Sommerloch für Zurückgebliebene: Wenn Arbeitgeber mal wieder mit Tarifflucht drohen…

Dossier

Differenzierung und Flexibilisierung der Tarifpolitik„… In der Metall- und Elektroindustrie zeichnet sich ein Grundsatzkonflikt zwischen den Arbeitgebern und der IG Metall ab. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetalls, Rainer Dulger, drohte der Gewerkschaft mit einem Ende des Flächentarifvertrags, der seit Jahrzehnten die Arbeitsbedingungen von 1,9 Millionen Beschäftigten regelt. „Wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlassen, kann die Gewerkschaft zusehen, wie sie sich im Häuserkampf durchschlägt“, sagte Dulger in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. In der Branche, die die wichtigste der deutschen Wirtschaft ist, gibt es seit längerem Klagen, dass die IG Metall viele Betriebe überfordert. Sie setze zu hohe Löhne und zu viel Freizeit durch. Dulger berichtete, dies führe zu immer mehr Austritten aus seinem Verband. Unter anderem forderte er von der Gewerkschaft eine Vereinbarung, dass sogenannte „Tagesstreiks“ künftig nur noch nach einer gescheiterten Schlichtung erlaubt sein dürften. Bei der Tarifrunde im vergangenen Jahr hätten diese Streiks – die von der Gewerkschaft das erste Mal ausgerufen wurden und die jeweils 24 Stunden dauerten – insgesamt drei Millionen Arbeitsstunden gekostet, „dreimal so viele wie die Jahre davor“. (…) Die Tarifrunde im vergangenen Jahr war besonders umkämpft. Nach mehreren Wochen mit Warn- und Tagesstreiks setzte die IG Metall eine Steigerung der Löhne von 4,3 Prozent durch. Außerdem dürfen manchen Beschäftigte in diesem Juli wählen: zwischen acht zusätzlichen freien Tagen oder einer Sonderzahlung in Höhe von 27,5 Prozent eines Brutto-Monatslohns. „Es war ein sehr, sehr hoher Abschluss, der bei uns zu Austritten geführt hat“, sagte Dulger. „Ich habe da wirklich Sorgen: sowohl, was die Tarifbindung der Betriebe, als auch die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie betrifft.“ Artikel „Tarifverträge: Arbeitgeber drohen der IG Metall“ von Marc Beise und Detlef Esslinger vom 23. Juli 2019 bei der Süddeutschen Zeitung online externer Link, zu dem wir einige, unterschiedliche Reaktionen zusammengstellt haben:

  • „VKG – Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“: Angriffe auf den Flächentarif in der Metall- und Elektroindustrie abwehren – Drohungen Dulgers zurückweisen! New
    Nach vielen Jahren der Ruhe in den wichtigsten Industriezweigen in Deutschland, hatte die IG Metall Anfang 2018 zu eintägigen Warnstreiks aufgerufen. Dass es dazu kam, war auch das Ergebnis des Drucks von der Basis in den Betrieben. Trotz der Begrenztheit der Forderungen und des Ergebnisses, wurde in der Tarifrunde nicht nur das Entgelt auf die Tagesordnung gesetzt, sondern auch die Arbeitszeitfrage aufgegriffen. Dieses Thema hatte ein hohes Mobilisierungspotential und der ganztägige Warnstreik-Aufruf wurde von einer halben Million Kolleg*innen befolgt, eine Million war bereits vorher in mehreren Warnstreikwellen aktiv. Die Stimmung war bei allen Streiks sehr kämpferisch. Trotzdem wäre bei einem Vollstreik in dieser Branche wesentlich mehr drin gewesen. Noch bevor die Laufzeit bis März 2020 beendet ist, erhebt der Präsident der Unternehmerverbandes „Gesamtmetall“, Rainer Dulger, in einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ Forderungen an die IG Metall. Seine Ausführung, dass das Ergebnis mit Lohnerhöhung und einer Teilzeitregelung von den Unternehmen nicht kompensiert werden kann und sie deshalb den Unternehmerverband verlassen würden, ist nichts anderes als eine Drohung. (…) Die IG Metall