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Tunesien

Tunesien: Generalstreik am Freitag massiv befolgt; Pro-Regierungs-Demo von Islamisten am Samstag. Der Verbleib oder Nichtverbleib des Kabinetts im Amt ist weiterhin unklar

Artikel von Bernard Schmid vom 12.2.2013

Den Generalstreik am Freitag, den 08. Februar 13 (vgl. den Bericht des Autors im LabourNet Germany) befolgten die tunesischen Lohnabhängigen, aber auch Selbstständige wie Händler und Ladenbesitzer massiv. Der Luftverkehr am Flughafen in Tunis war vollständig eingestellt, die meisten öffentlichen Ämter waren geschlossen, und zahlreiche Läden und Geschäfte waren geschlossen. Dem Aufruf zum Generalstreik hatte sich übrigens letztendlich auch die UTICA angeschlossen, also der tunesische Arbeitgeberverband (sein Aufruf in arabischer Sprache liegt dem Autor vor). Auch er wandte sich gegen die politische Gewalt, die sich in der Ermordung des Rechtsanwalts und linken Oppositionspolitikers Chokri Belaïd manifestierte, und in welcher er eine Stabilitätsbedrohung sieht.

Für den Mord an Chokri Belaïd, den vermutlich zwei bisher unbekannte Täter am Morgen des 06. Februar 13 vor seiner Haustür verübten (hier ein Roboterbild der Tatverdächtigen: http://www.businessnews.com.tn/Portrait-robot-des-assassins-pr%C3%83%C2%A9sum%C3%83%C2%A9s-de-Chokri-Bela%C3%83%C2%AFd,520,36245,3 externer Link), machen sehr viele in Tunesien die Islamisten politisch verantwortlich. Sei es die Salafisten, die in ideologisch motivierten Rechtsopposition zur Regierung (als „Verrätern an den en Idealen“) stehen, oder aber die „Ligen für den Schutz der Revolution“ (LPR), in denen sich ein Teil der Basis der stärksten Regierungspartei En-Nahdha organisiert. Der amtierende, zu En-Nahdha gehörende Innenminister ‘Ali Laarayedh hatte den jetzt ermordeten Oppositionspolitiker etwa öffentlich dafür verantwortlich gemacht, die Unruhen in Siliana zwischen dem 27. November und dem 01. Dezember 12 (vgl. https://www.labournet.de/internationales/tunesien/tunesien-es-rappelt-in-der-kiste-und-die-gewerkschaft-mitten-drinnen-teil-1/#more-18660 externer Link) „geschürt“ zu haben – irgendjemand musste ja schuldig sein und sie angezettelt haben. Chokri Belaïd weilte zum fraglichen Zeitpunkt allerdings überhaupt nicht in Tunesien, sondern hielt sich in Marokko auf. Wiederholt wurde ihm und Anderen seitens von Sympathisanten der Islamisten vorgeworfen, Sabotage an der Regierungsarbeit zu verüben, und dies in Abstimmung mit bösen äußeren Mächten. Salafisten und/oder Aktivbürger aus den Reihen der LPR attackierten Belaïd wiederholt körperlich, bei politischen Streitgesprächen in Tunis und anderswo. Zuletzt mischten sie am 02. Februar 13 einen Kongress seiner Partei (der ex-maoistischen Strömung der patriotes démocrates, Mitgliedsformation im Linksbündnis Front populaire) im westtunesischen El-Kef auf. Dabei wurden 11 Teilnehmer an dem Kongress verletzt.

An der Beerdigung von Chokri Belaïd – der am vergangenen Freitag gegen 16 Uhr in die Erde eingelassen wurde – nahm an jenem Nachmittag eine ungezählte Menschenmenge teil. Zunächst hatte die Polizei bekannt gegeben, sie werde keine Schätzungen über die Teilnehmerzahl veröffentlichen, während erste Beobachterquellen um die Mittagszeit bereits von über 50.000 Menschen sprachen. Am Nachmittag publizierte die Polizei dann doch Angaben und sprach ihrerseits von 40.000 Teilnehmer/innen. An den Einlässen zum Friedhof und in der Umgebung griffen unterdessen teilweise Gruppen von jungen Männern Teilnehmer an – teilweise schlicht, um sie zu berauben, aber viele Beteiligte machten En-Nahdha für ihr Treiben verantwortlich (zu Recht oder zu Unrecht). Die Menge rief politische Parolen, wie schon an den Vortagen, beispielsweise immer wieder Asch-Scha’ab yurid, saura min dschadid („Das Volk will die/eine Revolution, von Neuem“) oder das altbekannte Asch-Scha’ab yurid isqat al-nidham („Das Volk will den Sturz des Regimes“). Die Polizei versuchte gegen Ende hin, die Menge gewaltsam zu zerstreuen, nachdem sie sich am Anfang zunächst noch ferngehalten und nicht eingegriffen hatte. Die Organisierung und den Schutz der Begräbnisfeierlichkeiten hatte Staatspräsident Moncef Marzouki der Armee überantwortet, was ihnen den Status eines Quasi-Staatsbegräbnisses verlieh.

