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Burkina Faso

Burkina Land der Aufrechten

Artikel von Bernard Schmid vom 6. November 2014Aufstand in Burkina Faso

Am vergangenen Donnerstag früh setzte Blaise Compaoré seinen Fuß auf die rote Linie. Ihre Überschreitung, das wusste der 63jährige Präsident nach über 27 Jahren ohne Unterbrechung an der Macht, drohte heftige Reaktionen auszulösen. Das neue Mandat als Staatsoberhaupt, das er anstrebte – formal das fünfte – drohte das Mandat zu viel zu werden. Zwar waren viele Kritiker im Lande ohnehin der Auffassung, dass seine Präsidentschaft von Anfang an ein Übel darstelle. Doch sein Wunsch, seinen Verbleib an der Macht noch weiter und auf unbestimmte Zeit zu verlängern, brachte viele weitere Menschen noch zusätzlich gegen ihn auf.

Der Artikel 37 der Verfassung Burkina Fasos – des „Lands der Aufrichtigen“, wie die Staatsbezeichnung des früheren Obervolta seit 1984 lautet – beschränkte die Zahl der Präsidentschaftsmandate, die eine Person nacheinander ausüben kann, auf zwei. Zwar hatte Compaoré bereits mehr Amtszeiten hinter sich und hielt sich mittlerweile länger an der Macht als etwa der tunesische Autokrat Zine el-Abidine Ben ‚Ali, den die Bevölkerung seines Landes nach 23 Jahren abschütteln konnte. Doch war der Verfassungstext 1997 und 2000 abgeändert worden, beim zweiten Mal, um die Dauer des Präsidentenmandats von sieben auf fünf Jahre zu verkürzen, wie es Frankreich zur selben Zeit betrieb. Blaise Compaoré handelte dabei unter erheblichem Druck der Straße, denn die Ermordung des regimekritischen Journalisten Norbert Zongo im Dezeber 1998 hatte eine Protestwelle ausgelöst, die seine Macht ernsthaft zu bedrohen schien. Die Verfassungsänderung von 2000 erlaubte ihm jedoch, die Zählung der Amtszeiten von vorne zu beginnen: Zwar sollten ihm nur zwei Amtsperioden vergönnt sein, doch erst beim darauffolgenden Mandat solle man mit dem Rechnen beginnen.

Seinerzeit war Blaise Compaoré genau drei Wochen vor Ben Ali ins Amt gekommen: Der Burkinabè durch einen blutigen Staatsstreich, der Tunesier hingegen durch einen unblutigen so genannten „medizinischen Putsch“, indem er durch Ärzte die Amtsunfähigkeit seines Vorgängers, des Republikgründers Habib Bourguiba, feststellen ließ. Bourguiba konnte seine alten Tage friedlich in seiner Herkunftsstadt Monastir verbringen. Dies war Compaorés Amtsvorgänger, dem linksrevolutionär inspirierten Präsidenten Thomas Sankara, nicht vergönnt. Zusammen mit dreizehn weiteren Personen wurde er ermordet, sein Stiefsohn und Minister Blaise Compaoré war der Drahtzieher dabei. Infolge seines Rechtsputschs näherte Burkina Faso sich wieder an die frühere Kolonialmacht Frankreich an und setzte allen sozialistischen Selbstverwaltungsexperimenten, die unter Sankara durchgeführt worden waren, ein jähes Ende.

Thomas Sankara hatte bahnbrechende Reformen bei der Frauenemanzipation durchgeführt und weibliche Ministerinnen oder Präfektinnen auf höchste Staatsposten eingesetzt, gegen Genitalbeschneidung bei Frauen gekämpft, die Verschuldung der so genannten Dritten Welt angeprangert und seinen Ministern sowie sich selbst dicke Amtslimousinen verboten. Er hatte Importsubstitution betrieben, um etwa die einheimische Textilproduktion davor zu retten, durch die Konkurrenz aus Ländern mit höherem Produktivitätsniveau plattgewalzt zu werden, und Korruption unter Amtsträgern bekämpft. All diese Reformen bezahlte er letztendlich mit seinem Leben, nachdem sein Amtskollege François Mitterrand den ungestümen jungen Präsidenten – Sankara starb vor dem Erreichen seines 38. Lebensjahrs – auf einem internationalen Gipfel ermahnt hatte, er werde nicht weit kommen. Der Chef der früheren Kolonial- und realen Vormacht musste es wissen.

