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Istanbul liegt jetzt in Kurdistan: Es gibt nur einen Wahlbetrüger

Union Solidarity International: Erdoğan uses ISIS to attack the KurdsNach der Annullierung der Wahlergebnisse in Istanbul ist anstelle des gewählten CHP-Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu der Gouverneur Ali Yerlikaya als Zwangsverwalter eingesetzt worden. Was sich in Dutzenden Kommunalverwaltungen in Nordkurdistan abgespielt hat, ist jetzt auch in Istanbul eingetreten: Die Metropole in der Westtürkei steht unter Zwangsverwaltung. Anstelle des gewählten Oberbürgermeisterkandidaten Ekrem İmamoğlu (CHP) ist der Gouverneur Ali Yerlikaya (AKP) zum Treuhänder der Verwaltung ernannt worden. Heute hat er sein Amt im Istanbuler Rathaus in Saraçhane angetreten. Der Hohe Wahlausschuss hat gestern die Ergebnisse der Kommunalwahl in Istanbul vom 31. März annulliert und eine Wahlwiederholung am 23. Juni angesetzt. Bis dahin wird Yerlikaya im Amt bleiben“ – so die Meldung „Istanbul unter Zwangsverwaltung“ am 07. Mai 2019 bei der ANF externer Link, in der gleichzeitig darauf verwiesen wird, dass dieser Wahlbetrug der AKP keineswegs ein Einzelfall ist, sondern System hat: Wer falsch wählt, muss neu wählen. Zu Erdogans riskantem Kurs, sein System zu verteidigen eine kleine aktuelle Materialsammlung:

„Die Töpfe scheppern wieder“ von Max Zirngast am 07. Mai 2019 in neues deutschland externer Link zum Diktat der Erdogan-Getreuen, den sofortigen Protesten und ihren Perspektiven: „Die Begründung der Wahlbehörde für die Annulierung lautet, dass einige der Wahlvorsitzenden keine Beamt*innen gewesen seien. Die Absurdität dieser Entscheidung resultiert zum einen daraus, dass die Wahlvorsitzenden von der Wahlbehörde selbst ernannt wurden und auch bei früheren Wahlen nicht alle Staatsangestellte waren; zum anderen daraus, dass bei den Lokalwahlen im selben Kuvert und an derselben Wahlurne vier unterschiedliche Stimmen abgegeben wurden (Großstadt, Bezirk, Stadtparlament und Nachbarschaftsvorstand), aber nur die Großstadt annulliert wurde. Also nur jene Wahl, bei der der oppositionelle CHP-Kandidat Ekrem İmamoğlu gewonnen hatte. Einsprüche der Linkspartei HDP für einige Provinzen in den kurdischen Teilen des Landes waren wiederum gar nicht erst zugelassen worden. (…) Die Entscheidung wurde mit großer Wut aufgenommen. In ganz Istanbul gingen die Menschen auf die Straße und protestierten bis spät in die Nacht. Weitere Demonstrationen sind für die kommenden Tage angekündigt. Die Slogans, die zu hören waren, erinnern an die Gezi-Proteste von 2013: »Das ist erst der Anfang, der Kampf geht weiter!« und »Schulter an Schulter gegen Faschismus!«. Menschen öffneten ihre Fenster und schlugen auf Töpfe und Pfannen, wie zahlreiche Videos zeigen. (…) Die kemalistische und nationalistische Opposition, zu der auch die CHP gehört, könnte dadurch von der inoffiziellen Unterstützung durch die kurdische Bewegung abgetrennt werden. Diese war der Grund, weshalb die CHP in Istanbul gewinnen konnte. Es wird sich zeigen, was die nächsten Wochen bringen. Verschärfte gesellschaftliche Konflikte, ein Anstieg der Soldatenbegräbnisse durch Intensivierung des Krieges und dergleichen sind durchaus möglich. Ebenso denkbar ist, dass es den demokratischen Kräften in der Türkei gelingt, Spaltungsversuche dieser Art offenzulegen und zurückzuweisen…“

„Putsch in Istanbul“ von Nick Brauns am 08. Mai 2019 in der jungen Welt externer Link zur Frage der Spaltungsversuche gegen die Opposition durch die AKP: „Entsprechend schnell wurde in nationalistischen Oppositionskreisen unter Verweis auf den Anwaltsbesuch bei Öcalan der Verdacht laut, es gäbe einen Deal zwischen Erdogan und dem PKK-Vordenker bezüglich der Neuwahlen. Tatsächlich dürfte das Kalkül der Regierung, die scheinbar der Forderung der hungerstreikenden PKK-Gefangenen nachkam, darin bestehen, Misstrauen zu sähen und so einen Keil in die oppositionelle Allianz zu schlagen. Sollten die kurdischen Wähler in der irrigen Hoffnung auf einen Neustart des Friedensprozesses bei der Neuwahl zu Hause bleiben oder gar den AKP-Kandidaten wählen, wäre diesem der Sieg sicher. Dass der bereits am 2. Mai stattgefundene Besuch auf Imrali erst am Tag des YSK-Entscheids öffentlich gemacht wurde, begründeten die Anwälte mit einer Erklärung Öcalans und seiner drei Mitgefangenen, die ihnen erst am Wochenende von den Behörden ausgehändigt worden sei. Die Anwälte verlasen diese auf einer Pressekonferenz in einem Hotel am Istanbuler Taksim-Platz, ohne Nachfragen zu ihrem einstündigen Besuch bei Öcalan zuzulassen. »Ein würdevoller Frieden und eine demokratische politische Lösung stehen für uns an erster Stelle«, heißt es in der Erklärung. Dafür seien Verhandlungen statt Krieg und Gewalt notwendig…“