sollte darauf eine klare Antwort formulieren und deutlich machen, dass sie ihre volle Kampfkraft einsetzen werden, sollte es zu einem realen Angriff kommen. In vielen Branchen erfahren die Beschäftigten täglich am eigenen Leib, was es bedeutet, wenn die kollektive Kampfkraft gemeinsam mit den Flächentarifverträgen zerschlagen wird. Diesen Zustand wieder umzukehren, ist ein Unterfangen, dass nur durch eine enorme Kraftanstrengung der Belegschaften und einer Gewerkschaftsführung gelingt, die bereit ist, sich im Interesse der Lohnabhängigen mit den Chefetagen anzulegen. (…) Die IG Metall muss sich und ihre Mitglieder auf eine harte Auseinandersetzung vorbereiten und unmittelbar Diskussionen in den Betrieben und Vertrauensleutestrukturen darüber beginnen, wie sie gewonnen werden kann. Es muss ausgeschlossen werden, dass den von Dulger ausgesprochenen Drohungen nachgegeben wird. Sollte es zu einer Kündigung des Flächentarifs kommen, ist dies das Signal zu einer entsprechenden Antwort, die vorbereitet werden muss, damit sie den Angriff zurückschlagen kann. Die beste Antwort auf den Vorstoß von Gesamtmetall wäre eine offensive und mobilisierende Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich für die nächste Tarifrunde…“ Stellungnahme der „VKG – Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ vom 16. August 2019 externer Link zum Vorstoß des Gesamtmetall-Vorsitzenden zum Flächentarif in der Metall- und Elektroindustrie
  • [Und was wohl dahinter steckt] IG Metall: Zu viel Kampf, zu wenig Partnerschaft
    In der Metallindustrie hat die Gewerkschaft so viel Macht wie in kaum einer anderen Branche. Aber sie überfordert die Unternehmen – das könnte sich nun rächen. (…) Dass die Arbeitgeber noch Monate danach mit einem Tarifergebnis hadern, hat sich fast zu einer Besonderheit der Metallbranche entwickelt. Dies hat nicht nur mit dem hohen Volumen der Abschlüsse zu tun, sondern auch damit, wie sie zustande kommen. In der Chemie-Industrie wird ebenfalls sehr gut bezahlt, aber dort einigen sich Bundesarbeitgeberverband Chemie und IG Bergbau, Chemie, Energie stets in friedlichen Gesprächen. Den letzten Streik gab es kurz nachdem Apollo 14 auf den Mond flog; 1971. In der Metall-Industrie hingegen geht es nie ohne Arbeitskampf. Zur Kultur der IG Metall gehört die Vorstellung, dass nur ein erstreikter Abschluss ein guter Abschluss sein kann. Weil es zugleich in vielen Metall- und Elektro-Betrieben viele Gewerkschaftsmitglieder, also Streiktruppen, gibt, die sofort die Produktion stoppen können, hat sich bei vielen Arbeitgeber ein Eindruck verfestigt: Tarife werden nicht mehr ausgehandelt, sondern ihnen abgepresst. (…) Es gibt Arbeitgeber, die partout nicht kapieren, welch ein Nachteil es in Wahrheit für sie bedeutet, gewerkschafts- und mitbestimmungsfreie Zone zu sein. Wer unbedingt alleine Herr im Haus sein will, ist halt irgendwann tatsächlich allein im Haus. Umgekehrt gibt es aber auch Gewerkschafter, die in ihrem Leben ein paar Kampflieder zu viel gesungen haben. Die Metallindustrie ist eine Branche, in der der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit längst weggestreikt und wegverhandelt worden ist. Gemessen an der ökonomischen Lage ihrer Mitglieder könnte die IG Metall anfangen, sich nicht nur als „Sozialpartner“ zu begreifen, sondern auch zu inszenieren…“ Kommentar von Detlef Esslinger vom 23. Juli 2019 bei der Süddeutschen Zeitung online externer Link – schon erstaunlich, wenn die IG Metall als zu kämpferisch kritisiert wird! Aber Sozialparnetschaft macht fürs Kapital nur Sinn, wenn die Gewerkschaft schnurrt… Und was sagen diese dazu? IG Metall bisweilen noch nichts…
