Ein Führererlass bringt bis heute Opferrenten für die Täter durch eine „wertneutrale“ Sozialversicherung. Echte Opfer wurden weniger neutral behandelt

Initiative Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt!„… Bevor die Nazis beschlossen, alle Juden umzubringen, haben sie viele als billige Arbeitskräfte in Tausenden von Ghettos ausgebeutet. Die Löhne befreiten nicht vom Hunger, die Jobs nicht von der Willkür der SS. Doch wer Arbeit hatte, bekam in aller Regel etwas Geld oder Essensrationen. Im Ghetto Lodz in Polen gab es zum Beispiel eigene Werkstätten. Und auch wenn es das unglaublich zynisch daherkommt: Von den äußerst geringen Löhnen wurde von der deutschen Seite Geld an die deutsche Rentenversicherungsträger abgeführt, damit alles seine bürokratische Ordnung hat. »Es wird geschätzt, dass die deutsche Sozialversicherung in den Kriegsjahren circa eine Milliarde Mark für die Arbeit der Juden erhalten hat«, kann man dem Beitrag ‚Der Kampf um die Ghettorente‘ entnehmen. Nur einige Wenige haben diese Hölle überlebt – und man kann sich vorstellen, was jetzt kommt: Jahrzehnte später ging es darum, auch diesen Menschen eine Rente auszuzahlen für die Zeit der Arbeit in den Ghettos, die im vorliegenden Fall nicht mit Konzentrationslagern verwechselt werden dürfen, für deren Überlebende es andere Regelungen gab. Aber viele Jahre nach dem Krieg wurde nichts getan. Auf die lange Bank schieben, so nennt man das wohl. Bis zu einem wegweisenden Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 1997. (…) An dieser Stelle betritt der Sozialrichter Jan-Robert von Renesse die Bühne. Er hat sich der „Fälle“ angenommen, hat die Menschen dahinter versucht zu sehen, ist selbst zu den Opfern gereist, um ihnen das zukommen zu lassen, was ihnen wenigstens zusteht. Eine Opferrente. (…) Sein Engagement für die Opfer »missfiel vielen seiner Kollegen, die zuvor nach Aktenlage die Klagen abgewiesen hatten. Der Streit eskalierte, Renesse fand sich vor dem Richterdienstgericht wieder – wegen Rufschädigung der Justiz und als Nestbeschmutzer. (…) Aber das alles ist nur die Vorbemerkung für das, worüber in diesem Beitrag zu berichten ist…“ Beitrag von Stefan Sell vom 23. Februar 2019 bei ‚Aktuelle Sozialpolitik‘ externer Link – siehe weitere Infos dazu:

  • Noch aus dem Beitrag von Stefan Sell vom 23. Februar 2019 bei ‚Aktuelle Sozialpolitik‘ externer Link: „… Unter der Überschrift Deutsche Renten an belgische SS-Freiwillige erfahren wir: »Nach wie vor erhalten ehemalige belgische Mitglieder der Waffen-SS Renten aus Deutschland. Eine Initiative aus dem belgischen Parlament will das stoppen. Doch die Chancen stehen schlecht.« Und damit der Link zur Opferrente für die Überlebenden der Arbeitslager deutlich wird: Die Täter aus der eben noch nicht vollständig vergangenen Vergangenheit erhalten auch „Opferrenten“. Und das seit Jahrzehnten und ohne Probleme und ohne große Nachfragen. Eben anders als die anderen. (…) Man simuliert Handeln, wohlwissend, dass das gar nicht wirklich wirken kann und schützt ob bewusst oder unbewusst die „eigenen“ Leute, die dann bis zum Tod der letzten ihrer Art ihre monatliche Leistung aus dem Rechtsnachfolgestaat von Hitler-Deutschland bekommen – während vielen anderen tatsächlichen Opfern Leistungen vorenthalten oder aber nur nach einem langen und mühseligen bürokratischen Beantragungs- und Prüfungsmarathon zugesprochen werden. Sie ist noch nicht vorbei, die NS-Zeit. Und wir erleben einen „Führererlass“ aus den mehr als dunklen Zeiten, der noch immer die angeblich wertneutrale Rentenkasse bewegt.“
