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Was die französische Regierung unbedingt verhindern will: Dass die zahlreichen Proteste zusammen fließen

Eine in diesen Tagen des September 2019 mit beginnenden Rentenproteste in Frankreich sehr populäre Fotomontage - nicht nur bei den GelbwestenIn Frankreich wurde in den letzten Tagen viel protestiert und demonstriert, zu unterschiedlichen Themen. Der Regierung ging es dabei ihrerseits weniger darum, solche Proteste zu unterbinden – dies hätte ihr auch nicht gelingen können -, sondern eine convergence, d.h. ein Zusammengehen / Zusammenfließen zwischen ihnen tunlichst zu verhindern. Am Samstag, den 21. September d.J. fanden grundsätzlich drei Protesttermine statt. Beim ersten ging es um das mittlerweile quasi als traditionell zu bezeichnende samstägliche Stelldichein der „Gelben Westen“, wie es an jedem Wochenende seit mittlerweile über zehn Monaten, also seit dem 17. November 18 stattfindet. Den zweiten Protesttermin machten die Klimaproteste aus: Seit September 2018 fanden dazu mehrere große Demonstrationen, mit jeweils mehreren Zehntausenden Menschen allein in Paris, statt. Zum Dritten wurde am Samstag, den 21.09.19 auch gegen die sich drohend abzeichnende nächste Renten„reform“ (nach jenen von 1995 – die durch eine Streikbewegung zum Gutteil verhindert werden konnte -, 2003, 2010, 2013/14) protestiert…“ – so beginnt der Artikel „Frankreich: Zu den letzten Protesttagen von Samstag, 21. September bis Dienstag, den 24. September 19“ von Bernard Schmid vom 25. September 2019 (wir danken!):

Frankreich: Zu den letzten Protesttagen von Samstag,
21. September bis Dienstag, den 24. September 19

(Klimademonstration mit Repression und „Gewaltfalle“ konfrontiert, „Konvergenzen“ autoritär unterbunden. Warmlaufen gegen die drohende nächste Renten„reform“. Transportstreik zeichnet sich ab)

In Frankreich wurde in den letzten Tagen viel protestiert und demonstriert, zu unterschiedlichen Themen. Der Regierung ging es dabei ihrerseits weniger darum, solche Proteste zu unterbinden – dies hätte ihr auch nicht gelingen können -, sondern eine convergence, d.h. ein Zusammengehen / Zusammenfließen zwischen ihnen tunlichst zu verhindern.

Am Samstag, den 21. September d.J. fanden grundsätzlich drei Protesttermine statt. Beim ersten ging es um das mittlerweile quasi als traditionell zu bezeichnende samstägliche Stelldichein der „Gelben Westen“, wie es an jedem Wochenende seit mittlerweile über zehn Monaten, also seit dem 17. November 18 stattfindet. Den zweiten Protesttermin machten die Klimaproteste aus: Seit September 2018 fanden dazu mehrere große Demonstrationen, mit jeweils mehreren Zehntausenden Menschen allein in Paris, statt. Zum Dritten wurde am Samstag, den 21.09.19 auch gegen die sich drohend abzeichnende nächste Renten„reform“ (nach jenen von 1995 – die durch eine Streikbewegung zum Gutteil verhindert werden konnte -, 2003, 2010, 2013/14) protestiert.