  • Arbeitgeber wollen weiter triumphieren
    „… „Wenn alle Unternehmen die Tarifbindung verlassen, kann die Gewerkschaft zusehen, wie sie sich im Häuserkampf durchschlägt“, sagte Dulger in einem Interview. Warum aber Häuserkampf? Die Schlacht ist doch schon längst zugunsten der Arbeitgeber entschieden. Das zeigt gerade der jüngste Tarifabschluss, den Dulger als angeblich schmerzhaftes Beispiel hervorkramt. (…) Das Gejammer der Unternehmen ist übertrieben. Sie prangern an, dass die Gewerkschaft andauernd höhere Löhne und mehr Freizeit für die Beschäftigen verlange. Ja was denn auch sonst? (…) Die IG Metall setzte 4,3 Prozent durch, heißt es in dem Teaser-Bericht, der nicht hinter der Bezahlschranke steht. Das klingt zunächst nach viel. Jedoch bleibt unerwähnt, dass der Tarifabschluss ein hochkompliziertes Gewirr aus intransparenten Vereinbarungen mit einer Reihe von Einmalzahlungen ist, der aber für ganze 27 Monate gilt. Auf ein Jahr gerechnet, kommt damit etwas anderes in der Lohntüte heraus, als plakativ angegeben. Unerwähnt bleibt auch, dass die Gewerkschaft mit 6 Prozent mehr Lohn damals in die Verhandlungen gegangen ist. Ist das Ergebnis nun immer noch schmerzhaft. Eindeutig ja, aber nicht für die Arbeitgeber, sondern für die Arbeitnehmer, die vermutlich trotz der Steigerung ihrer Tariflöhne kaum mit einer Zunahme ihrer realen Einkommen rechnen können. Gewonnen haben dagegen die Arbeitgeber. Sie haben über zwei Jahre lang Ruhe an der Streikfront für einen sehr moderaten Preis erstanden, der aber öffentlich als außerordentlich teuer verkauft und verstanden wird. (…) Die Drohung der Arbeitgeber, wegen angeblicher Härten aus der Tarifpartnerschaft aussteigen zu wollen, verdeckt zudem, dass die Tarifbindung in Deutschland bereits sehr schlecht ist und schlechter wird. Die Gewerkschaften verfügen dadurch schon jetzt im Arbeitskampf über immer weniger Macht…“ Kommentar von André Tautenhahn vom 23. Juli 2019 auf seiner Homepage externer Link – Tatsache ist aber, dass die Drohung mit Häuserkampf durchaus wirkt, denn sie stellt auch eine Bedrohung für die klassische hierarchische Stellvertreterpolitik des Gewerkschaftsapparats dar…
  • Die Sorgen des Kapitals
    „… Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Rainer Dulger, hat der IG Metall mit einem Ende des Flächentarifvertrags gedroht. (…) Vordergründig sorgt sich Gesamtmetall um die »mittelständischen« Unternehmen und um die Sicherung des Flächentarifvertrags, der seit Jahrzehnten die Arbeitsbedingungen der aktuell 1,9 Millionen Beschäftigten in den Mitgliedsunternehmen regelt. Im Hintergrund allerdings geht es um die Interessen der – nach eigenen Angaben – konjunkturell angeschlagenen Großbetriebe, in denen die Gewerkschaft vergleichsweise einflussreich ist. Die IG Metall mache »immer in denjenigen Unternehmen am meisten Rabatz, die besonders fest zur Tarifbindung stehen«, klagte der Chef des Unternehmerverbandes im Gespräch mit der Süddeutschen. Eine ähnliche Argumentation brachte Gesamtmetall auch während der im Juni gescheiterten Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung für die Beschäftigten in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie vor. Am 19. Juni hieß es in einer Presseerklärung: »Ein Tarifwerk, das lediglich die Interessen der Mitarbeiter von wenigen Großunternehmen in Sachsen und Berlin-Brandenburg im Blick hat, ohne für die Masse der Betriebe und Belegschaften in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern verkraftbar zu sein, zerstört die ohnehin schwache Tarifbindung im Osten und spielt die Belegschaften gegeneinander aus.« In Ostdeutschland müssen die Angestellten weiterhin 38 Stunden arbeiten – statt 35 wie ihre westdeutschen Kollegen. Für den gleichen Lohn, versteht sich.“ Beitrag von Susanne Knütter bei der jungen Welt vom 24. Juli 2019 externer Link