„Erdoğans ziviler Putschversuch“ von Alp Kayserilioğlu, Max Zirngast und Güney Işıkara am 07. Mai 2019 beim re:volt Magazin externer Link zu den Versuchen, das AKP-Regime aufrecht zu erhalten: „Es ist im mindesten naiv anzunehmen, das Regime habe Neuwahlen in Istanbul erzwungen, um dann „hoffentlich“ ein besseres Ergebnis einzufahren. Sie werden ganz sicher einen Plan haben, wie sie dieses Ziel aktiv herbeiführen. Das heißt aber nicht, dass ihr Plan auch aufgehen wird. Viel wird davon abhängen, was die Opposition und insbesondere die popularen Kräfte dem entgegenzusetzen haben. Das Land machte schon einmal einen ähnlichen Prozess durch, nämlich als die AKP im Juni 2015 die Mehrheit verlor. Auch damals schon optierte die AKP für Neuwahlen, die dann im November 2015 stattfanden. In der Zwischenzeit wurde das Land in Blut getränkt, Krieg und Bomben dominierten den Alltag. Tatsächlich verwies Erdoğan höchstpersönlich vor ein paar Tagen auf diese Periode hin, als er argumentierte sie würden Istanbul wieder gewinnen im Fall von Neuwahlen. Sie werden vermutlich alles auf die Karte setzen, die Opposition über die „Kurdenfrage“ und den „Kampf gegen den Terrorismus“ zu spalten. Und eventuell werden wieder die Bomben hochgehen. Ein Beispiel für die „Wahlkampfstrategie“ des Regimes wurde am 22. April 2019 gegeben, als der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu von einem Mob fast gelyncht wurde auf einem Soldatenbegräbnis bei Ankara. Es waren kaum Sicherheitskräfte vor Ort. Hulusi Akar, der ehemalige Generalstabschef und derzeitiger Verteidigungsminister, war vor Ort und richtete sich an den Mob mit den Worten: „meine verehrten Freunde“, und meinte: „ihr habt eure Botschaft gegeben“. Der Lynchversuch war organisiert, einige Teilnehmer stellten sich später als AKP-Mitglieder heraus – und wurden nach kurzer Zeit wieder aus der Haft entlassen. Die „Botschaft“ ist in der Tat klar: Das Regime kann und wird seine paramilitärischen Kräfte und den Mob im Vorlauf zu den Wahlen nutzen. Der Faschisierungsprozess ist irreversibel vom Standpunkt des derzeitigen Regimes. Jede populare Opposition muss sofort unterdrückt werden, denn sonst könnte ziemlich schnell ein neuer Wind wehen…“

„Nach AKP-Niederlage: Istanbul muss neu wählen“ von Gerrit Wustmann am 06. Mai 2019 bei telepolis externer Link weist auch noch auf die „persönlichen Sonderinteressen“ des Herrn Erdogan hin: „Schon unmittelbar nach dem Verfassungsreferendum vor zwei Jahren, das Erdogan uneingeschränkte Macht einbrachte, mahnten Experten, der Präsident werde sich nun von demokratischen Mechanismen nicht mehr beeindrucken lassen. Istanbul ist wichtig für Erdogan und seine Familie sowie für die AKP, die eng mit der Bauwirtschaft und religiösen Stiftungen verflochten sind und bei einem Sieg der Opposition befürchten mussten, Macht, Geld und Einfluss zu verlieren. In ihrer Beschwerde gegen das Wahlergebnis warf die AKP der Opposition Manipulation bei der Stimmabgabe vor. Das ist nicht ganz ohne Ironie, war es in der Vergangenheit doch die Regierungspartei selbst, die nachweislich Wahlen manipuliert hat. Außerdem fordert die Partei, Bürger, die im Zuge der im Ausnahmezustand nach dem Putschversuch von 2016 erlassenen Präsidialdekrete aus ihren Ämtern und Jobs entfernt wurden, nicht zur Wahl zuzulassen, wie das Nachrichtenmagazin Ahval berichtete. Es soll in Istanbul um 14.000 Personen gehen – die Wohl nicht in Verdacht stehen, ihr Kreuz bei der AKP zu machen. Die CHP hatte im Laufe des Tages gewarnt, eine Annullierung der Wahl würde das Ende der Demokratie in der Türkei bedeuten. Tatsächlich dürfte die Entscheidung die Situation im Land weiter verschlechtern. Die angeschlagene Wirtschaft kann unter einer solch unberechenbaren Politik kaum neues Vertrauen gewinnen. ..“

