EU-Gipfel, ein Stabilitätspakt und die „Wahl“ eines Kommissionspräsidenten: Deutsche Prinzipienreiterei gegen ökonomische Vernunft

Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 29.6.2014

EU-Gipfel: Etwas gestärkte Demokratie – ohne klaren Wechsel der ökonomischen Strategie

Hat sich der europapolitische Einsatz von Jürgen Habermas gelohnt? (siehe z.B. “Rettet die Würde der Demokratie – aber nur Italien…..” bei https://www.labournet.de/?p=60434) Auf der Seite einer Gewichtung der Demokratie für Europa doch ein wenig – nur Renzi, der italienische Ministerpräsident, geht auf der Grundlage “seiner” gestärkten demokratischen Mehrheiten mit seiner Thematisierung der “Schulden” in Europa noch weiter und wird konkreter – aber bis zu dem Vorstoß von Frankreichs Lagarde im Herbst 2010 zur Thematisierung der ökonomischen Ungleichgewichte durch das Lohndumping / Exportüberschuss-Modell in Deutschland als Beitrag zur Schuldendynamik in der Eurozone, den damals auch Juncker als Vorsitzender des Ecofin-Rates unterstützte (= Einhaltung des von der EZB vorgegebenen Zieles von etwas unter 2 Prozent Inflation unter dem Dache einer gemeinsamen Währung, da dort nur noch die Löhne eine “Stellschraube” darstellen, um die nationale “Wettbewerbsfähigkeit” zu erhöhen), wird er wohl jetzt noch nicht gehen wollen. Juncker kennt also die “Grenzen” für Kompromisse, die nicht grundsätzlich Deutschlands ökonomische Dominanz-Interessen beeinträchtigen “dürfen”, sondern allenfalls noch kleine Zugeständnisse an die südeuropäischen Krisenländer dulden. (Vgl. auch ab dem Abschnitt “Was nun?” auf der Seite 1 weiter unten bei https://www.labournet.de/?p=60572) – und beachte dazu auch weiter das Scheitern der deutschen Gewerkschaften in der Frage der Vergemeinschaftung der Schulden in Europa, um wenigstens beim Staatshaushalt die Finanzmärkte ein Stück weit außen vor zu lassen – siehe “Das Beispiel Eurobonds zeigt u.a. die geringe Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften für ein solidarisches Europa….” auf der Seite 4 (Mitte) bei https://www.labournet.de/?p=58853).

Der EU-Gipfel vom 27. Juni 2014 – und eine etwas veränderte Gesamtkonstellation – nicht mehr ganz allein “deutschland-zentriert”?

Europa-politisch ging es vor allem um zwei Dinge: Die Wahl des Jean-Claude Juncker zum EU-Kommissionspräsidenten, der die Schlachtordnung einer “Renationalisierung” der EU oder doch noch einmal ein Weg zu mehr – auch solidarischer – Gemeinsamkeit in der EU zugrunde lag. Der britische Premier war der Exponent für eine Renationalisierung, der dafür in Juncker den “heftigsten” Gegner sah. (http://www.tagesschau.de/ausland/cameron-juncker-100.html externer Link)

Wobei bemerkenswert ist, dass die Tagesschau – entsprechend den Zielvorstellungen der deutschen Kanzlerin – für diese Vorstellungen einer Renationalisierung oder auf jeden Fall keine Stärkung der gemeinschaftlichen Ebene große Sympathien kundtat. (typisch deutsch?)

Deshalb hat Merkel versucht im Vorfeld mit der “Achse” Cameron u.a. die politische Agenda in diese Richtung festzuklopfen, damit ein Kommissionspräsident Juncker keine großen Sprünge zu einer größeren Gemeinsamkeit machen könne, der er als Europa-“Integrationist” zuneigen könne. (Zu einer breiteren Übersicht – auch mit deutsch-medialen Einschätzungen zu Jean-Claude Juncker siehe http://www.sueddeutsche.de/thema/EU-Gipfel externer Link)

