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Mali

MALI: Ein politisch-sozialer Bericht nach einem 24tägigen Aufenthalt unseres Frankreichkorrespondenten in dem westafrikanischen Land

Artikel von Bernard Schmid vom 10.9.2014

Einen Geschwindigkeitsrekord dürfte der Zug in naher Zukunft nicht aufstellen, auf der Strecke ist das Tempo derzeit auf 39 Stundenkilometer ausgelegt. Aber die Bahnlinie von Bamako nach Kayes, die 600 Kilometer entfernte Regionalhauptstadt im Westen Malis in der Nähe der senegalesischen und mauretanischen Grenze, ist eine unverzichtbare Lebensader für das Landesinnere. Viele Dörfer und Siedlungen wären ohne den Zug von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Und dabei geht es nicht nur um Transportmöglichkeiten für Passagiere und Frachtgut wie Hirsesäcke und andere Güter, die man in den Städten zu verkaufen versucht. An jedem Halt kommen Leute aus den Dörfern, meist Frauen und Heranwachsende, zu Dutzende an den Zug und versuchen, ihre Produkte feilzubieten: Eier, Maniokwurzeln, Bananen, Früchte vom Karitébaum oder Schnitzhandwerk, aber auch Wasserflaschen finden ihren Absatz. Auch morgens früh um drei Uhr ziehen die Dorfbewohner im Tanz der Taschenlampen an den einfahrenden Zug. Für viele von ihnen ist es die hauptsächliche Bargeldquelle, an dem drei mal wöchentlich durchfahrenden Zug ihre Erzeugnisse zu versorgen. Ansonsten bauen sie oft vorwiegend für die Selbstversorgung oder den Tausch an.

Der erste Zug auf der Bahnlinie „von Dakar an den Nigerfluss” verkehrte 1903. Fertiggestellt wurde die Strecke von Dakar nach Bamako, den beiden heutigen Hauptstädten von Senegal und Mali, im damaligen „Französisch-Westafrika“ (AOF, Afrique occidentale française) im Jahr 1928. Später wurde sie um rund sechzig Kilometer nach Osten verlängert, bis nach Koulikoro am Strom Niger, nordöstlich der Hauptstadt von Mali. Dort war eine der Fabriken angesiedelt, mit denen das Land unter seinem staatssozialistisch-antikolonial orientierten ersten Präsidenten Modibo Keita – er regierte von der Unabhängigkeit 1960 bis zu einem Armeeputsch im November 1968 – versuchte, Grundlage einer eigenen Industrie aufzubauen. In acht Sektoren wurden unter Modibo Keita Schlüsselindustrien errichtet, die dem Land tatsächlich eine wirtschaftliche Grundlage verliehen. Und einige darüber hinausweisende, zum Teil utopische Planungen sahen sogar die Errichtung von Atomkraftwerken mit sowjetischer Hilfe in Nioro und Gao vor, woraus zum Glück nichts wurde.

In Koulikoro handelte es sich um die Huicoma (für Huileries et cottonneries du Mali, „Öl- und Baumwollverarbeitung von Mali »), eine Staatsfirma, in welcher Speiseöl sowie die Ausgangsprodukte für Seifen aus Baumwollkernen gewonnen wurden. Wie viele frühere Staatsbetriebe, die das Land aus der strukturellen Unterentwicklung holen sollte, in welcher Frankreich es lange gehalten hatte – die frühere Kolonialmacht nutzte Mali vor allem als Standort für Monokulturen bei Baumwolle und Erdnüssen -, ist die Huicome heute geschlossen. Sie wurde zum Opfer der Privatisierungsprozesse der letzten zwanzig Jahre, die oft vom Internationalen Währungsfonds (IWF) angeregt wurden. Die Huicoma wurde nicht von internationalen Investoren aufgekauft, sondern von einem einheimischen Geschäftsmann, der über mafiöse Verbindungen in die Staatsmacht hinein verfügte. Er schlachtete den Betrieb aus, bereicherte sich am Verkauf der ihm kostenlos überlassenen Reserven an Waren und Rohstoffen und führte das Unternehmen in den Ruinen. Die dort beschäftigten Arbeiter führten allerdings ab 2008 einen jahrelangen Kampf, bei dem sie zumindest substanzielle Abfindungszahlungen herausholen konnte und der im Gedächtnis der Region verhaftet blieb. Jüngst kündigte die Regierung an, mit Staatsgeldern den Betrieb der Huicoma sogar wieder anfahren zu wollen.