„İstanbul sokaklarında “Her şey güzel olacak!” sloganları“ am 07. Mai 2019 bei Sendika.org externer Link ist ein erster Bericht von den spontanen Protesten in Istanbul nachdem Erdigangs willfährige Mannen die Entscheidung ihres Capo verkündet hatten – inklusive eines Videos der ersten nächtlichen Demonstration…

„„Wir werden am Ende siegen““ von Jürgen Gottschlich am 07. Mai 2019 bei der taz online externer Link weist noch auf folgende Tatsache hin: „… Bis heute gibt es keine offizielle Erklärung der Wahlkommission, sondern nur die Stellungnahme der AKP über die Entscheidung der Richter. Danach sei die Wahl annulliert worden, weil angeblich die Wahlleiter in einigen Wahllokalen keine Beamte waren, wie es das Wahlgesetz seit eineinhalb Jahren vorschreiben würde. „Würde man dasselbe Kriterium an die Präsidentschaftswahl des letzten Jahres anwenden, müsste die auch für ungültig erklärt werden“, sagte Imamoğlu, „weil dort dieselben Leute in den Wahllokalen saßen“. Wie wenig die erzwungene Entscheidung der Wahlkommission mit Recht und Gesetz zu tun hat zeigt sich schon daran, dass in allen Wahllokalen neben dem Oberbürgermeister auch die Bezirksbürgermeister und die Muhtars, die Vertreter im Kiez, gewählt wurden, aber nur die Wahl des Oberbürgermeisters annulliert wurde. Alle anderen bleiben im Amt. Die Entscheidung ist so offensichtlich ungerecht, dass Imamoğlu sich nun für die Neuwahlen am 23. Juni auf eine Welle der Empörung stützen kann. „Bisher“, schrieb der angesehene Kolumnist Murat Yetkin heute, „war es immer so, dass Erdogan das psychologische Moment des von der angeblichen Elite ungerecht behandelten Mannes auf seiner Seite hatte. Das ist jetzt umgekehrt. Jetzt ist Erdoğan der Unterdrücker“. Bereits am Dienstagmittag haben sämtliche Oppositionsparteien erklärt, dass sie Imamoğlu bei der Neuwahl unterstützen werden. Nicht nur die Vorsitzende der offiziell mit Imamoğlus CHP verbündeten IYI-Partei, Meral Akşener, auch die pro-kurdische HDP, die zur Unterstützung von Imamoğlu am 31. März auf einen eigenen Kandidaten verzichtet hatte, kritisierte, die Entscheidung der Wahlkommission habe „keinen Funken demokratischer Legitimität“. Trotzdem wird Erdoğan versuchen, die kurdischen Wähler, ohne die Imamoğlu nicht gewinnen kann, auf seine Seite zu ziehen. Es ist kein Zufall, dass am Montag bekannt wurde, dass der historische Führer der PKK, Abdullah Öcalan, nach acht Jahren Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali, plötzlich wieder seine Anwälte sprechen durfte…“

„Turkey’s pro-Kurdish party to once again sit out on Istanbul poll rerun“ am 07. Mai 2019 bei Ahval externer Link ist die Meldung über die Erklärung des Parteivorstandes der HDP, die Partei werde auch bei der Wahlwiederholung keinen eigenen Kandidaten benennen, sondern zur Wahl der CHP aufrufen.

„Political Scientist Sezin Öney: No support in the AKP base for annulling the election“ am 29. April 2019 bei Evrensel externer Link ist ein Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Öney, die darin vor allem auf zwei Dinge hinweist, die bei den Debatten um Wahlen in Istanbul beachtet werden müssten: Zum einen, dass in allen Großstädten der Türkei, insbesondere aber in Istanbul eine sehr große und wachsende Anzahl von Menschen aus Kurdistan leben, die eben auch bei Wahlen eine wachsende Rolle spielen, weswegen die Haltung der HDP wichtig ist – und woher auch Erdogans etwaige Versuche, kurdische Stimmen zu gewonnen resultieren. Und zweitens verweist sie darauf, dass es selbst innerhalb der AKP zunehmend mehr Stimmen gab, die zu jenem Zeitpunkt vor der nun getroffenen Entscheidung  bezweifelten, dass eine Neuwahl klug sei.

„Demokrasilerde halkın iradesine saygı duymayanlara yer yoktur“ am 07. Mai 2019 im Twitter-Kanal des Gewerkschaftsbundes DISK externer Link ist die gemeinsame Erklärung von DISK, KESK, TMMOB und TTB, in der die Gewerkschaftsföderationen und Berufsverbände die Entscheidung des Wahlgerichts kritisieren und unterstreichen, wer den Wählerwillen nicht respektiere, habe keinen Platz in einer Demokratie.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=148418
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