Betriebsklimakatastrophe: ›Mit Eurem Siegeswillen unschlagbar‹ – Ralf Kronig zur »Haltbarkeit« der Beschäftigten bei SAP

Artikel von Ralf Kronig * zur »Haltbarkeit« der Beschäftigten bei SAP, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1-2/2013

»Best Year Ever«, Rekord-Quartalszahlen, über fünf Milliarden Euro Gewinn bei über 30 Prozent Rendite, Milliarden-Firmenkäufe und permanente Tempoerhöhung in Form von »Antreiber-Emails« der Vorstandssprecher: »Wie gut das Unternehmen diese Prioritäten umsetzen kann, liegt an jedem Einzelnen von uns. Jeder in unserem Team kann mit voller Kraft dazu beitragen, dass wir unserem Ziel näher kommen. Um das mit Schnelligkeit und Beweglichkeit zu erreichen, haben wir folgende organisatorische Änderungen beschlossen…«. Dann folgen diverse Reorganisationen zum Jahresanfang und der aufschlussreiche Hinweis: »Änderungen sichern uns einen schnellen Start 2013.« Für Erholung und Regeneration ist weder Raum und noch Zeit, denn: »Wir werden überall Kosten zurückfahren« und: »Wir werden nicht mehr so viel einstellen«. Das sind Vorstandsankündigungen, die eine weiter steigende Arbeitsverdichtung und -intensität für die Beschäftigten bedeuten. Der Gewinn soll sich schließlich um eine Milliarde Euro auf sechs Milliarden Euro im Jahr 2013 erhöhen.

Doch wer zahlt für diese »Hochgeschwindigkeits- und Höchstleistungskultur« den Preis? Oder gibt es wirklich ein zeitlich entgrenztes »Spitzensportlerleben« im Betrieb? Neben den geschönten Ergebnisdarstellungen von Mitarbeiterbefragungen, die den Eindruck einer allzu heilen Arbeitswelt vermitteln, gibt es gravierende Schattenseiten des Unternehmenserfolgs bei SAP im nordbadischen Walldorf. Die Gesundheit der Beschäftigten, deren Durchschnittsalter in Deutschland bei über 40 Jahren liegt, befindet sich in einer bedenklichen Schieflage. Der Druck des Managements und die Vorgaben des Aufsichtsratsvorsitzenden, Haupteigentümers und »Cheftechnikers« Hasso Plattner zeigen ihre verheerende Wirkung. Wieder nehmen sich Beschäftigte Auszeiten, um sich vor Erschöpfungszuständen und exzessiven Belastungsrisiken zu schützen oder vom erhöhten Verschleiß zu erholen. Wieder hat sich die Anzahl arbeitsbedingter Langzeiterkrankungen bedenklich erhöht. Wieder sind Kolleginnen und Kollegen über die Feiertage früh verstorben.

Nachhaltigkeit ade, Turbo an

Die Arbeit muss immer schneller fertig werden. Tag und Nacht gehen Anrufe auf dem Smartphone ein, Konferenzen finden zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten in verschiedenen Zeitzonen statt, SMS und Emails sind »zeitnah« zu checken, zugleich gibt es Meetings mit KollegInnen, mehrere Projekte werden parallel verfolgt, vorgegebene Ziele und Deadlines sind einzuhalten – und am besten sind die Beschäftigten immer erreichbar und zeitgleich in den sog. ›sozialen Medien‹ aktiv. Natürlich werden frühzeitige Erledigung und ein perfektes Arbeitsergebnis erwartet. Schwächen und Erkrankungen sind nicht einkalkuliert.

Diese Arbeitsweise geht an die Substanz der Menschen. Da ist die Katastrophe oftmals nah – weil knapp geplante Projekte platzen oder Beschäftigte nicht mehr können. Jeder will sein Bestes geben, im Unternehmen und privat. Doch der immense Leistungs- und Erwartungsdruck ist wie ein Sog, dem niemand entkommt, auch am Feierabend, in der Nacht und am Wochenende nicht. Denn wenn zum Beispiel der »Cheftechniker« Ergebnisse bis zum Montag erwartet, gibt es für viele Beschäftigte keine Freizeit.