Blaise Compaoré wurde danach für ein Vierteljahrhundert lang das Hätschelkind Frankreichs in seiner neokolonialen Einflusssphäre in Afrika. Der burkinabesische Präsident tauchte überall im französischsprachigen Afrika als „Vermittler“ bei Krisen und Konflikten auf, natürlich mit Billigung der Hegemonialmacht Frankreich: Er tat seinen Dienst als „Mediator“ ebenso beim Übergang von einer Militär- zur Zivilregierung in der Republik Guinea in den Jahren 2009 und 10 wie beim Bürgerkrieg im südlichen Nachbarland Côte d’Ivoire 2010/11, oder anlässlich des drohenden Staatszerfalls beim nördlichen Nachbarn Mali seit 2012. Neutral war der vorgebliche Vermittler Compaoré dabei keineswegs immer. So ergriff er in der Côte d’Ivoire, die in eine nördliche und seine südliche Landeshälfte mit einem je spezifischen Nationalismus zerrissen war, klipp und klar Partei für die damals gegen die Regierung unter Laurent Gbagbo antretenden Rebellen aus dem Norden – ihr Kandidat Alassane Ouattara ist heute Staatspräsident, nachdem französische Kampftruppen seinen Amtsvorgänger Laurent Gbagbo am 11. April 2011 aus dem Präsidentenpalast herausgeholt und abgesetzt hatten. Gbagbo sitzt heute auf der Anklagebank beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Voraus gingen Wahlen, die weder in der von Gbagbo regierten Süd- noch in der von Ouattara zugeneigten Rebellen kontrollierte Nordhälfte des Landes als frei, geheim und fair gelten durften. Ouattara wurde jedoch zu ihrem Sieger erklärt.

Auch in Mali war Compaoré keineswegs unparteiisch, sondern er beherbergte die Kader der gegen die Zentralregierung in Bamako kämpfenden – und zeitweilig taktisch mit den Jihadisten verbündeten – und von Tuareg getragenen Sezessionsbewegung MNLA („Bewegung für die nationale Befreiung von Azawad“) in seiner Hauptstadt Ouagadougou. Der Führungskern des MNLA sitzt noch immer entweder dort oder in Paris, seitdem die MNLA-Anführer im Sommer 2012 durch ihre jihadistischen Verbündeten abgeschüttelt und bekämpft worden waren. Neutral war Compaoré auch nicht, was die äußerst Bürgerkriege in Liberia und Sierra Leone im vergangenen Jahrzehnt betrifft. Er unterstützte etwa den liberianischen Schlächter Charles Taylor unter der Hand mit Truppen, nachdem liberianische Söldner ihrerseits am Putsch gegen Sankara teilgenommen hatten, und so genannte „Blutdiamanten“ aus Sierra Leone wurden trotz Embargobeschlüssen über die Drehscheibe Ouagadougou auf den internationalen Märkten gehandelt.

Es ist also kein Zufall, dass Compaoré nun bei seinem Verbündeten Ouattara in der Côte d’Ivoire Zuflucht gefunden hat, nachdem sein Plan zur erneuten Amtszeitverlängerung nicht aufging. Frankreich hat aktiv dabei geholfen, ihn dorthin zu evakuieren, wie Präsident François Hollande am Montag dieser Woche am Rande eines Staatsbesuchs in Kanada einräumte und dadurch einen Bericht des Figaro bestätigte – Compaoré sei bei einer Ausreise „ohne Drama“  geholfen worden, wie er (Hollande) erklärte. Und ohne dass er der Justiz seines Landes Rede und Antwort stehen müsste, etwa für Amtsmissbrauch, Korruption und einige politische Morde, wie seine Opponenten monieren.

Zuvor hatte François Hollande dem alten Freund Frankreichs noch gutmütig zugeraten, es nicht zu übertreiben und auf seine alten Tagen kein Risiko einzugehen. In einem Brief vom 7. Oktober, den das Magazin Jeune Afrique inzwischen publiziert hat, riet der französische Präsident „(s)einem lieben Blaise“, Burkina Faso könne doch Vorbild sein, indem man nicht an der Verfassung herumdoktere, um dem Präsidenten eine weitere Amtszeit zu ermöglichen – wie Compaoré es vorhatte, wie acht weitere afrikanische Staatsoberhäupter es vor kurzem taten und ein halbes Dutzend weitere es derzeit beabsichtigen, wie etwa in Burundi. Als Belohnung stellte Hollande ihm einen internationalen Posten in Aussicht, habe Compaoré doch, wie er hinzufügte, schon bislang eine so wichtige Rolle für die internationale Gemeinschaft gespielt.

Blaise Compaoré hörte nicht auf den Rat und wollte es noch einmal wissen. In der Nacht zum vergangenen Donnerstag wurden alle Abgeordneten seiner Regierungspartei CDP („Kongress für Demokratie und Fortschritt“) in einem Hotel unmittelbar gegenüber vom Parlamentsgebäude untergebracht, um sich nicht einen Weg durch eine erwartete feindselige Menge bahnen zu müssen. Bereits am Dienstag hatten massive Demonstrationen, und am Mittwoch ein gut befolgter Generalstreik gegen das Vorhaben des alten Präsidenten stattgefunden. Doch am Donnerstag früh brachen vor dem Parlament heftige Kämpfe aus. Das Gebäude sowie jenes des Fernsehsenders wurden gestürmt. Bei Kampfhandlungen starben rund dreißig Personen, wobei jedoch die meisten Einheiten von Polizei und Armee nicht das Feuer eröffneten, sondern im Allgemeinen sogar teilweise auf Seiten der Protestierenden standen. Die meisten Toten gehen auf das Konto entweder von bewaffneten Zivilisten, die noch zu Blaise Compaoré hielten, oder der Präsidentengarde RSP, einer Elitetruppe von rund 1.000 Mann, die äußerst privilegierte Lebensbedingungen genoss und mit Abstand stärker bewaffnet war als alle anderen Einheiten.