Bahnprivatisierung: ein Zerschlagungsunternehmen?

Dem Bahnunternehmen erging es nicht viel besser. Die legendäre Bahnlinie „von Dakar nach Bamako” kann von Passagieren vom Osten her heute nur noch bis Kayes genutzt warden. Danach verkehrt der Zug, ins senegalesische Tambacounda und weiter nach Dakar, nur noch für den Gütertransport. Die Linie wurde im vorigen Jahrzehnt ebenfalls privatisiert. Der Übernehmer, der jetzige Betreiber Transrail, wies zeitweise französische, belgische und kanadische Kapitaleigner auf, die heutigen Eigentümer im Umfeld des früheren wirtschaftsliberalen senegalesischen Präsidenten Abdoulaye Wade angesiedelt. Von früher knapp vierzig Haltestellen an der Strecke sollte die Zahl der angefahrenen Bahnhöfe auf nur noch um die zehn reduziert werden. Wo früher Expresszüge – mit wenigen Stops – und « Omnibuszüge » mit zahlreichen Haltestellen verkehrten, sollte diese Vielfalt im Namen der Effizienz abgebaut warden. Heute allerdings, erklärt uns der Schaffner, hat sich die soziale Realität des Landes insofern wieder durchgesetzt, als in zahlreichen Dörfern und Städten an der Strecke kürzere oder längere Halts erfolgen.Verschwunden ist das „Express”-Angebot, und statt täglich verkehrt die Bahn nur noch knapp halb so oft.

Einer, der sich dieser Entwicklung vehement widersetzt hatte, ist der frühere Eisenbahningenieur Tiécoura Traoré. Seit 2003 prangerte der Sechzigjährige, der 1991 im damaligen Leningrad mit einer Doktorarbeit über das Eisenbahnwesen promovierte – bis vor zwanzig Jahren studierten die meisten malischen Techniker und Ingenieure in der UdSSR -, die bevorstehende Privatisierung der Eisenbahn an. Labournet.de ist seit 2006 in regelmässigem Kontakt mit ihm, seit unserer Teilnahme am Weltsozialforum iù Januar jenes Jahres, (vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0206/t150206.html externer Link und http://archiv.labournet.de/internationales/ml/bahn.html (falsch datiert aufgrund des schlechten Funktionierens der Archivfunktion, unser Artikel datiert aus dem Jahr 2006)).

In seinen Augen nimmt es die Staatsmacht in Kauf, dieses wichtige Verkehrsmittel in Mali ganz zu liquidieren: Viele Berater des damaligen Präsidenten „ATT” (Ahmadou Toumani Touré, im Amt von 2002 bis 2012) hätten wirtschaftliche Interessen in privaten Busunternehmen, erklärt er, und der Ruin eines früher als wesentlich zur Entwicklung des Landes betrachteten Verkehrsmittels störe sie deswegen nicht. Mangels Investitionen sieht er, “wenn in den nächsten Jahren nichts passiert”, die Bahn in Mali mittelfristig vor dem Aus stehen, ruiniert durch die sukzessiven Regierungen. “Ein Widerspruch in dem Moment, wo offiziell eine neue Bahnlinie von der guineischen Hauptstadt Conakry nach Bamako geplant wird”, um bislang verkehrsmäßig unerschlossene Teile Westafrikas wie das Hinterland Guineas anzufahren.

