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Ein erstes Zugeständnis des algerischen Regimes an die Massenproteste und den Massenstreik: Kein 5. Mandat für Bouteflika. Aber „das System“ will weiter machen…

Eine Demonstration in Algier am 26.2.2019 - nicht nur an den Freitagen wird gegen das "5. Mandat" für Bouteflika protestiert...Nach wochenlangen, ständig anwachsenden Massenprotesten im ganzen Land, angesichts eines massiv Gestalt annehmenden Generalstreiks, nicht nur in staatlichen und privaten Unternehmen, sondern in der „Zivilgesellschaft“, sowie der Besetzung geschlossener Universitäten, hat das Regime in Algerien seine (bisher einzige) Option Bouteflika zurückgezogen. Es ist ein erstes wichtiges Zugeständnis an eine Bewegung, die längst nicht mehr nur die Rücknahme der Kandidatur des einstigen Machthabers fordert, sondern ein Ende des „Systems“. Aber das Zugeständnis ist Verbunden mit dem Signal „wir bestimmen weiter“. Denn: Welchen anderen Grund gäbe es, wegen des Rückzugs einer Kandidatur die ganze Wahl auszusetzen? Die neue Regierungsspitze verspricht demokratische Wahlen noch in diesem Jahr, nach einer (von wem organisierten?) Nationalen Demokratiekonferenz  – ob dies das Eingeständnis sein soll, bisher seien die Wahlen eben nicht demokratisch gewesen, sei zunächst einmal dahin gestellt. Ob dies ausreichen wird, die Bewegung zufrieden zu stellen, wird sich zeigen. Einstweilen versuchen die verschiedenen Träger eben dieses Systems ihre Haut zu retten. Das gilt angesichts der Streikbewegung und der offenen Rebellion in den eigenen Reihen insbesondere für den Vorsitzenden des größten Gewerkschaftsbundes UGTA: Sidi Said, neulich noch oberster Wahlkämpfer Bouteflikas, lässt eine Pressemitteilung verbreiten, in der er die „Bewegung der Jugend für Reformen“ begrüßt und sie seiner (unerwünschten) Unterstützung versichert. Siehe zur Entwicklung in Algerien sechs aktuelle Beiträge (samt einigen Kommentaren) und den Hinweis auf unsere bisher letzte, bereits gestern veröffentlichte Materialsammlung:

„Bouteflika geht – bleibt die „Macht“?“ von Jens Borchers am 11. März 2019 bei tagesschau.de externer Link ist der Kommentar zur gleichzeitigen abendlichen Rückzugs-Meldung, der im bundesdeutschen Leitmedium folgendes unterstreicht: „Algeriens Machthaber scheinen die Forderungen der Bevölkerung gehört zu haben: Im Namen des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika wurde verbreitet, dass der 82-Jährige nicht für eine fünfte Amtszeit kandidieren werde. Die für Mitte April geplante Wahl ist vorerst abgesagt, eine Übergangsregierung wurde angekündigt. Eine nationale Konferenz soll dann zusammentreten und über weitreichende Reformen beraten. Anschließend könnte ein neuer Wahltermin bestimmt werden. Algerien erlebt somit das Ende einer Ära und steht vor einer ungewissen Zukunft. Eine ganze Generation Algerier kannte nur einen Präsidenten: Abdelaziz Bouteflika. Und der bleibt vorerst im Amt. (…) Algerien blieb unter Bouteflika auf Gedeih und Verderb abhängig von seinen Öl- und Gasexporten. Dann fiel ab 2014 der Öl-Preis an den internationalen Märkten, Algeriens Wirtschaft sackte zusammen. Seitdem ließ Präsident Bouteflika sparen, von wechselnden Regierungen. Stellenweise führte das zu gewalttätigen Protesten. Aber als „le pouvoir“, „die Macht“, am 10. März dieses Jahres ankündigte, der greise Bouteflika werde für eine fünfte Amtszeit antreten – da gab es Proteste wie noch nie. Seit drei Wochen demonstrieren Hundertausende Menschen überall im Land. Jetzt, nach Bouteflikas Rückzug von einer neuen Kandidatur, könnte ein politisches Beben durch das erstarrte Algerien gehen…“

„Les principales annonces contenues dans le message de Bouteflika“ von Arezki Benali am 11. März 2019 bei Algérie Eco externer Link ist ein Beitrag, der die Mitteilung des Präsidenten genau analysiert in Bezug auf die Konsequenzen, die darin angekündigt werden. Von Bedeutung dabei zum einen aktuell die Berufung einer neuen Regierung, vor allem aber längerfristig die Nationale Demokratiekonferenz, die einen Verfassungsvorschlag ausarbeiten soll, der einem Referendum unterzogen werden soll. Wichtig dabei ist: Das ist offensichtlich die Alternative des Regimes zur zunehmend breiter geforderten Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung – denn zu dieser Konferenz wird nur gesagt, sie solle repräsentativ sein, nicht aber, wer darüber entscheidet, wie sie zusammengesetzt ist und wie sie arbeiten soll.

„Période de transition proposée par Bouteflika: De nouveaux appels à manifester vendredi 15 mars“ ebenfalls von Arezki Benali am 11. März 2019 bei Algerie Eco externer Link ist ein erster Überblick über die Reaktionen – vor allem in den sozialen Netzwerken – auf diese Erklärung des Rückzuges von Bouteflika. Und, wie nicht anders zu erwarten war, sind diese Reaktionen geteilt: Neue Demonstrationsaufrufe für den 15. März werden massiv verbreitet, denn die ganze Clique sei immer noch da, andere sehen mehr den Erfolg in dem Verzicht auf die erneute Kandidatur.

„Des entreprises privées et publiques s’impliquent“ von Badreddine KHRIS am 11. März 2019 bei Liberté Algerie externer Link ist ein Überblick über die Ausbreitung der Streikbewegung im ganzen Land bis einschließlich zum Montag. Insbesondere von politischer Bedeutung ist die Streikbeteiligung der Beschäftigten „strategischer Unternehmen“ für Algerien, wie Sonelgaz und Sonatrach, die sich an immer mehr Standorten in den Streik begeben. Aber auch der Hafen von Annaba wird bestreikt, wie auch Algérie Télécom und die größte Autofabrik des Landes.

„La contestation monte d’un cran“ hier mit Stand 11. März 2019 ebenfalls bei Liberté Algérie externer Link ist eine laufend erweitertes Archiv über Streiks in den einzelnen Städten und Regionen des Landes, sowohl in Algier und Constantine, als auch in zahlreichen kleineren Orten. Immer daran stark beteiligt: Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes.

 „Sentant le raz-de-marée populaire approcher / Sidi Saïd enfile sa planche pour surfer !“ am 11. März 2019 bei Algérie Focus externer Link ist ein Kommentar zur Pressemitteilung von Sidi Said, dem langjährigen Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes UGTA, in der er plötzlich die Proteste begrüßte, nachdem er zunächst ein fünftes Mandat für Bouteflika als „selbstverständlich“ bezeichnet hatte und entsprechende Erklärungen verbreiten ließ. Aber, wenn schon die Belegschaften der „Hochburgen“ der UGTA in den politischen Streik treten, muss man sich zu retten versuchen, wie man kann…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=145594
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