Um das Rententhema wird es im Anschluss gleich noch gehen. Zu dem Thema wurde auch am gestrigen Dienstag, den 24.09.19 demonstriert. So viel sei vorausgeschickt: Die Mobilisierung vom zurückliegenden Samstag, den 21.09.19 war auf jeden Fall nicht der tatsächliche soziale Protest aus der Lohnabhängigenschaft heraus, den es brauchen wird und der bislang im Wesentlichen noch aussteht – die Dienstagsproteste von gestern stellen dafür eher ein erstes Warmlaufen dar (dazu unten mehr). Am Samstag, den 21. September handelte es sich hingegen um ein reines Schaulaufen einer einzelnen Gewerkschaftsorganisation zum Thema, also darum, deren Apparat zu profilieren. (Vgl. unten)

Klimaprotest und „Gelbwesten“: ehrenwerter Versuch von ATTAC und Solidaires!…

Dass Klimaschützer/innen und „Gelbe Westen“ zusammengehen, versteht sich oberflächlich betrachtet nicht unbedingt von selbst, da der Auslöser für die Entstehung der „Gelbwesten“bewegung im November 2018 ja eine durch das Regierungslager (unter dem Vorwand einer Reduzierung von CO2-Emissionen) angeblich ökologisch begründete Spritsteuererhöhung war.

Tatsächlich fanden sich vor allem in der Frühphase der „Gelbwesten“bewegung – in den allerersten Wochen – auch reaktionäre Dumpfbackenfraktionen innerhalb dieser heterogenen Protestbewegung, deren Position zum Autofahren sich auf den Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ (Copyright bei CDU Hessen 1987) bringen lässt. Mittlerweile allerdings hat sich das Spektrum dieser heterogenen Protestbewegung hinreichend ausdifferenziert, und die reaktionären Kräfte führen diese nicht länger an wie in den allerersten Wochen, da an ihrer Basis relativ massiv linke, auch gewerkschaftsnahe Kräfte bereits seit Ende November/Anfang Dezember 2018 hinzugekommen sind. Auch wenn man in den kleineren Städten und ländlichen Gegenden jeweils darauf schauen muss, mit wem man es konkret zu tun hat, wenn man auf „Gelbwesten“gruppen trifft – vom Besten bis zum Schlimmsten ist in inhaltlicher Hinsicht quasi Alles vertreten, wobei örtlich meistens je eine Couleur prägend wirkt.

Kurz, es schien möglich, auf eine „Konvergenz“ (convergence) zu setzen. Die Vereinigung ATTAC und die Union syndicale Solidaires, also der Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften – kurz Solidaires bezeichnet – meldeten eine Kundgebung in Paris für den Samstag Vormittag (21.09.19) unter dem Motto „für Klima und soziale Gerechtigkeit“ an. Dadurch dockten sie sowohl an den Klimaschutz an als auch an die sozialen Anliegen, die mittlerweile die „Gelbwesten“bewegung doch sehr stark prägen, neben der Referendumsfrage (auch wenn es eher reaktionäre, kleinbürgerliche Steuersenkerfraktionen örtlich an der Basis noch gibt).

…mit autoritären Mitteln unterbunden

Diese Kundgebung wurde jedoch nicht nur nicht genehmigt, sondern sogar ausdrücklich behördlich verboten (vgl. Pressemitteilung von ATTAC Frankreich dazu: https://france.attac.org/actus-et-medias/salle-de-presse/article/rassemblement-de-convergence-a-madeleine-le-gouvernement-entrave-la-liberte-de externer Link).

Die Regierung versuchte also, das, was sie für mutmaßlich inhaltlich am riskantesten ist – also das Zusammengehen unterschiedliche Ansätze verfolgender gesellschaftlicher Protestkräfte, die sich nicht nur nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern (punktuell oder dauerhaft) aktiv zusammenarbeiten – mit repressiven Methoden zu unterbinden.

Vordergründig und offiziell berief die Regierung sich natürlich nicht auf dieses Ansinnen, sondern darauf, dass von „schwarzen Blöcken“ und ihren, nun ja, Protestmethoden (Glasbruch + Kamerapräsenz = möglichst scheinbar radikale Aktion) eine Gefahr bereits im Vorfeld ausgehe. Eine öffentliche Stellungnahme der Regierung, die natürlich, wie in einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“, ebenjene „schwarzen Blöcke“ in den Augen besonders auch vieler junger Menschen als a. besonders radikal, b. besonders gefährlich, c. besonders verboten und deswegen d. besonders interessant erscheinen lässt. Es handelt sich um eine Scheinpolarisierung zwischen Regierenden und vermeintlich besonders radikal agierenden Kräften, die der Regierung durchaus gelegen kommt – da sie dadurch das Terrain, das Spielfeld der Auseinandersetzung wählt, die demnach zuvörderst mit polizeilichen Mitteln statt mit Massenkämpfen und Arbeitskonflikten ausgetragen wird.