Traoré, früher eine der wichtigsten Führungskräfte der Eisenbahn in Mali sowie zeitweiliger Leiter der gesamtafrikanischen Eisenbahnerschule im kongolesischen Pointe-Noire, musste seine Opposition mit dem Jobverlust bezahlen: Er wurde gefeuert. Mit dem Verlust seiner wirtschaftlichen Existenz konfrontiert, lancierte er ein neues Projekt: Zu Ende des vergangenen Jahrzehnts übernahm er ein landwirtschaftlich ungenutztes Grundstück, das seinem Vater gehörte. In einem Dorf fünfzehn Kilometer von der Regionalhauptstadt Kayes entfernt, Saliambougou, gründete er eine Musterfarm, auf der wir ihn besuchen. Reis und Sojapflanzen sprießen. Afrikanische Kühe mit riesigen gebogenen Hörnern, Ziegen, Hühner und Enten, Pferde und Esel drängen sich unter der Sonne, die besonders in diesem Landesteil sengend herunterbrennt. Traoré propagiert neue Ansätze einer modernisierten, kollektiv diskutieren Landwirtschaft. Mit einer Kooperative, die ihren Sitz im Stadtgebiet von Kayes hatte, möchte er 1.100 biologische Landwirtschaft betreibende Farmen gründen.

Wer bislang Landwirt in Mali ist – wo gut siebzig Prozent der Bevölkerung von der bäuerlichen Agrarwirtschaft leben -, übt diesen Beruf oft deswegen aus, weil er oder sie mangels Schulbildung oder Zugang zu anderen Jobs keine andere Wahl hatte. Die Anbaumethoden bleiben oft archaisch. Traoré möchte neue Perspektiven bieten, lokale Erfahrungen mit neuen Erkenntnissen über Ackerbau- oder Viehzuchtmethoden kombinieren. Und er möchte auch kulturell neues Leben in die Region bringen. “Früher gab es ein gemeinsamen Leben in den Dörfern, rund um Konzerte und Verstaltungen. Heute prägt das Leben der Menschen entweder die Kommerzmusik aus dem Radio, die die jungen Leute sich auf ihr Handy herunterladen – während sie zu Hause bleiben und nicht mehr ihre Gleichaltrigen treffen -, oder die Moscheen. Manche Jugendlichen redden heute bigott daher, wie zu meiner Jugendzeit nur die Alten, und antworten auch auf banale Fragen mit,Inschallah’.” Traoré versucht, den Kindern und Jugendlichen stattdessen den Geschmack an Musik zu vermitteln. Dazu hat er an diesem Augustwochenende einen Bänkelsänger eingeladen, der ein Instrument mitbringt, eine Art traditioneller Geige mit Pferdehaaren als Saiten und der Haut einer Waranechse als Belag. „Früher hörten die Leute solchen Sängern gerne zu, auch wenn sie oft gesellschaftlich marginalisiert waren – Musikinstrumente spielten oft die Peuls”, Angehörige einer Ethnie, die mit ihren Rinderherden nomadisch lebten, heute allerdings zu 90 Prozent sesshaft sind. „Heute werden Leute, die Musik machen, von vielen als verpönte Außenseiter betrachtet. Ich versuche das zu ändern, mit Heranwachsenden Musikunterricht und Diskussionen zu veranstalten.“

Gesellschaft unter neoliberalem Druck

Änderungen in den Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens beobachtet auch Alassane Dicko, langjähriger Aktivist der Association malienne des expulsés (AME, « Malische Vereinigung der Abgeschobenen”), die sich um nach Mali zurückgeschobene, in den Aufnahmeländern “unerwünschte” Migranten kümmert. Sie kommen nach wie vor in großer Zahl am Flughafen von Bamako an. Aus Europa, aber in jüngerer Zeit auch verstärkt durch vom Ölreichtum profitierenden afrikanischen Ländern wie Äquatorial-Guinea und Angola. Seit einem Jahr schiebt auch Saudi-Arabien massiv afrikanische Arbeitsmigranten ab.