»Die 40-Stunden-Woche habe ich nie eingehalten, doch jetzt kommt noch der Termin- und Gruppendruck dazu, den uns das Management von oben diktiert. Das ist doch nicht mit der Lean-Philosophie gemeint. Immer muss ich nachweisen, was ich tue, wie erfolgreich ich es tue, mich rechtfertigen und punktgenau abliefern. Dazu kommen noch permanente, überflüssige Reorganisationen vom Vorstand. Da verliere ich das Vertrauen.«

Viele KollegInnen stellen sich die Frage: »Schaffe ich es bis zum Rentenalter, gesund und fit zu bleiben, in diesem Rhythmus weiter zu arbeiten?« Durch permanente Restrukturierungen, extreme Leistungsanforderungen und Rationalisierungsmaßnahmen wie »Lean Production« (schlanke Produktion) in der Software-Entwicklung werden bei SAP Tatsachen geschaffen. Mit Hilfe von verkürzten Taktungen – zum Beispiel Produkt-Abgabe im Zwei-Wochen-Rhythmus – wird permanente Höchstleistung gefordert. Und der Takt kann zerstörerisch sein.

Tägliche Besprechungen, unklare Kompetenzverteilungen und unrealistische Terminvorgaben fördern die individuellen Belastungen. Auf der Strecke bleiben Regenerationspausen, die Gesundheit und oftmals das Innovationspotenzial der Fachkräfte, deren Motivation und Überzeugung, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen.

»Gratifikationskrise«

Wo Vertrauensarbeitszeitregelungen bestehen, müssten sie eigentlich auch zu mehr Arbeitszeit-Souveränität für die Beschäftigten führen, zu Freistellungsansprüchen und zum Mitentscheiden. Vertrauen beruht schließlich auf Gegenseitigkeit, doch der Grundsatz ist verletzt. »Net schwätze – schaffe!«, lautet ein bekanntes Sprichwort in der Region des Unternehmens.

Arbeitsanforderungen, Arbeitsleistungen und die Gegenleistungen der Arbeitgeberin stehen in einem immer größeren Missverhältnis. Schleichend stellt sich eine »Gratifikationskrise« ein: Unfassbar niedrig sind die fixen Mindest-Gehaltserhöhungen von knapp über einem Prozent, die in der Regel jährlich neu ›ausgeschüttet‹ werden. Überstunden gibt es in einer unternehmensorientierten Vertrauensarbeitzeit nicht, entsprechend werden sie auch nicht vergütet, auch wenn eine 60- oder 70-Stunden-Woche vorliegt. Die Zielvorgaben werden so hoch gesetzt, dass die variablen Anteile für die Beschäftigen in keinem Verhältnis zu den willkürlich festgelegten Zahlungen an das Management stehen. Die Bezahlung ist für viele Beschäftigte somit ungerechter und unfairer geworden.

Dagegen verdienen die SAP-Kapitalgeber Milliarden durch unbezahlte Überstunden der Beschäftigten, eine moderne und zugleich uralte Form betrieblicher Ausbeutungskultur. Allein der Aufsichtsratsvorsitzende erhielt für das Geschäftsjahr 2011 über 133 Mio. Euro Dividende. Ein Zeichen für ein immer größer werdendes Auseinanderdriften der sozialen Schere und ein Zeichen mangelnder Teilhabe der SAP-Beschäftigten am Unternehmenserfolg. Aufgeblähte Boni, Gehälter, Prämien, Optionsgeschäfte, Abfindungsregelungen, Antrittsgelder, Rentenbezugsansprüche und Abgangsentschädigungen für die sog. Wirtschaftselite sind Ausdruck eines finanzmarktgetriebenen Turbokapitalismus und seines kurzfristigen, irrsinnigen Renditedenkens. »Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird«, meinte schon Marx.

»Arbeiten bis zum Umfallen«

Trotz entsprechender Studien, vieler Erkenntnisse aus Untersuchungen und längst vorliegender konkreter Handlungsempfehlungen zur demografischen Entwicklung: Bei SAP wurde bisher nicht eine Maßnahme zur alter(n)sorientierten Gestaltung der Arbeitsbedingungen ernsthaft geprüft und umgesetzt. Von einer Entschleunigung kann nicht die Rede sein, denn weiterhin werden Beschäftigte als Modell »autistischer Leistungsmaschinen« betrachtet und gepuscht. Jeder hat als »Ressource« zu funktionieren und sich zu verhalten.