Unterdessen mobilisierte am Samstag auch das Pro-Regierungs-Spektrum am Samstag zu einer Demonstration mit entgegengesetzter Ausrichtung. Dazu rief der Jugendverband von En-Nahdha auf. Den geeigneten Anlass dazu lieferten ihr eAussprüche des französischen Innenministers Manuel Valls; der rechte Sozialdemokrat und Abschiebepolitiker hatte am Donnerstag in einer ersten Reaktion auf die Ermordung von Chokri Belaïd von „islamischem Faschismus“ gesprochen und gefordert, „die demokratischen und laizistischen Kräfte in Tunesien zu unterstützen“. (Der Begriff des Laizismus bezeichnet die spezifisch französische Konzeption der Trennung von Kirche und Staat. Letztere kann man zwar im Prinzip historisch gutheißen, aus historischen Gründen – Frankreich war in Nordafrika Kolonialmacht – ist der Begriff im französischsprachigen Maghreb jedoch geschichtlich belastet und „versaut“. Auch die progressiven Kräfte in Tunesien, die für das Heraushalten der Religion aus der Politik eintreten, sprechen deswegen nicht begriffsgleich von „Laizismus“, sondern fordern einen „zivilen (madani) und demokratischen“ Staat.)

Dies wurde von Einigen in Tunesien als Provokation begriffen, und die Islamisten benutzten es als Steilvorlage. Die französische Staatsmacht ist im postrevolutionären Tunesien generell nicht besonders gerne gesehen, u.a. aufgrund der Eseleien der damaligen Außenministerin Michèle Alliot-Marie, die noch am 11. Januar 2011 – drei Tage vor der überstürzten Ausreise von Präsident Ben ‘Ali – dessen Regime das „französische polizeiliche Know-how“ anbot. Der erste Botschafter Frankreichs nach der ersten Stufe der Revolution, der durch Nicolas Sarkozy eilig entsandte „Sunny Boy“ Boris Boillon – sein Vorgänger musste als enger Freund der Ben ’Ali-Diktatur schnell aus dem Verkehr gezogen werden -, war im Februar 2011 wiederholt mit Demonstrationen unter dem Motto „BB hau ab!“ konfrontiert… (Zum Glück gibt es auch ein anderes Frankreich. Als am Wochenende der französische Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon die Witwe, die Familie sowie das Grab von Chokri Belaïd aufsuchte, wurde dies jedenfalls weniger als „Aggression“ genommen, als die Sprüche von Manuel Valls…)

Die Islamisten bedankten sich für die Steilvorlage des französischen Abschiebeministers, und konnten rund 3.000 – nicht unbedingt jugendliche – Menschen am Samstag Nachmittag in Tunis versammeln (vgl. etwa http://www.lemonde.fr/tunisie/article/2013/02/09/a-tunis-france-degage_1829648_1466522.html externer Link oder http://www.lemonde.fr/tunisie/article/2013/02/09/tunisie-heurts-nocturnes-dans-la-region-de-sidi-bouzid_1829577_1466522.html externer Link). Dabei beschuldigten sie ausländische Mächte, gegen die tunesische Regierung unter En-Nahdha zu arbeiten. Die Beteiligung an der Demonstration zeugt allerdings von einer nur sehr relativen und begrenzten Mobilisierungsfähigkeit. Jedenfalls wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass En-Nahdha bei der Wahl für das provisorische Parlament vom 23. Oktober 2011 (mit 35 % der Stimmen und 41 % der Sitze) mit Abstand stärkste Partei wurde und noch immer – trotz Sympathieverlusten an der Regierung – anscheinend mit rund 30 % der Stimmenrechnen kann.