  • Lasst die Phrasenkiste zu! […] Über das keineswegs drohende Ende des Flächentarifvertrages
    „Es gibt eine Kiste mit Phrasen, aus der sich Arbeitgeberfunktionäre gerne bedienen. Dazu gehört die Befürchtung, dass Unternehmen wegen zu hoher Gewerkschaftsforderungen aus dem Arbeitgeberverband austreten könnten. Ähnlich Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger, der gar mit dem Ende des Flächentarifvertrages droht. Das klingt schlimm. Dieser Tarifvertrag gilt schließlich für 1,9 Millionen Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie. Und trotzdem ist dieses Ende wenig realistisch. Warum? Es würde mehr »Häuserkämpfe« in einzelnen tariflosen Unternehmen nach sich ziehen. Für die Arbeitgeber heißt das ständige Auseinandersetzungen und drohende Streiks, kurzum: Planungsunsicherheit. Zudem drohen ohne den Flächentarifvertrag große Einkommensunterschiede in der Branche, was zu noch größerer Konkurrenz um Arbeitskräfte führen könnte. Nichts davon dürfte für Unternehmer derzeit wünschenswert sein…“ Kommentar Jörg Meyer vom 23.7.2019 in neues Deutschland online externer Link. Hier wird allerdings übersehen, dass die Arbeitgeber zwar eine Klasse repräsentieren, aber dem Konkurenzprinzip unterliegen. Rechtlich verbietet außerdem auch jeder Haustarif „ständige Auseinandersetzungen und Streiks“. Wie es dann juristisch laufen kann (nicht muss), ist am Beispiel Karstadt vs ver.di gut zu sehen externer Link
  • Gesamtmetall stellt Tarifauseinandersetzungen grundsätzlich in Frage
    „Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, droht offen in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“ vom 23. Juli (…) Neben der offenen Kampfansage an die IG Metall, den Flächentarif infrage zu stellen, versteckt er sich mit sorgenvollen Worten hinter den kleinen und mittleren Unternehmen, die von den Tarifergebnissen überfordert wären. Damit verschleiert er, dass er im Namen der führenden, in Deutschland ansässigen, internationalen Monopole der Metall- und Elektroindustrie spricht. Es ist unglaubwürdig, dass diese alleinherrschenden Monopole jetzt ihr Herz für den Mittelstand gewonnen haben, da sie diesem sonst gnadenlos selbst ohne Rücksicht ihre Preis- und Qualitätspolitik diktieren. (…) Angesichts zunehmender Pläne zur Arbeitsplatzvernichtung und gleichzeitig wachsender Arbeitsproduktivität muss die Frage ganz anders aufgeworfen werden: Im Kampf um jeden Arbeitsplatz gehört die Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche von Montag bis Freitag bei vollem Lohnausgleich auf die Tagesordnung. Die Kosten dafür sind längst erarbeitet. Soweit die konkrete Seite. Grundsätzlich ist zudem die Frage aufzuwerfen, warum die Arbeiterklasse sich überhaupt von den Profitinteressen der Kapitalisten abhängig machen sollte. Sie muss ihre eigene Rechnung aufmachen, und ihre Lebensinteressen ins Zentrum rücken. Die hören bei höheren Löhnen und kürzerer Arbeitszeit längst nicht auf. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse, die ihre Arbeitskraft als Ware an die Kapitalisten verkaufen muss, muss revolutionär überwunden werden. Das sind die wahren Alpträume von Dulger und Co.“ Korrespondentenbericht vom 23. Juli 2019 bei Rote Fahne News externer Link

Siehe zum Hintergrund auch unser Dossier Tarifbindung nimmt weiter ab

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=152110
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