Abgesehen von einigen Plünderungen blieb das Geschehen ansonsten weitgehend friedlich. Teile der protestierenden Menge hofften auf eine aktive Rolle desjenigen Teils der Armee, der als Verbündeter gelten darf. Eine vorübergehende Machtausübung durch Militärs und die Vorstellung, dass jedenfalls ein Flügels von ihnen als progressiv gelten dürfen, schockieren in Burkina Faso nicht. Aufgrund der vergangenen Erfahrung ist man damit vertraut, dass es zumindest früher ein revolutionäres Gärungspotential innerhalb der Streitkräfte gab, weil viele Söhne armer Elternhäuser allein durch eine Militärkarriere zu Lohn und Brot sowie Bildungschancen kamen, dabeo jedoch ihrer sozialen Herkunft verbunden blieben. Thomas Sankara war selbst bei der „Sammlung kommunistischer Offiziere“ (ROC) aktiv gewesen, bevor er am 04. August 1983 durch einen Linksputch an die Regierung kam.

Da sich in der Hauptstadt Ouagadougou nach wochenlangen Protesten ein akuter Versorgungs- und vor allem Treibstoffmangel bemerkbar zu machen schien, hofften nun viele Menschen auf einen halbwegs geordneten Übergang. Vieler Augen ruhten dabei auf dem pensionierten General Kouamé Longué, den Compaoré im Jahr 2003 als Verteidigungsminister schasste und der in breiten Kreisen als Gegner von Korruption und als integer gilt. Doch an seiner statt drohte die Armee, den Generalstabschef Honoré Traoré zum Interims-Staatsoberhaupt zu berufen. Er gilt als Mann des alten Präsidenten und ist ausgesprochen unpopulär. Longué versuchte seinerseits am Sonntag, im Staatsfernsehen eine Erklärung zu verlesen, um anzukündigen, er nehme die Verantwortung als Interimspräsident auf sich. Doch die Kameras waren ausgeschaltet, als er seine Erklärung vortrug. Ebenso scheiterte der Versuch einer Zivilistin, Saran Sérémé  – Vorsitzende der Oppositionspartei PDC („Partei für Entwicklung und Wandel“) -, sich zur Übergangspräsidenten auszurufen, noch am Eingang. Unterdessem kam es vor dem Fernsehgebäude zu Kämpfen, bei denen ein Demonstrant erschossen wurde.

An Longués sowie Traorés statt erklärte sich unterdessen noch am Freitag der Kandidat einer anderen Fraktion innerhalb der Armee, Oberstleutnant Isaac Zida, zum Staatschef auf Zeit. Nach den politischen Wirren vom Sonntag scheint er sich nun auch vorläufig durchgesetzt zu haben. Die zivile Opposition misstraut ihm, und sein Name wurde – ebenso wie jener von Generalstabschef Traoré am Freitag – bei einer Massenkundgebung auf der Place de la Nation am Sonntag durch die Menge ausgepfiffen. Unterdessen verhandelt er mit den Oppositionsparteien weiter über einen „Übergang zu einer Zivilregierung“, die die Abhaltung von Wahlen im Jahr 2015 beinhalten soll. Am Montag setzte die Afrikanische Union ihm jedoch eine vierzehntägige Frist, nach deren Ablauf er die Macht an Zivilisten übergeben soll.

Wichtig wird nunmehr die Frage werden, wer die Wahlen unter welchen Bedingungen organisiert. Denn die alten Mächte sowie Frankreich im Hintergrund stehen bereit, um ihren Anwärtern auf die künftige Regierungsmacht zum Durchbruch zu verhelfen. Neben den Resten der alten Staatspartei unter Blaise Compaoré, CDP, stehen bereits andere politische Kräfte als Kandidaten für eine zivile Machtausübung ohne größere Brüche mit der Vergangenheit bereit. Seit Januar dieses Jahres wurde die Partei MPP („Bewegung des Volkes für den Fortschritt“) unter Salif Diallo aufgebaut, eine Abspaltung von Compaorés Partei CDP, die weitgehend ein Sammelbecken für ambitionierte Politkarrieristen darstellt, denen Compaorés Zukunftsaussicht zu gering geworden waren. Von entscheidender Bedeutung wird dabei sein, in welchem Ausmaß es ihnen gelingt oder nicht, die erreichte Massenmobilisierung und die auch sozial motivierte Protestbewegung wieder zurückzudrängen. Vorläufig jedoch kommen sie an ihr nicht vorbei.

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