Unterdessen ist noch immer unklar, ob das unter massiven Druck geratene tunesische Kabinett unter dem Premierminister Hamadi Jebali abtreten wird oder nicht. Letzterer ist zwar auch Generalsekretär der Partei En-Nahdha, aber mit seiner eigenen Organisation in Konflikt geraten. In einem taktischen Schachzug schlug er am Mittwoch, den 06. Februar – dem Tag, an dem die Ermordung Chokri Belaïds bekannt wurde – vor, alle Parteivertreter sollten aus der Regierung abtreten, und diese solle bis zur anzuberaumenden Wahl parteilose „Kompetenzleute“ (also Technokraten) umfassen. Der Clou bei der Sache war, dass Jebali nicht den geschlossenen Rücktritt seiner Regierung (also einschließlich seiner selbst) ankündigte, sondern selbst im Amt bleiben und nur seine Regierung „zurücktreten“ wollte. Dies kam jedoch bei seiner eigenen Partei nicht gut an: Die ,Schura‘ (vom arabischen Wort für „Ratsversammlung“) als oberstes Gremium von En-Nahdha verweigerte diesen Schritt und lehnte den Rücktritt der Regierung ab. (Vgl. http://www.businessnews.com.tn/Tunisie—Le-Conseil-de-la-Choura-d%E2%80%99Ennah\
dha-rejette-la-proposition-de-Hamadi-Jebali,520,36225,3
externer Link)

Als Begründung ihrer Haltung wurde angeführt, „die Krise (sei) politisch“, und das Land benötige deswegen auch „eine politische Regierung“. Ebenso positionierte sich Parteichef Rached Ghannouchi. Am Samstag, den 09.02.13 kündigte dagegen einer ihrer beiden Juniorpartner in der Regierung – der liberal-nationalistische, bürgerliche „Kongress für die Republik“ (CPR), die Partei von Präsident Marzouki – an, ihre drei Minister aus dem Kabinett abzuziehen. Am Sonntag machte die Partei dann allerdings ihren Schritt wieder rückgängig und kündigte ihren Verbleib in der Regierung an. Am heutigen Dienstag um die Mittagszeit schlug nun En-Nahdha ihrerseits vor, eine „zum Teil aus Technokraten“ (und also zum Teil aus Parteivertretern) bestehende Regierung als Kompromisslösung zu bilden. (Vgl. http://www.assawra.info/spip.php?article2428 externer Link)

Der Druck bleibt unterdessen aufrecht erhalten. Die pro-islamistischen „Milizen zum Schutz der Revolution“ mobilisieren ihrerseits eifrig weiter, und legten soeben etwa eine Liste von „zu boykottierenden“ Medien vor (in der Mehrzahl der tunesischen Presseorgane werden die Islamisten scharf bekämpft), vgl. http://www.businessnews.com.tn/Tunisie—-Les-Ligues-de-protection-de-la-r%C3%A9volution-dressent-une-liste-des-m%C3%A9dias-%C3%A0-boycotter,520,36220,3 externer LinkIm Namen der – ansonsten durchaus realen – Erfordernis, mit den Strukturen des alten Regimes stärker zu brechen, als dies bisher erfolgte (Polizei– und Justizapparat blieben etwa weitgehend unangetastet), wird die islamistische Parteibasis für die Ziele der Partei und die Ablehnung zu starker institutioneller Kompromisse mobilisiert. Auf der anderen Seite bringen unterdessen mancher ihrer Gegner gedanklich schon mal ein Eingreifen der Armee ins Spiel… (Vgl. http://www.businessnews.com.tn/Mohamed-Brahmi–L%E2%80%99arm%C3%A9e-pourrait-se-ranger-du-c%C3%B4t%C3%A9-de-Jebali-contre-l%E2%80%99aile-dure-de-Ghannouchi-%28Vid%C3%A9o%29,520,36222,3 externer Link)

Dass es ein durchaus mobilisierungsbereites islamistisches Milieu im aktuelle Kontext gibt, zeigte sich auch in Frankreich, wo die tunesische Opposition (unterschiedlicher Couleur) seit den Tagen Ben ‘Alis über ein starkes Standbein verfügt. In Paris beispielsweise fanden eine Reihe von Solidaritätskundgebungen für die Opposition statt sowie – am Samstag, den 09. Februar – eine Demonstration im Barbès-Viertel. An ihnen nahmen je zwischen 200 (am Donnerstag), 300 (am Freitag) und über 500 (am Samstag) Menschen teil. Am vergangenen Donnerstag im Pariser Ost-Stadtteil Couronnes war zu beobachten, dass zum ersten Mal eine solche Protestkundgebung von Salafisten, durchmischt mit relativ verwirrten oder desorientierten Jugendlichen, attackiert wurde – wenngleich verbal und nicht körperlich. Ein augenscheinlich politisch ziemlich verlorener Jugendlicher, mit dem der Autor dieser Zeilen dabei am Rande des Geschehens diskutieren konnte, zeigte sich überzeugt davon, es bei den Leuten gegenüber mit einer Pro-Ben ‘Ali-Kundgebung zu tun haben…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=26400
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