Die Beschäftigten verfügen oft nicht über den notwendigen Gestaltungsspielraum, um ihre Arbeitsaufgaben und -belastungen eigenständig angehen und verbessern zu können. Immer seltener werden direkte Aufträge formuliert, statt dessen gibt es indirekte Ziel- und Leistungsvorgaben. Nur das Ergebnis zählt. Notwendig wäre eine Wertschätzung von Erfahrungswissen, um die Kompetenzen der Beschäftigten zu erweitern. Allein die Einhaltung einer regelmäßigen, täglichen Arbeitszeit von acht Stunden wäre nachhaltig weniger belastend für die Menschen.

»So stelle ich mir Fließbandarbeit vor, das hätte ich nie gedacht, dass ich den Sinn in meiner Arbeit verliere. Für Innovation habe ich keine Zeit, da Termine, Zahlen und Vorgaben mich erdrücken. Ich muss ja im Takt arbeiten.«

Die flexiblen Arbeitseinsätze, die überzogenen Arbeitsanforderungen und die Höchstleistungskultur – ohne Entlastungsregeln – bewirken, dass Menschen ihre Leistungsgrenzen permanent überschreiten. Viele Ärzte und Therapeuten warnen vor der Entwicklung und sprechen von stark veränderten Krankheitsbildern bei allen Altersgruppen. Zum Beispiel melden Schwerbehinderte ihren Status nicht, weil die Betroffenen Nachteile für ihre berufliche Entwicklung oder Sanktionen befürchten. Junge Menschen, Zeitarbeitskräfte oder Beschäftigte mit Werkverträgen arbeiten oftmals unter prekären Bedingungen, in der Hoffnung, dass sich daraus irgendwann einmal eine Festanstellung ergibt. SAP fördert die Entwicklung zum »kranken Unternehmen«, wie es eine Kollegin sagte.

»Ich hatte zum zweiten Mal Tinnitus, das ist schon ganz normal, brauchte schon längere Auszeiten, auch meine Ehe ging kaputt, manchmal denke ich, wie soll ich den ewigen Druck noch zwei bis drei Jahre aushalten.«

Was passiert mit Beschäftigten, die mit den Tempoverschärfungen nicht mehr mithalten können, wenn sich die Rahmen- und Arbeitsbedingungen nicht verbessern?

Gesundheitswesen nach Management-Maß

Oftmals sind psychiatrische und therapeutische Einrichtungen die letzte Hilfemöglichkeit für Betroffene, die unter Burnout, De-pressionen oder Angststörungen leiden. Sie können am Arbeitsplatz und im Unternehmen nicht mit Unterstützung, Verständnis und Hilfe rechnen. Längst wird auch über arbeitsbedingte Suizide gemunkelt, auch wenn dazu bisher konkrete Erkenntnisse und Zahlen fehlen.

Das unternehmensinterne Gesundheitswesen definiert SAP als ein »im Kern nachhaltig gesundes und erfolgreiches Unternehmen«. Angesichts Hunderter von Langzeitkranken muss dies ›nachhaltig‹ bezweifelt werden. Darüber hinaus versteht sich das Gesundheitswesen als verlängerter Arm der Arbeitgeberin und Erfüllungsgehilfe im betriebswirtschaftlichen Sinne: »Das Thema der Zukunft ist jedoch nicht das Messen der physischen Abwesenheit (Absentismus), sondern die Frage, wie viel Produktivität dadurch verloren geht, dass Mitarbeiter dem Unternehmen nicht ihr volles Potenzial zur Verfügung stellen können (Präsentismus).« Tatsächliche Sozialpartnerschaft definiert sich anders, denn Stress ist keine rein persönliche Verhaltensreaktion. Statt verhaltensbezogener Maßnahmen bedarf es einer verstärkten Verhältnisprävention, das heißt: Die krankmachende betriebliche Realität muss verändert werden.

Ergebnisse zur »Work-Life-Balance« im Rahmen weltweit durchgeführter Mitarbeiterbefragungen durch die Arbeitgeberin wurden jahrelang ignoriert. Zuletzt mit der Begründung, dass das Engagement der Beschäftigten immer noch sehr hoch sei. Das Verhalten des Managements erscheint somit grob fahrlässig, wenn die »kollektiven Erschöpfungszustände« keine wirkliche Beachtung für die Arbeitsgesundheit finden. Es mangelt an Verbindlichkeit. Eine jüngst durchgeführte Befragung der IG Metall im Rahmen der Bundesinitiative »Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft« im Projekt »Arbeitsorientierte Innovationspolitik zur Sicherung und Förderung der Frauenbeschäftigung in industriellen Branchen« zeigt mehr als deutliche Warnsignale und eine dramatische Entwicklung auf:

  • 38 Prozent der Befragten bemerken eindeutige Stresssymptome, bei weiteren 27 Prozent kommt dies gelegentlich vor.
  • Beruf und Privatleben sind für 32 Prozent der Beschäftigten schwer vereinbar, für 40 Prozent ist das teilweise so. Männer sehen hier etwas mehr Probleme als Frauen.
  • In ärztlicher Behandlung aufgrund arbeitsbedingter Stresssymptome sind 18 Prozent der Befragten. Weitere 8 Prozent sind dies gelegentlich.
  • Die Erwartung, Mehrstunden arbeiten zu müssen, haben 63 Prozent der Befragten – auch hier äußern sich die Männer kritischer.

Die Studie hat SAP nicht interessiert.

»Die Haltbarkeitsdauer eines Software-Entwicklers ist nicht länger als die eines Kricketspielers – ungefähr 15 Jahre. Die 20-jährigen Typen bringen mir für den Unternehmenserfolg mehr als die 35-Jährigen (…) Bei dem Tempo, in dem die Technologie sich verändert, wird man mit 35 sehr schnell überflüssig, wenn man nicht dazulernt. Für 40-Jährige ist es sehr schwierig, relevant zu sein.« (Aussage eines SAP-Managers, bevor er befördert wurde.)

Zwar gibt es seit 2011 Regelungen für die Wiedereingliederung von Langzeitkranken – mit der Einführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) sollte jeder bei der Rückkehr ins Unternehmen auf Wunsch Unterstützung erhalten. Gerade bei psychischen Erkrankungen kann sich das BEM aber als Drama für die Betroffenen darstellen. Denn eine ernsthafte Wiedereingliederung stellt sich bei einer physisch bedingten Erkrankung einfacher dar als bei psychisch bedingter Abwesenheit. Bei psychischen Langzeiterkrankungen spielen neben dem erheblichen Leistungsdruck und den überhöhten Zielvorgaben insbesondere die Personen, die den Leistungsdruck weitergeben, eine entscheidende Rolle. Oftmals ist die Wiedereingliederung in den gleichen Bereich mit der gleichen Umgebung und den gleichen Vorgesetzten unmöglich. Es muss ein anderer Bereich gefunden werden. Die Bereitschaft der Arbeitgeberin dazu hält sich allerdings in Grenzen. Von Verantwortlichen müssen sich die betroffenen Kolleginnen und Kollegen dann schon mal Aussagen anhören wie »Bitte hab Dich nicht so«, »Stell ich nicht so an«, »Streng Dich an«, »Hattest Du zu viel Stress zu Hause?«, »Es wird viel besser als vorher« oder »Es wäre doch besser, außerhalb von SAP eine ›Herausforderung‹ zu suchen«. Die Arbeitgeberin geht logischerweise gerne den einfachen Weg: zurück in die alte Abteilung, obwohl dies von externen Therapeuten sehr selten empfohlen wird.

Die Kolleginnen und Kollegen sollen ein paar Monate »nett« zu dem Rückkehrer sein, der Chef auch. Es wird verlautbart, der kranke Kollege/Kollegin habe gefehlt, weil er/sie »private oder persönliche Probleme« habe. Man schont sie oder ihn dann eine gewisse Zeit, und dann fangen Stress und Druck wieder von vorne an.

Letztlich schiebt SAP die Probleme auf den Einzelnen ab und individualisiert das Thema Krankheit. Die Arbeitgeberin leugnet die Verantwortung, die Antreiberin und Ursache für psychische Probleme, Burnout mit Angstzuständen, Panikattacken und Selbstmordgedanken zu sein.

Marktradikal kontrolliert und gesteuert

Als zentrale Ursache für die immensen arbeitsbedingten Belastungen kann die maßlose, marktradikale Renditevorgabe angesehen werden: Im Jahr 2015 soll sie über 35 Prozent erreichen. Der persönliche Profit von wenigen ist hier wichtiger als Fragen zur Gesundheit am Arbeitsplatz.