  • Lesenwert dazu ist auch der skandalöse Ablehnungsbeschluss 1 BvR 1804/03 des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2004 zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, an den wir in diesem Zusammenhang erinnern wollen. Zum Beschluss heißt es in der BVerfG-Pressemitteilung Nr. 1/2005 vom 4. Januar 2005 externer Link: „Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) von vier ehemaligen NS-Zwangsarbeitern, die vor den Zivilgerichten erfolglos auf Schadensersatz und Schmerzensgeld geklagt hatten, nicht zur Entscheidung angenommen. (…) Am 2. August 2000 trat das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZStiftG) in Kraft. Mit der Stiftung wollen die Bundesrepublik Deutschland und deutsche Unternehmen ein Zeichen ihrer historischen und moralischen Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus setzen. Nach dem Stiftungsgesetz wird die Stiftung mit einem Vermögen von 10 Milliarden DM ausgestattet, die je zur Hälfte von der Bundesrepublik und von der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft aufgebracht werden sollen. Die Leistungsberechtigten erhalten Ansprüche gegen die Stiftung in einer Höhe bis zu 15.000 DM. Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 EVZStiftG sind etwaige weitergehende Ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland und gegen deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht ausgeschlossen. (…) Die Ansprüche der Bf, die sie auf Grund der Zwangsarbeit erlangt haben, werden von der Eigentumsgarantie erfasst. Die Bf wurden in dem Betrieb der Beklagten unter Bedingungen zur Arbeit gezwungen, die, wären sie nicht befreit worden, ihren sicheren Tod bedeutet hätten. Hieraus stehen den Bf gegen die Beklagte schuldrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und Wertersatz für die erbrachten Arbeitsleistungen zu. Allerdings können die Ansprüche – unabhängig von der Frage der Verjährung – infolge der Regelungen des Stiftungsgesetzes nicht mehr gegen die Beklagte geltend gemacht werden. Denn durch das Stiftungsgesetz werden etwaige Ansprüche gegen deutsche Unternehmen in solche gegen die Stiftung umgeformt. (…) Die im Stiftungsgesetz enthaltenen Regelungen über die Anspruchsberechtigung von Zwangsarbeitern stellen eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums dar…“ Allerdings wird die Eigentumsgarantie derjenigen Unternehmen, die sich Zwangarbeit bedienten, gerade nicht angetastet: „Das Gesetz bezweckt den Ausgleich [sic!] zwischen den Interessen der ehemaligen Zwangsarbeiter und dem Interesse deutscher Unternehmen und der Bundesrepublik Deutschland an einem ausreichenden Maß an Rechtssicherheit. Dies versucht das Gesetz dadurch zu erreichen, dass etwaige Ansprüche gegen deutsche Unternehmen in solche gegen die Stiftung umgeformt werden. (…) Allerdings ist die durch die Stiftung bewirkte Belastung der deutschen Wirtschaft gemessen an dem den Zwangsarbeitern zugefügten Unrecht und an den den Unternehmen zugeflossenen Vorteilen gering. Auch kommen Unternehmen in den Genuss der Regelung, die eine Zahlung an die Stiftung verweigert haben [sic!], obwohl auch sie Zwangsarbeiter beschäftigt hatten. Der Bund hat einen wesentlichen Teil der Stiftungslasten selbst getragen, um eine endgültige und schnelle Lösung erreichen zu können. Da es um Leistungen an die geschädigten Zwangsarbeiter, nicht aber um eine Sanktion gegen Unternehmen ging [sic!], wird die gewählte Lösung nicht dadurch zu einer verfassungsrechtlich unangemessenen, dass der Staat den größten Anteil an Lasten übernommen hat [sic!]. Ungeachtet der vielen Unzulänglichkeiten, mit denen eine so späte und so schwierige Bewältigung der Unrechtsfolgen verbunden sein musste, durfte der Gesetzgeber daher die getroffene Regelung als angemessenen Interessenausgleich werten.“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=145113
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