Dicko meint, die europäischen Beobachter müssten sich “endlich von ihrem exotischen Blick auf Afrika freimachen”, wo vermeintlich alles so anders sei: “Wir leben in einer Gesellschaft, die zutiefst von den Auswirkungen, der neoliberalen Globalisierung durchdrungen ist. Wo früher familiäre und großfamiliäre Solidaritätsbindungen prägend waren, ist es heute der Run auf das vermeintliche schnelle Geld. Früher musste man den großen Bruder oder die Älteren respektieren, aber heute ist derjenige,großer Bruder’, de rein Auto als soziales Statutssymbol besitzt.” Soziale oder politische Aktivisten haben es in diesem Kontext oft schwer, da oft auch die eigene Familie ihnen zusetzt, sie sollten endlich ihre Marotten sein lassen, die kein Geld einbringen, und sich um Verdienstmöglichkeiten kümmern.

Als ein anderes Beispiel zitiert Dicko die Medizin. Afrikanische Gesellschaften wiesen früher zahllose traditionelle Heilmittel auf pflanzlicher Basis auf, deren Arzneiwirkung mal mehr und mal weniger erwiesen war. „Heute existiert diese traditionelle Medizin fort, aber bei vielen ihrer Akteure handelt es sich längst um Geschäftemacherei, die mit ein bisschen folkloristisch wirkendem Hokuspokus umgarnt wird. Und was die modern westliche Medizin betrifft, so beherrschen oft nachgemachte und gefälschte Arzeimittel den Markt.” Das gilt zweifellos für den allgegenwärtigen Straßenverkauf, aber gibt es nicht auch zahlreiche Apotheken? Da dürfe man sich keinen Illusionen hingeben: „Die Apotheken versorgen sich doch oft selbst auf eben diesen Straßenmärkten! Patentierte Medikamente erhält nur gegen formale ärztliche Verschreibung. Aber mit den Kosten, sowohl für das Rezept als auch für das oft teurere Medikament, bleiben viele Menschen von dieser Möglichkeit einfach ausgeschlossen.” In Mali gibt es viele öffentliche Kliniken und Gesundheitsstationen, diese sind aber oft unzureichend ausgestattet. Wer etwa eine Röntgenaufnahme braucht, kann vom Arzt im öffentlichen Krankenhaus an eine Privatklinik verwiesen wird – wo sie zahlungspflichtig ist und wo derselbe Mediziner in der zweiten Hälfte seines Tages ebenfalls arbeitet, aber gegen ein besseres Entgelt und mit prozentualer Beteiligung am Gewinn.

Gold

Neben landwirtschaftlichen Produkten liegt einer der Reichtümer Malis in seinen Goldvorkommen. Bereits im dreizehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung rief der damalige Monarch eine internationale Inflation hervor, als er mit so mächtigen Goldvorräten nach Mekka zog, dass er bei seinem Aufenthalt in Kairo die dortige Börse zum Einsturz brachte. Heute liegen ein halbes Dutzend Goldminen meist entlang der Südgrenzen Malis. Die Betreiber sind meist international Firmen mit französischem, kanadischem oder südafrikanischem Kapital, der malische Staat erhält rund 15 Prozent Anteil vom Gewinn.