Die Entwicklung bei SAP steht dafür, wie stark zwei Pole auseinander driften: die wirtschaftlich möglichst optimale Verwertung der Arbeitskraft und die soziale Anerkennung der Arbeitsleistung. Jeder Beschäftigte soll als Individuum seine Wettbewerbs- und Wertschöpfungsfähigkeit täglich unter Beweis stellen. Wer »sich nicht rechnet«, dem drohen Sanktionen – spätestens im jährlichen Mitarbeitergespräch, das die Bewertung der Leistung, des Engagements und zukünftig des Verhaltens (z.B. Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Arroganz o.ä.) bzw. der Einhaltung von »Unternehmenswerten« beinhaltet.

Die Arbeit im Unternehmen muss umgestaltet werden: Der psychische Druck und die Dauerbelastung müssen abgebaut werden. Gegen vorgegebene Rahmenbedingungen und inhumane Arbeitsbedingungen kann der einzelne Beschäftigte allein nichts unternehmen. Und: Auf freiwilliges Handeln von oben zu warten, das zeigt die Erfahrung, ist ein Fehler und illusorisch. Zu guter Arbeit gehören nachhaltige Arbeitsbedingungen.

Doch während die Durchsetzung entsprechender Forderungen schon auf betrieblicher Ebene, im direkten Kontakt der Beschäftigten untereinander und mit dem Management schwierig ist und eine Überwindung der individualisierenden Managementtechniken voraussetzen würde, rollt die nächste Welle zur Verschärfung der Arbeitsbedingungen bereits auf uns alle zu: Cloud Computing, Crowdsourcing, Talent Cloud – neue Arbeitsformen mischen momentan die IT-Branche ordentlich auf.

»Das Besondere am Cloud-Geschäft ist, dass man laufend liefern muss. Extrem kurze Release-Zyklen, ständige Änderungen, permanente Innovationen, unmittelbare Reaktionszeiten: Das kennzeichnet unser Business.« Leiter des Bereichs »Cloud«

Arbeiten in der Wolke

Was harmlos klingt, ist im Prinzip eine Arbeitsverlagerung ohne Beschäftigungssicherung. Dies könnte einen Großteil der 900 000 IT-Beschäftigen in Deutschland treffen. Unter »Crowdsourcing« versteht man die »Strategie des Auslagerns einer üblicherweise von Erwerbstätigen entgeltlich erbrachten Leistung durch eine Organisation oder Privatperson mittels eines offenen Aufrufes an eine Masse von unbekannten Akteuren, bei dem der Crowdsourcer und/oder die Crowdsourcees frei verwertbare und direkte wirtschaftliche Vorteile erlangen.« (Papsdorf 2009) Das passiert beispielsweise über virtuelle Netzwerke oder das World Wide Web. Firmen stellen Aufträge einfach online ins Netz, sie müssen sich noch nicht einmal mehr um die Frage »Leiharbeit oder Werkverträge?« kümmern und warten nur noch, bis die Dienstleistung geliefert wird. Die beste und billigste Lösung erhält den Zuschlag. Alle anderen haben umsonst gearbeitet. Im Internet konkurrieren dann fachliche Experten aus der ganzen Welt um den Auftrag, selbstverständlich unter der Leistungs- und Verhaltenskontrolle des Auftraggebers. Einen festen Arbeitsvertrag, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaub – all das wird es nicht mehr geben. Mit neuesten elektronischen Mitteln halten so alte Prinzipien des Wanderkapitalismus wieder Einzug. Ein globalisierter Arbeitsmarkt ohne »Leitplanken« und Regeln wird zu noch mehr Stress und Krankheiten führen – auch deshalb, weil die unternehmerischen Risiken vollständig auf die Beschäftigten abgewälzt werden.

Ein Vorstandssprecher von SAP hat kürzlich bereits angekündigt: »So wollen wir eine Million Entwickler von Software für uns gewinnen, ohne sie bei SAP anstellen zu müssen«. Eine klare Ansage an die Beschäftigten von SAP, die viele verunsichert und ein beängstigendes Zukunftsszenario erahnen lässt. Doch das Arbeiten in der Wolke wird bei der IT-Branche nicht Halt machen. Umso mehr gilt: Gute Arbeit kommt nicht von allein. Dafür müssen wir streiten.

*  Ralf Kronig ist IG Metall- und Betriebsratsmitglied bei der SAP AG und aktiv bei »GewerkschaftsGrün«. Kontakt: ralf.kronig@sap.com

Literatur:

Christian Papsdorf: »Wie Surfen zur Arbeit wird. Crowdsourcing im Web 2.0«, Frankfurt a.M./New York 2009

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=27844
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