Und natürlich kam es ungefähr so, wie es nach solcherlei selbsterfüllenden Ankündigungen aus dem Regierungslager beinahe zwangsläufig kommen musste…

Demonstration abgebrochen

Bereits am Vormittag kam es gegen 11 Uhr auf den Champs-Elysées zu massiven Tränengaseinsätzen. Einmal mehr hatten Angehörige der „Gelbwesten“bewegung (von denen viele inzwischen bei heißeren Aktionen just keine gelben Westen mehr tragen, um weniger leicht polizeilich identifizierbar zu sein; auch die bürgerliche Presse hat dies mittlerweile mitbekommen, vgl. bspw. http://www.lefigaro.fr/actualite-france/pourquoi-certains-gilets-jaunes-defilent-dorenavant-sans-gilet-jaune-20190922 externer Link und https://www.la-croix.com/France/Politique/Lete-gilets-jaunes-entre-declin-transformation-2019-08-06-1201039552 externer Link) auf der so genannten Prachtmeile und dadurch in der Nähe des Elyséepalasts zu demonstrieren versucht. Dies steigerte selbstredend die Wut unter den jungen Linksradikalen plus aktionsdürstigem Anhang – mit und ohne Vermummung – einerseits, den Wutbürgerfraktionen der „Gelbwesten“ andererseits, die entsprechend motiviert in kleineren Gruppen durch die Stadt zogen. Die sozialdemokratische Tageszeitung Libération stellte im Anschluss bilanzierend fest, der „Akt 45“ (d.h. fünfundvierzigste Protestsamstag in Folge) der „Gelbwesten“ in Paris sei „durch die Staatsgewalt anästhesiert“ worden (vgl. dazu: https://www.liberation.fr/france/2019/09/21/a-paris-l-acte-45-des-gilets-jaunes-anesthesie-par-la-force_1752764 externer Link).

Um 14 Uhr sollte dannim Pariser Zentrum, in der Nähe des Jardin du Luxembourg, die Demonstration zum Klimaschutz losgehen. Bis zu einem Drittel hatten sich dort „gelbe Westen“ angelegt, was auch ein wichtiges Symbol darstellt, dafür, dass tatsächlich eine gewisse „Konvergenz“ stattfindet.

Erwartungs- bzw. dem im Vorfeld Herbeibeschworenen gemäß formierte sich dort aber auch ein Pulk von circa 1.000 teilweise Vermummten, den die Polizei wiederum zum Vorwand nahm, um ziemlich frühzeitig massiv in die Demonstration hineinzugrätschen respektive Reizgas einzusetzen. Gerne auch ohne Rücksichtnahme auf anwesende Frauen und Kinder.

Am Ende vom Lied musste die Demonstration vorzeitig abgebrochen werden bzw. konnte nicht geschlossen zu ihrem Ziel im Pariser Süden laufen. Organisationen wie Greenpeace forderten im Laufe des Nachmittags die gewaltlos Demonstrierende dazu auf, den Protestzug zu verlassen (vgl. Livemeldung: https://actu.orange.fr/france/marche-climat-des-organisateurs-appellent-a-quitter-la-manifestation-parisienne-CNT000001jnSkw.html externer Link) – beschuldigten jedoch in ihren Presseaussendungen auch und gerade das Vorgehen der Polizei, eskalierende Wirkung gezeitigt zu haben.