Eine neu eröffnete Mine, die noch nicht produziert, liegt in der NÄhe des Dorfes Nampala, im Südosten Malis unweit der Grenze zur Côte d’Ivoire (/ Elfenbeinküste). Wir besuchen Moussa – Vorname redaktionell geändert -, der dort als Baggerfahrer arbeitet, bislang noch ohne festen Vertrag, den er aber nach einer Probezeit erhalten wird. Mit seinem Lohn, umgerechnet knapp 300 Euro, als in Mali halbwegs stattlichem Gehalt ist er eher zufrieden. Es stellt sich heraus, dass hier kurioserweise die Löhne bei den Subfirmen des Bergbaubetreibers, der multinationalen Firma Robex, wesentlich besser ausfallen als beim Stammunternehmen selbst. Letzteres stellt überdies nur einjährige Zeitverträge aus, während die einheimischen Subfirmen auch unbefristete Arbeitsverträge anbieten. Sonst nutzen größere Firmen von Subfirmen, um dort wesentlich schlechtere Bedingungen zu praktizieren, als sie dem Stammpersonal angeboten werden. Hier scheint es umgekehrt zu laufen.
Sein Arbeitskollege Babakir – Vorname geändert -, der gerade mit dem Werben um eine Drittfrau eifrig beschäftigt ist, sieht dies anders. Gemessen an den Mitteln des Unternehmens seien seine Löhne nicht gut, klagt er. Babakir war schon 2005 bei einem stark befolgten Streik im Goldbergwerk Morilla, ebenfalls im Südbezirk Sikasso gelegen, mit dabei. Es ging damals uù die Löhne, aber auch um Produktivitätsnormen, die eine zu starke Arbeitshetze hervorriefen. Die Streikenden wurden entlassen, und die meisten gingen bis heute leer aus. „Ein paar gingen mit Anwälten vor Gericht, und haben in Einzelfällen auch gewonnen. Just diese Woche sollen zwei unserer früheren Kollegen von damals Abfindungen bekommen haben”, neun Jahre danach. Moussa meint allerdings, dies sei ein Gerücht.

Nicht weit vom neuen Bergwerk entfernt drängen sich unterdessen Menschen unter rund 2.000 Zelten mit schwarzen Plastikplanen, inmitten einer Waldsavanne mit Terminentügeln. Es handelt sich um Goldschürfer, die in einigen Kilometer Entfernung von der Hauptader ihr eigenes Glück versuchen, auf eigene Faust. Die Dörfler haben ihnen das Grundstück überlassen. Mehrere tausend Menschen drängen sich in der größten Goldwäschersiedlung der Region zusammen, die über einen eigenen Markt verfügt. Die meist jungen Leute kommen aus der ganzen Region, “aber wenn die Goldvorräte erschöpft sind, ziehen wir weiter, wenn es sein muss auch nach Guinea oder Burkina Faso, so wie umgekehrt Menschen aus diesen Ländern zum Goldwaschen hierher kamen”. Die meist jungen Leute sind überwiegend freundlich und zeigen, wie sie in fünf oder zehn Metern tiefen Löchern mit notdürftigen Hacken die rote Erde aufreißen (siehe Foto). Das durchwühlte Bodenmaterial wird nach oben befördert und mit einem Golddetektor nach Metall abgesucht. Der junge Ali, der besser Französisch spricht als seine SChürfgenossen, jedoch fragt den Beobachter freundlich aber energisch, was er sucht, und ob er nicht für einen europäischen Konzern am Inspizieren sei. “Wenn wir hier diesen gefährlichen Job verrichten, dann deswegen, weil Ihr Wirtschaftssystem unsere Länder ruiniert. Und weil Ihre Einwanderungspolitik verhindert, dass wir in den reichen Ländern unser Glück versuchen!” Es entspannt sich eine angeregte Diskussion.

Aber versucht der internationale Bergbaukonzern, der nicht weit entfernt von hier gräbt, nicht, die unprofessionnellen Goldschürfer zu vertreiben? “Im Prinzip schon”, meint Moussa, „aber die Behörden wissen um die sozialen Realitäten im Land. Den Leuten hier ihre erträumte Verdienstchance zu nehmen, ware kaum durchsetzbar.”

Desillusionierung über Regierung

Von der Regierung und generell von der Politik erwarten die meisten Menschen in Mali unterdessen keinerlei Verbesserung ihrer sozialen Lage. Der vor einem Jahr, im August 2013, gewählte und am 04. September ins Amt gekommene Staatspräsident Ibrahim Boubacar Keita („IBK”) hat die allermeisten Menschen trotz anfänglicher Hoffnungen auf einen Neuanfang enttäuscht. Zwar ergab eine Umfrage Anfang August d.J., dass angeblich 86 Prozent mit seiner Amtsführung mehr oder minder zufrieden seien. Aber bei Umfragen ist bekanntlich Vorsicht geboten, und im Alltag trifft man kaum einen Menschen, der sich im Privaten positiv über ihn äußern würde. „Versager” und „Lügner” sind häufiger wiederkehrende Titulierungen.