Stabilitätspakt als Lakmustest bei der Wahl Junckers

Zum Lackmustest wurde in dieser Auseinandersetzung der Stabilitätspakt, der von den Deutschen der Euro-Zone vor Beginn “oktroyiert” wurde. So schreibt die Frankfurter Rundschau “Kanzlerin gegen Renzi” – Renzi wollte einen Kurswechsel in Europa (= im Printexemplar – sonst http://www.fr-online.de/europawahl/eu-angela-merkel-die-kuer-von-juncker-hat-ihren-preis,27125132,27640272.html externer Link) – weg von der bisherigen Austeritätspolitik hin zu mehr Flexibilität und Wachstum: So hatte Frankreichs stetig schwächelnden Staatspräsidenten Hollande der Italiener Renzi binnen kurzem als Frontmann der Linken abgelöst. ( (http://www.taz.de/Entscheidung-ueber-EU-Kommissionschef/!141310/ externer Link)

Deshalb ging es zum zweiten um die politische Agenda der EU, womit der zukünftige EU-Kommissionspräsident (Juncker) auf ein wirtschaftspolitisches Programm festgenagelt werden sollte – und Matteo Renzi stritt darum – weshalb es zwischen Merkel und Renzi noch am Freitag-morgen vor Beginn des Gipfeltreffens zu einem Vier-Augen-Gespräch zwischen Merkel und Renzi gekommen war – bei dem es heftig gekracht haben soll. (FR = aber darüber haben wieder nur die italienischen Zeitungen berichtet)

So kam es zu der Nominierung von Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident (http://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-gipfel-nominiert-juncker-als-kommissionschef-a-977963.html externer Link) – und beim Stabilitätspakt (“Große Dummheit”) blieb alles beim Alten, denn keiner stellte ihn im Prinzip in Frage – jedoch bei seiner Anwendung kam es zu einem üblichen Formelkompromiss – von der Flexibilität sollte – statt voller – jetzt “bester Gebrauch” (best use) gemacht werden – und da hielt Renzi den Deutschen schon gleich einmal ihre Schuldensünden aus früheren Zeiten vor. (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/eu-gipfel-italien-haelt-deutschland-seine.schuldensuenden-vor-13014173.html externer Link)

Aber entscheidend wird es für die Zukunft sein, wie die EU-Kommission den “besten Gebrauch” der Flexibilität auslegen wird – also Jean-Claude Juncker übernehmen sie. Und vielleicht braucht ja Juncker vor einer solchen Entscheidung nicht vorher in Berlin anzurufen.

Ja, Juncker kennt das Lavieren, wenn man nicht die – auch ökonomische – Macht hat. – Müsste so die ökonomische “Wahrheit” zu einem “Prozess” werden? (vgl. die Seite 1 unten bei https://www.labournet.de/?p=59703) Und mit Renzi als “Gegenpol in Europa – hat er nicht rund 60 Prozent der italienischen Wähler hinter sich? – bleibt ihm ja Spielraum, den er gegen Merkel brauchen wird.

Dieses Szenario könnte noch durch eine “Europäische Bürgerinitiative” für einen New Deal für Europa” weiter unterstützt werden. (Vgl. die Seite 5 ganz unten bei https://www.labournet.de/?p=59502)

“Entschieden” wurde also wenig in Brüssel – aber die Machtverhältnisse in Europa sind nicht mehr so klar zu Gunsten der deutschen Kanzlerin Merkel. Oder um es mit den Worten des Ökonomen Paul Krugman noch einmal zu charakterisieren: Der sagte einmal sinngemäß – Immer wenn du denkst, es geht so nicht mehr weiter in der Euro-Zone – und es muss zum “Crash” in der Krise kommen, wird eine kleine Entscheidung getroffen, die das gerade noch einmal verhindern kann.

Ergänzend noch eine Anregung aus dem DGB mit dem IMF – als Handreichung für Renzi und Juncker

Ach, meinst du der IMF könnte jetzt doch noch die französischen Sozialisten – jedenfalls nicht nur diese “100” “Gegner der bisherigen Wirtschaftspolitik eines Hollande bei den Sozialisten in der Nationalversammlung in Paris, sondern auch den “Rest” – gegen den im Prinzip auch von ihnen “unbestrittenen” Stabilitätspakt noch einmal überzeugen?

Da auch die SPD – ziemlich unentschieden – zwischen diesen beiden Positionen – ökonomischer Sinn und Unsinn des Stabilitätspaktes – “festsitzt” (vgl. z.B. auch https://www.labournet.de/?p=60572 – insbesondere ab der Seite 1 ff. unten “Die alt-“neue” Welt der Sozialdemokraten….“), wollte ich diese Gedankenanregung aus dem DGB noch einmal zur weiteren Überlegung mit auf den Weg geben. (mitsamt dieser IMF-Studie!).