Vgl. zum Geschehen am Samstag Nachmittag im Spiegelbild von AFP-Meldungen und Livetickern der bürgerlichen Presse, jeweils auch mit Abbildungen:

Am Ende des Tages befanden sich 158 Personen im Polizeigewahrsam (vgl. dazu eine AFP-Meldung (ihr Titel kündigt übrigens „99 Festnahmen“ an, doch ihr Inhalt wurde nachträglich aktualisiert): http://www.lefigaro.fr/flash-actu/manifestations-a-paris-99-personnes-en-garde-a-vue-20190921 externer Link).

Eher institutionell orientierte Verbände wie Greenpeace schafften es am Spätnachmittag dann auf ihre Weise, doch noch ein öffentlichkeitswirksames Zeichen zu setzen, indem sie Riesentransparente von mehreren Pariser Seinebrücken aus abrollten (vgl. dazu bei AFP: http://www.lefigaro.fr/sciences/marche-pour-le-climat-des-banderoles-deployees-sur-des-ponts-parisiens-20190921 externer Link). Inhaltlich wurde darauf auch Emmanuel Macron, als heuchlerischer Klimaschutz-Redner auf internationalem Parkett – wie gestern Abend bei der UN-Vollversammlung in New York – mit magerer Bilanz im eigenen Land, attackiert.

In den folgenden Stunden gab die Pariser Polizeipräfektur stolz bekannt, sie sei „Herrin der Situation“ geblieben (vgl. dazu: http://www.lefigaro.fr/actualite-france/manifestations-a-paris-la-prefecture-estime-avoir-maitrise-la-situation-20190921 externer Link).

Insgesamt nahmen laut Presseangaben eher 15.000, laut Veranstalterzahlen eher 50.000 Menschen an der samstäglichen Klimademonstration teil (vgl. AFP-Meldung: http://www.lefigaro.fr/flash-actu/marche-pour-le-climat-de-15-000-a-50-000-manifestants-a-paris-20190921 externer Link); die Polizeipräfektur erwähnte ihrerseits die Zahl „16.000“. Es lässt sich damit aber auch festhalten, dass die Demonstration zu diesem Thema unter ihren quantitativen Möglichkeiten blieb, in Anbetracht des internationalen Protestkontextes besonders bei diesem Thema. Zweifellos trug dazu die Polarisierung in der Medienberichterstattung zum „Gewaltthema“ im Vorfeld mit bei.

Rententhema: FO macht den Alleinreiter am 21.09.19

Am selben Samstag fand aber auch eine Demonstration zur anstehenden Renten„reform“ statt, veranstaltet allerdings durch einen einzigen Gewerkschaftsverband, unter mehreren in Frankreich existierenden Richtungsverbänden.

Organisatorin des Samstagsmanövers war der drittstärkste Gewerkschaftsdachverband in Frankreich unter dem Namen Force Ouvrière (FO, ungefähr „Arbeiterkraft“), eine politisch höchst schillernde Vereinigung, die 1947/48 aus einer Abspaltung im Kalten Krieg von der tatsächlich DAMALS durch die französische KP dominierten CGT als ältestem und stärkstem Gewerkschaftsdachverband in Frankreich entstand.

Bis heute umfasst FO ein Spektrum von rechten bis rechtsextremen Kräften, sozialdemokratischen Fraktionen (die den Dachverband de facto weitgehend anleiten) und einer als links geltenden Politsekte, als „die Lambertisten“ bezeichnet, die als eine Art skurriler Unterströmung im inhaltlich heterogenen Spektrum des französischen Trotzkismus gilt. Die Lambertisten kontrollierten ihrerseits Teile des Apparats von FO, treten intransparent und mafiaartig auf und reißen sich Posten unter den Nagel, wo immer möglich; inhaltlich sind sie heute weitgehend (de facto) nationalistisch, da an allem Unheil in Frankreich die EU als großeböseschlimme Verschwörung gegen die Republik (eigentlich eine grundsoziale Veranstaltung…) die Schuld trägt.