In den letzten Monaten sorgte der Ankauf eines zweiten Präsidentenflugzeugs vom Typ Airbus für rund dreißig Millionen Dollar, nachdem „IBK” mit der (vorhandenen) bisherigen Präsidentenmaschine unzufrieden war, für einen Skandal. Da es über die beim Kauf eingeschalteten Mittelsmänner zu massive Korruption und zum Abzweigen von Kommissionszahlungen kam, erklärte der IWF seine Verärgerung, gefolgt von der Europäischen Union und der US-Administration.

Alle drei stellten ihre Unterstützungszahlungen für den malischen Staatshaushalt ein, der deswegen noch im September zur Zahlungsunfähigkeit der öffentlichen Hand zu steuern droht. Die Löhne und Gehälter sind günstigerenfalls nur noch bis zum Jahresende gesichert, wenn nichts Einschneidendes passiert. Mali ist nach wie vor strukturell von „Kreditgebern” und ihren Konditionen abhängig, und dieses Verhältnis hat sich in jüngster Zeit noch verschärft. Im Umfeld der französischen militärischen Intervention im vergangenen Jahr hatten die „Freunde Malis” im Mai 2013 in Brüssel Unterstützungszahlungen in Höhe von 3,3 Milliarden Euro verkündet. Damals waren sie der malischen Bevölkerung allgemein als einseitige Hilfszahlungen angekündigt worden, doch hinterher stellte sich heraus, dass ein Teil davon konditionierte Kredite sind. Eine der Hauptkonditionen ist, dass Mali die Abzahlung der bisherigen Auslandsschulden zur Priorität erheben soll, auf Kosten von Haushaltsposten auch etwa für Bildung oder Gesundheitswesen. Frankreich, das sich 2013 als großzügiger Gönner aufspielte, kombinierte im Nachhinein etwa 75 Prozent Hilfszahlungen mit 25 Prozent konditionierten Krediten.

Streik der UNTM

Vor diesem Hintergrund ist auch der Generalstreik zu sehen, den der Gewerkschaftsdachverband UNTM am 21. und 22. August 14 durchführte. Unter den Staatsbedienstete, aber auch in anderen Berufsgruppen in formalisierten Beschäftigungsverhältnissen und mit regulären Arbeitsverträgen – die neben der riesigen Gruppe der Prekären sowie “informell” Beschäftigten existieren – soll er zu 99 Prozent befolgt worden sein. Vor allem die Ministerien wurden lahmgelegt, teilweise auch der Fleischgroßhandel, und die Züge verkehrten nicht. Zwar ist die UNTM eine bürokratische und jedenfalls an der Spitze mit der Staatsmacht verbandelte Organisation, un,d auf keinen Fall eine radikale Opposition; die Bahnprivatisierung hat sie etwa umstandslos begleitet. Doch der Druck der gesellschaftlichen Basis führte den neuen Vorstand, der erst seit wenigen Monaten im Amt ist, zu diesem demonstrativen Schritt.

Der Forderungskatalog drehte sich um die Löhne der Staatsbediensteten, aber auch um andere soziale Forderungen, die neben den Gehaltsempfängern darüber hinaus auch die gesamte Bevölkerung betreffen. Etwa eine Senkung der Wasser- sowie Strompreise. Letztere stiegen soeben um rund zwanzig Prozent, weil der IWF die Staatsmacht aufforderte, die Subventionierung der Energiepreise für die überwiegend arme Bevölkerung einzustellen. Es wurde keinerlei Einigung über die Forderung erzielt. Vergangene Woche hielten sich Gerüchte über eine Wiederaufnahme der Streiks. Am Donnerstag streikten allerdings ersteinmal nur die privaten Transportunternehmen für sektorenspezifische Forderungen.

