a falácia do golpe, a tensão Pró-Impeachment e a questão da Petrobras“ vom 02. März 2015 externer Link unterstreichen sie nicht nur ihre Verteidigung der Petrobras sondern heben vor allem darauf ab, dass in der politischen Konfrontation zwischen der PSDB und der PT die Bestrebungen der breiten Mehrheit der Bevölkerung keinen Raum hätten, den sie sich stattdessen selbst erkämpfen müssten. Pedro Otoni, einer der Sprecher der Koordination der Volksbrigaden sagt am Telefon zu den Perspektiven, die seine Organisation verfolgt: „Das ist auch heute so, dass es natürlich nicht nur Rechte sind, die da demonstrieren, das ist eindeutig. Aber es ist ebenso eindeutig, dass die Rechte ihre politische Agenda in diesen Demonstrationen durchsetzt – korrupte Politiker und nicht etwa ihre Politik in den Mittelpunkt zu stellen ist die zentrale Achse dieses Vorgehens, denn bei den Inhalten da haben sie nicht so viele Alternativen. Wobei ihnen eben aktuell entgegenkommt, dass mit diesem Thema auch einer ihrer zentralen Punkte, die Privatisierung der Petrobras voran getrieben werden kann, was glaubst Du, was die sich da für Geschäfte ausrechnen. Ansonsten bleiben wir bei unserer Grundhaltung, nicht auf diese oder jene Partei zu setzen, sondern auf die Selbstorganisation der Menschen, dabei haben wir sowohl was Besetzungen in der Stadt betrifft, als auch bei der wachsenden Zahl neugebildeter gewerkschaftlicher oder gewerkschaftsähnlicher Organisationen, bei all diesen Prozeßen, die wir unterstützen, sehr gute Erfahrungen gemacht„.

Verfasst am 18. März 2015
(Die Telefongespräche wurden allesamt am 16. und 17. März geführt)
Helmut Weiss

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=77218
nach oben