Zusammen hält der Laden, nur weil zwischen diesen unterschiedlichen Strömungen, von weit rechts stehenden Kräften bis „Lambertisten“, über „Politik“ – auch im Sinne von Gesellschaftspolitik, nicht nur Parteipolitik – nicht gesprochen wird, sondern nur jeweils innerhalb des eigenen Klüngels. Nach außen hin tritt FO als vorgeblich „unpolitisch und reinen Gewerkschaftsthemen verbunden“ auf, was in Wirklichkeit auf keine einzige der beteiligten Fraktionen zutrifft.

Sicherlich: An der Basis von FO trifft man, je nach Unternehmen und Branche, mitunter auch auf „ehrliche“, keinem/r der beteiligten Fraktionen und Politklüngel verbundene, an sozialem Protest orientierte Gewerkschafter/innen. Denn zwar trat FO bis in die frühen 1990er Jahre als „moderateste“ unter den größeren Gewerkschaftsvereinigungen in Frankreich auf, doch seit ihrer Teilnahme an den Herbststreiks im November / Dezember 1995 hat die Leitung des Dachverbands diesbezüglich das Ruder herumgeworden. Denn damals stellte sie das Kalkül auf, infolge des Verschwindens des sowjetischen Blocks und der UdSSR und des erwarteten bzw. bereits eintretenden Bedeutungsverlusts der französischen KP werden man durch ein protestorientiertes Auftreten die bisherige Basis der CGT herüberziehen. Dies ist so nicht gelungen, doch FO hat seitdem den Platz als privilegierten „Sozialpartner“ von Regierung & Kapital an die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT (d.h. den nach Mitgliederzahlen zweitstärksten, lt. Wahlergebnissen seit kurzem stärksten Gewerkschaftsdachverband in Frankreich) abgetreten und tritt verbal eher als „Protestgewerkschaft“ auf. Auch wenn in einzelnen Branchen FO mitunter die schlimmsten Abkommen mit unterzeichnet, ähnlich wie die CFDT.

Kurz und gut, respektive kurz und schlecht: Diese eine Demonstration vom Samstag, den 21.09.19 tauchte zwar in den Medien auf, es handelte sich jedoch um ein reines Schaulaufen von FO in eigener Sache. Dazu wurden laut Veranstalter/innen/angaben behauptete 10.000 Personen in Paris erwartet (vgl. AFP-Meldung dazu: http://www.lefigaro.fr/flash-eco/retraites-des-milliers-de-personnes-dans-le-defile-parisien-de-fo-20190921 externer Link). Ansonsten war diese eine Demonstration wohl eher nicht der Rede wert.

Renten„reform“

Bei der Renten„reform“ wird es u.a. darum gehen, dass ein neues Mindestalter von 64 eingeführt wird, auch wenn es regierungsoffiziell nicht als solches bezeichnet wird, sondern als „Scharnieralter“ (âge pivot). Letztere Formulierung soll bedeuten, dass es auch vor Eintreten dieses Mindestalters möglich bleiben soll, in Rente zu gehen, doch nur mit Strafpunken bzw. Abschlägen bei der Rente.

Im Augenblick beruht die bisherige Situation darauf, dass es ein Mindestalter von 62 gibt (vor den „Reformen“ dieses Jahrzehnts: 60). Vor Erreichen dieses Alters ist es auch bei Erreichen aller Beitragsjahre nur mit finanziellen Einbußen möglich, in Rente zu gehen, von historisch erkämpften Sonderregelungen für einzelne Beschäftigtengruppen (bspw. Im Transportsektor) abgesehen. Erforderlich dafür waren:

  • vor der „Reform“ von 1993 in der Privatwirtschaft bzw. 2003 in den öffentlichen Diensten: 37,5 Beitragsjahre
  • danach: zunächst 40 Jahre (mit schrittweiser Anhebung: je ein Quartal mehr pro ablaufendem Jahr, d.h. die Reform greift für mittlere und jüngere Jahrgänge voll)
  • nach einer „Reform“ unter Nicolas Sarkozy im Jahr 2010: perspektivisch 41,5 Jahre (mit schrittweiser Anhebung)
  • nach einer „Reform“ unter dem Spezialdemokraten François Hollande: künftig 43 Beitragsjahre (mit schrittweiser Anhebung bis zum Rentenjahrgang 2035)
  • Strafpunkte bzw. finanzielle Abzüge bei fehlenden Beitragsjahren entfallen erst ab Erreichen eines Alters von 67.

Das künftige Mindest-, pardon: „Scharnier“alter von 64 soll bedeuten, dass es auch bei Vorliegen aller erforderlichen Beitragsjahre vor Eintritt dieses Alters nur mit Einbußen möglich ist, aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.

Ferner sollen künftig die erworbenen Rentenrechte nicht mehr in Höhe eines festen Geldbetrags ausgedrückt werden (wie bislang, kalkuliert auf der Basis eines Prozentsatzes vom bisherigen Einkommen, zuzüglich jährlich stattfindenden – respektive in den letzten Jahren ausbleibenden – prozentualen Erhöhungen zum Inflationsausgleich), sondern in „Punkten“.

Den Wert eines „Punkts“ wird jedoch die jeweilige parlamentarische Mehrheit alljährlich berechnet werden. Wer im Erwerbsleben steht und in die Rentenkassen einzahlt, wird also nicht wissen, wie viel ihre oder seine Rentenpunkte konkret wert sein werden, wenn es dann einmal so weit ist.

Kalkuliert werden soll die Rente künftig auf der Grundlage der individuellen Einkünfte des gesamten Erwerbslebens. Bislang hatte gegolten, dass die 25 Jahre des besten Einkommens im Laufe eines Erwerbslebens (vor der „Reform“ von 1993: die zehn besten Einkommensjahre) dafür angerechnet werden; mit Ausnahme des öffentlichen Diensts, wo es quasi automatische Gehaltsentwicklungs- und Laufbahnregeln gibt. Dort werden die letzten sechs Monate der Laufbahn zur Berechnung herangezogen.

Offiziell hat die Regierung es jedoch auf einmal gaaaaar nicht mehr eilig, nachdem die „Reform“ ursprünglich in diesem Frühherbst 2019 hätte auf dem Tisch liegen sollen. Ihre Inhalte sollen nun jedoch im Sommer 2020 konkret verkündet werden – nach den wichtigen Kommunalwahlen (in ganz Frankreich am selben Datum) von Ende März 2020, und wohl mitten im Hochsommer. Premierminister Edouard Philippe kündigte dies am Donnerstag Abend, 19.09.19 beim privatisierten TV-Sender TF1 an, mit der Begründung, man habe doch Zeit, „um alle Situationen in Augenschein zu nehmen“. Real hatte die Regierung es wohl doch ein bisschen heiß unter den Füßen, da mangelnde Popularität von Präsident (trotz leichten Anstiegs auf gut dreißig Prozent, nach ihrem Einknicken im Winter 2018/19 im Zuge des „Gelbwesten“protests) und Protest-Androhungen zusammen kamen.

Am Freitag, den 13. September 19 hatten bereits die Beschäftigten der Pariser Métro- und Buslinien (des Betreibers RATP) massiv dagegen gestreikt, und einen Tag lang den öffentlichen Verkehr wirklich so gut wie komplett lahmgelegt – wie es zuletzt im November/Dezember 1995 tatsächlich der Fall war.