Stabilitätspakt: Deutsche Prinzipienreiterei gegen die ökonomische Vernunft

Sehen wir einmal von den ganzen Politikern ab, die um den Stabilitätspakt (Maastricht-Kriterien) von Gabriel, über Merkel bis hin zu Matteo Renzi und Francois Hollande herumtanzen wie um das goldene Kalb der heiligen Finanzmärkte – und konzentrieren uns auf die knallharten Fakten der Ökonomen-Diskussion: Da tritt auf der Bundesbankpräsident Jens Weidmann und findet, die trügerische Ruhe an den Finanzmärkten (aha!) birgt die Gefahr, die Lehren aus der Krise für die öffentlichen Haushalte (wo diese Finanzmärkte sich genau in der Finanzkrise an den öffentlichen Schulden vor allem der südlichen Länder eine goldene Nase verdienen konnten!) schon wieder zu vergessen. (ja, diese disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte, die er und Kanzlerin Merkel so lieben, warum bleibt sie jetzt – wenigstens ein wenig – aus?)

Das wäre fatal, meint der Bundesbankpräsident – denn: Auf einem Berg von privaten (sic!) und öffentlichen Schulden lässt sich kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gründen. (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/waehrungsunion-europa-darf-den-stabilitaetspakt-nicht-aufweichen-1.2012175 externer Link)

Dabei hat er sich noch nie dem so klar belegten Einwand gestellt, dass dieses Sparen schon bisher – wenigstens die öffentlichen – Schulden immer nur erhöht hat – es also anscheinend “widersinnig” ist, durch Sparen die öffentlichen Schulden abzubauen.

Dem hält nun der DGB entgegen: Statt dieser Prinzipienreiterei wollen wir ökonomische Vernunft:

Es stellt sich die Frage, ob politisch und ökonomisch ein striktes Festhalten am Sparkurs für die Länder, die in der Krise stecken Sinn macht – oder eben nicht. Dafür gibt es einige Erkenntnisse aus den Industrieländern USA, Europa und Japan, um zu einem vernünftigen – und empirisch belegbaren! – Urteil über die Schulden zu gelangen. Und die lassen sich in aller Kürze folgendermaßen zusammenfassen: Befindet sich ein Land im konjunkturellen Abschwung und versucht seine Schulden durch Ausgabenkürzungen abzubauen, verursacht dies bei jeweils 100 Euro Ausgabenkürzungen einen Rückgang des Bruttoinlandproduktes (BIP) um 249 Euro, also um das Zwei-ein-halb-fache und verschärft dadurch die Rezession erheblich. (http://www.dgb.de/themen/++co++010669c4-fde2-11e3-a756-52540023ef1a externer Link)

Der DGB kann dabei auf die Erhebung des IMF (IWF) aus dem Jahr 2012 zurückgreifen, die diese Verhältnisse von Schuldenkürzung und Wirtschaftseinbußen ausführlich empirisch erhoben und festgestellt hatte. (Siehe dazu Nicoletta Batini, Giovanni Callegari, Giovanni Melina, “Succesful Austerity in the United States, Europe and Japan” – diese über 60-seitige Studie ist abzurufen unter http://www.boeckler.de/41500_41518.htm externer Link – Link am Ende!)

Aber was gilt einer Ideologie, wie dem Neoliberalismus die Empirie: Was sollen die Fakten, wenn ich meiner – wenn auch falschen – Navigationskarte einfach weiter folgen “will” – ob man es “kann”, könnte längerfristig doch einfach noch zum “wachsenden” Problem werden.

Der Stabilitätspakt will aber genau diese Erkenntnisse negieren – und ist daher – wie Paul Krugman es formuliert – ein “große Dummheit”.

Und was hat Jens Weidmann dazu an ökonomischen Fakten zu bieten – außer dass Deutschland mit den Finanzmärkten doch in dieser Krise recht gut gefahren ist – und da spielt es dann keine Rolle mehr, dass gerade auch in Deutschland die – vor allem kommunale – Infrastruktur vor die Hunde geht. (http://www.boeckler.de/14_47537.htm externer Link)

Und außer dass gerade in der Krise die Reichen immer noch massiv reicher geworden sind (siehe Piketty-Diskussion), hat er dem wenig “entgegen”zusetzen. (Vgl. dazu noch einmal vor allem “Vermögensverteilung in Deutschland besonders krass” auf der Seite 3 f. bei https://www.labournet.de/?p=56871)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=61041
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