Neben der „sozialen Front” ist eines der heikelsten Themen für die Regierung derzeit natürlich der Umgang mit dem Norden, aus dem 2013 die Jihadisten durch die französische Intervention mehrheitlich vertrieben wurden. Aber immer noch halten sich dort bewaffnete Gruppen, deren Natur zwischen Jihadismus und überwiegend ökonomisch motivierter Bandenkriminalität oszilliert – die Einen können den anderen, stärker ideologisch motivierten Akteure etwa bei Geiselnahmen gegen Bezahlung zuarbeiten. Nach wie vor sind die drei Nordregionen von Timbuktu, Gao und vor allem Kidal hochgradig instabil. Am Mittwoch, den 27. August d.J. etwa zerstörten mutmaßliche Jihadisten ein Camp der UN-Truppe für Mali, der MINUSMA, in Aguelhok im Bezirk Kidal. Die malischen Streitkräfte zogen sich aus der Umgegend vorerst zurück.

Verhandlungen in Algier

Am Montag, den 1. September 14 wurden die Verhandlungen in Algier wiederaufgenommen, bei denen vierzig Delegierte die malische Staatsmacht sowie „Organisationen der Zivilgesellschaft” – etwa Zusammenschlüsse von NGOs – einerseits, die Mehrzahl der bewaffneten Gruppen andererseits vertreten. Al-Qaida in Nordafrika, „AQMI”, ist zwar bei den Verhandlungen nicht dabei, obwohl die vorwiegend aus Algeriern zusammengesetzte Organisation bei der Besetzung der Nordhälfte Malis oder „Azawads” 2012 durch Tuareg-Sezessionisten im Verbund mit Jihadisten aktiv mitwirkte. Aber die auf ethnischer Basis zusammengesetzten Bewegungen von nordmalischen Tuareg (MNLA) sowie Arabern (MAA) einerseits sowie die „Bewegung für die Einheit von Azawad” (HCUA), welche eher die Islamisten vor allem der malischen Bewegung Ansar ed-Din – „Anhänger der Religion” – als zivile Vorfeldorganisation repräsentiert, sind in Algier present.

Nach einer ersten Verhandlungsrunde, die Anfang August dieses Jahres abgeschlossen wurde, soll nunmehr die zweite von insgesamt drei Runden eröffnet werden. Nach den allgemeinen Grundsatzerklärungen soll nunmehr über erste Details verhandelt werden. Die Forderungen der bewaffneten Gruppen liegen auf dem Tisch, während die malische Staatsseite erklärt hat, zwei Dinge seien „unverhandelbar”: die politische Einheit der Republik sowie deren laizistischer Charakter. Am Donnerstag, den 28. August 14 stritten sich die bewaffneten Gruppen bei einem gemeinsamen Treffen in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou darüber, ob diese Rahmenbedingungn akzeptabel seien. Während Tuareg-Gruppen eher auf der Forderung nach einer Regionalisierung Malis insistieren, erklärte ein Teil der Islamisten die Vorabbedingung einer Aufrechterhaltung der Laizität für unakzeptabel. Dennoch einigten die sieben in Ouagadougou vertreteten Gruppen – unter ihnen HCUA, MAA und MNLA – sich am Ende darauf, sie wollten bei den Verhandlungen in Algier „mit nur einer Stimme sprechen”.

Die Tuareg-Sezessionisten des MNLA als stärkste bewaffnete Formation fordern insbesondere die Eingliederung von 3.000 Mann ihrer Truppen in die malische Armee sowie 100 Generalsposten, was eine Verdoppelung der bestehenden Generalität erfordern würde. Zudem soll die Einrichtung von Militärzonen verhandelt werden, was den aus dem MNLA rekrutierten Armeeeinheiten bestimmte Zonen reservieren würden. Ein ähnlicher Zustand bestand ab dem letzten, 2006 in Algier geschlossenen Abkommen mit bewaffneten Gruppen aus Nordmali und bis zum akuten Ausbruch der Krise im Winter 2011/12, als der MNLA mit aus dem libyschen Bürgerkrieg importiertem Militärgerät den bewaffneten Kampf aufnahm.