An diesem Dienstag, den 24. September 19 fanden nun seit einigen Wochen angekündigte Protestdemonstrationen zum Thema statt. Diese waren ursprünglich durch die CGT anberaumt worden, dann hatte sich auch Solidaires ihrem Aufruf angeschlossen (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/retraites-solidaires-rejoint-l-appel-a-mobilisation-de-la-cgt-20190909 externer Link). Dann auch die Eisenbahnerbranche des „unpolitischen“, faktisch eher CFDT-nahen Gewerkschaftszusammenschlusses UNSA, jedoch ohne Streikaufruf bei der Bahn (vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/retraites-l-unsa-ferroviaire-appelle-a-manifester-le-24-septembre-mais-pas-a-faire-greve-20190916 externer Link).

Das Ergebnis ist allerdings bislang eher lauwarm, CGT-Generalsekretär Philippe Martinez selbst sprach auf den Fernsehbildschirmen am Abend von einem Warmlaufen. In Paris demonstrierten laut Angaben einer durch die Presse eingerichteten Messstation für Teilnehmer/innen/zahlen bei Protestzügen 12.300 Menschen (vgl. https://www.lemonde.fr/politique/article/2019/09/24/reforme-des-retraites-apres-fo-la-cgt-dans-la-rue_6012837_823448.html externer Link). Frankreichweit gingen laut Angaben der CGT „150.000“ Menschen in insgesamt 166 Städten auf den Asphalt.

Ein bürgerlich-konservatives Presseorgan erlaubte es sich, diesbezüglich von einem „Flop“ zu sprechen (vgl. http://www.lefigaro.fr/social/retraites-l-appel-a-la-mobilisation-de-la-cgt-fait-un-flop-20190924 externer Link).

Wahrscheinlich ist – so steht jedenfalls zu hoffen! – die These vom Warmlaufen eher richtig; sonst gilt es tatsächlich auszurufen: Tower, wir haben hier ein Problem!

Dass etwas im Busch sein dürfte, deutet sich jedoch dadurch an, dass fünf Gewerkschaften beim Pariser Nahverkehrsbetreiber RATP nun geschlossen für den 05. Dezember 19 zum „unbefristeten“ Streik aufrufen; ihnen schloss sich am gestrigen Dienstag Abend (24.09.19) nun auch die Eisenbahngewerkschaft von Solidaires, also die Branchengewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr), an. (Vgl. in der bürgerlichen Presse u.a.: http://www.lefigaro.fr/social/une-greve-illimitee-dans-les-transports-en-preparation-pour-le-5-decembre-20190924 externer Link)

Die CGT bei der Eisenbahn diskutiert hingegen bisher, dem Vernehmen nach, noch (aus bislang dem Verf. noch unerfindlichen Gründen zählt die Eisenbahner-CGT seit 2016 eher zu den Bremsern bei Streikbewegungen, die auch den Transportsektor erfassen).

Das Datum wurde wohl mit Bedacht gewählt: Am 05. Dezember 1995 fand im Zuge der damaligen Herbststreiks (welche am 24. Nov. 1995 begonnen hatten und bis kurz vor Weihnachten ’95 andauerten) der erste Aktionstag mit Demonstrationen statt, bei denen die Millionengrenze bei den Teilnehmer/inne/n überschritten wurde.

Die Herbststreiks 1995 bilden zusammen mit dem Kampf gegen den „Ersteinstellungsvertrag“ CPE (d.h. Angriff auf den Kündigungsschutz für bis 26- respektive bis 30jährige Lohnabhängige) im März/April 2006 die bislang letzte Streik- und Protestbewegung, die in Frankreich auf zentraler Ebene der damaligen Regierung eine Niederlage beizubringen vermochte und die Rücknahme einer „Reform“ (in weiten Teilen) erreichte.

Nun hat sich die französische Gesellschaft in den letzten fünfundzwanzig Jahren verändert. Zu hoffen bleibt, dass dies einer Wiederholung ggf. nicht im Wege steht! Fortsetzung folgt. Unbedingt.

Artikel von Bernard Schmid vom 25. September 2019 (wir danken!)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=154898
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