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Wahrheitskommission Nicaraguas nimmt ihre Arbeit auf – Proteste gehen weiter

Friedensdemonstrationen in Nicaragua 2018Was mit friedlichem Protest gegen eine Sozialreform begann, breitete sich zu einem landesweiten Feuer gegen die Repression des Präsi­denten Daniel Ortega und seiner Vizepräsidentin und Ehegattin Rosario Murillo aus. „Die Reform war das Zündholz, das auf eine seit vielen Jahren ausgetrocknete Wiese geschleudert, die Lunte eines Cocktails entzündete“, sagt Mónica Baltodano. Die Direktorin der Stiftung Popol Na kämpfte in der nicaraguanischen Revolution als Guerillera gegen die Diktatur Somozas und ist heute regierungskritische Sandinistin. Die Regierung verkündete Mitte April unvermittelt eine Reform, die die Beiträge für die Rentenversicherung für die Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen erhöhen sollte. Gleichzeitig sollten die Renten um fünf Prozent gekürzt werden. Eine solche Erhöhung würde Arbeiter*innen, Rentner*innen, aber auch kleine Unternehmen hart treffen. Daraufhin gingen Rentner*innen und solidarische Studierende auf die Straße. Die Polizei und regierungstreue Banden der Sandinistischen Jugend griffen die friedliche Demonstration am 18. April an. Die Bilder der verletzten jungen und alten Menschen und das Ausmaß der Repression entfachten zum ersten Mal, seit Ortega 2006 wieder zum Präsidenten gewählt wurde, einen landesweiten Aufstand der Bevölkerung. „Diese Reform war der Zünder für eine Akkumulation ungerechter und unmenschlicher Aktionen sowie der Untätigkeit der Regierung. Das Volk ist dessen leid, das Volk hat sich erhoben“, sagt der 24-jährige Student aus Chinandega, Yosman Alvarado. Dabei ist die Repression vom 18. April kein Einzelfall. Im November 2017 verübte das Militär ein Massaker in der Gemeinde San Pablo in La Cruz de Río Grande mit sechs Toten, NGOs und Menschenrechtsorganisationen werden durch institutionelle Repression in ihrer Arbeit eingeschränkt; statt Korruption zu ahnden, schützt die Regierung Amtsträger wie Roberto Rivas, Präsident des Obersten Wahlrats, und der Familienclan Ortega bereichert sich selbst. Auch das Sozialversicherungsinstitut INSS diente der Bereicherung der Regierung und sollte nun mittels der Reform gerettet werden. Bei den nationalen und regionalen Wahlen sicherte sich die Regierungspartei FSLN durch Wahlbetrug die alleinige politische Macht, wogegen es bereits seit langem Unmut gibt“ – aus dem Beitrag „DAS FASS IST ÜBERGELAUFEN“ von Evelyn Linde in den Lateinamerika Nachrichten Nummer 527 vom Mai 2018 externer Link, worin Hintergründe und Vorgeschichte der aktuellen Proteste Thema sind. Zu der Entwicklung in Nicaragua, der aktuellen Situation und ihrer Vorgeschichte drei weitere Beiträge, sowie der Verweis auf unseren bisher letzten Bericht zum Thema

  • „Von Somoza zu Ortega“ von René Thannhäuser am 09. Mai 2018 in der jungle world externer Link zur Vorgeschichte: „Seit dem 3. April brannte die »grüne Lunge Mittelamerikas« im Südosten des Landes über zehn Tage lang. Dem Umweltschützer Jaime Incer zufolge ist dies »die dramatischste ökologische Katastrophe, die Nicaragua je erlebt hat«. Bald wurde der Regierung vorgeworfen, sie sei untätig und weigere sich, internationale Hilfe anzunehmen. Medien und NGOs berichteten, dass die Polizei Demonstrationen auflöse und die Berichterstattung verhindert werde. Die Umweltschutzorganisation Fundación del Río spricht davon, dass es »höchst unwahrscheinlich ist, dass die Brände natürlich entstanden oder spontan verursacht« worden seien. Auf regierungskritischen Websites wird der Brand mit den Plänen für den Bau des Nicaragua-Kanals in Verbindung gebracht, der Pazifik und Karibik verbinden soll. Eine mögliche Route des Milliardenprojekts verläuft durch das Reservat Indio Maíz. Obwohl noch kein Spatenstich für das Projekt getan wurde, dient es der Regierung als ­Vorwand für Enteignungen und Vertreibungen von Kleinbauern im Süden des Landes. Es brodelt also schon seit längerem im Land, das seit 2006 von Ortega immer autoritärer regiert wird. Immer häufiger wird der Vergleich zwischen der Regierung Ortegas und der Diktatur des Somoza-Clans von 1934 bis 1979 bemüht. Dessen Herrschaft wurde 1979 mit dem Sturz Anastasio Somoza Debayles durch die sozialistische Guerilla FSLN beendet. In der Folge der Revolution regierte Ortega das Land zum ersten Mal, zunächst als Mitglied der Regierungsjunta, von 1985 bis 1990 dann als gewählter Präsident. Das Ausmaß an Brutalität, mit der Polizei, Militär und sandinistische Schlägertrupps gegenwärtig gegen die Protestierenden vorgehen, hat Nicaragua tatsächlich zuletzt während der Somoza-Diktatur ­erlebt. »Ortega, Somoza, das ist die gleiche Sache«, ist dieser Tage eine der am häufigsten skandierten Parolen“.
  • „Regierung zunehmend isoliert“ von Ralf Leonhard am 14. Mai 2018 in der taz externer Link – über bisherige und seltsame Bündnispartner Ortegas, die das sinkende Schiff verlassen möchten: „Ortega hatte seine Politik an den Bedürfnissen der Privatwirtschaft und der Kirche ausgerichtet: mit der Verankerung eines Dialogs mit den Unternehmern in der Verfassung und einem strengen Abtreibungsverbot. Jetzt sieht sich Ortega zunehmend isoliert: Sowohl der Unternehmerverband Cosep als auch die Bischofskonferenz sind in einer realistischen Einschätzung der Verhältnisse von der Regierung abgerückt, verurteilen jetzt mehr oder weniger offen die Repression und fordern einen echten Dialog. Die Unternehmer gaben sogar am Freitag all ihren Angestellten frei, die sich an Generalstreik und Protestmarsch beteiligen wollten. Auch die Armee will sich nicht für den Machterhalt der Ortegas einspannen lassen. Armeechef Julio César Avilés hat Ortega wissen lassen, seine Soldaten würden sich nicht dafür hergeben, Landsleute zu töten. Er solle den Konflikt schleunigst politisch regeln. Auf Gerüchte, das Internet solle abgeschaltet werden, weil die sozialen Medien den Funken des Aufstands verbreiten, reagierten die Angestellten der Telecom-Behörde, sie würden den Dienst am Bürger garantieren“.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=132126
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