Gegenüber der Bevölkerung in Südmali, die die hellhäutigeren Bewohner Nordmalis vor dem historischen Hintergrund als „Sklavenhalter” wahrnimmt – was sie zum Teil noch sind, eine NGO von Schwarzen aus Nordmali namens Temedt forderte erst jüngst, bei einer Pressekonferenz im Internationalen Konferenzzentrum von Bamako am 14. August [Vgl. http://koulouba.com/societe/pratique-de-lesclavage-par-ascendance-au-mali-le-combat-de-lassociation-temedt externer Link], die definitive Abschaffung der Sklaverei in Mali, woraufhin die Regierung eine Gesetzesinitiative dazu ankündigte -, wird dies jedoch nur schwerlich durchzusetzen sein. Bereits die jüngst als Gegenleistung an die bewaffneten Gruppen erfolgte Freilassung von 2013 festgenommen Akteuren der Besetzung Nordmalis vom Jahr zuvor, etwa des ehemaligen islamistischen Polizeichefs von Gao und später des islamistischen Scharfrichters von Timbuktu, Houka Houka Ag Alfousseyni – er zeichnete für Amputationsstrafen verantwortlich und kam am 15. Juli 14 zusammen mit einundvierzig weiteren Häftlingen frei – wurde von Vielen als „Provokation” erlebt. Zwanzig Menschenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen wandten sich in den letzten Augusttagen dieses Jahres deswegen in einer Presseerklärung gegen die “Straflosigkeit” für solche Kriminelle.

Der Versuch der Regierung, unter Druck und Vermittlung der Nachbarländer Algerien und Burkina Fasos sowie Frankreichs – die Pariser Regierung unterhält Verbindungen besonders zum MNLA, dessen „Unabhängigkeitserklärung“ im April 2012 von einem Pariser Fernsehstudio (,France24‘) aus erfolgte/verlesen wurde – zu einem Abschluss zu kommen und zugleich für die Bevölkerung akzeptable Ergebnisse zu liefern, ähnelt derzeit einer Quadratur des Kreises. Die Regierung hofft, dem Dilemma zu entkommen, weil die bewaffneten Gruppen durch das Aufkommen von „Dissidenten”formationen geschwächten werden könnten. Sowohl der MNLA als auch der MAA erlebten je eine Abspaltung, und mit der „Selbstverteidigungsgruppe der Tuareg” (GATA) tauchte eine neue Gruppierung auf. Die älteren bewaffneten Formationen wehren sich jedoch gegen diesen neuen Konkurrenten und erklären, wer 2012 nicht beim bewaffneten Kampf dabei gewesen sein, dürfe nicht bei den Verhandlungen sitzen. Der jüngst in Ouagadougou geschlossene Kompromiss dürfte jedoch dafür sorgen, dass die bewaffneten Gruppierungen stärker an einem Strang ziehen. Die Staatsmacht verfügt hingegen, wie Professor Issa Ndiaye vom zivilgesellschaftlichen „Bürgerforum” (Forum civique) gegenüber dem Verf. dieser Zeilenerklärte, über “keine Strategie bei den Verhandlungen”.

Die Suche nach einer Lösung dürfte sich also noch schwierig gestalten, auch wenn die malische Regierung plant, bis zum Jahresende 2014 ein Abkommen in ihrer Hauptstadt Bamako zu unterzeichnen. Neben der sozialen Situation dürfte auch der Dauerbrenner „Umgang mit dem Norden“ noch zu Protesten, inclusive auf der Straße, Anlass geben. Als Bauernopfer droht unterdessen der amtierende Premierminister von Präsident „IBK“, Moussa Mara – der zweite Regierungschef seit der Präsidentenwahl vor einem Jahr -, in nächster Zukunft abgelöst zu werden. Die Bevölkerung dürfte dies kaum beruhigen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=65272
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