»
Nicaragua »
»

Wahrheitskommission in Nicaragua: Wer nimmt teil, wer nicht? Wer protestiert weiterhin?

Friedensdemonstrationen in Nicaragua 2018In der Hauptstadt Nicaraguas sind in den vergangenen Tagen mehrfach hunderte Menschen auf die Straße gegangen, um friedlich gegen die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden der letzten Wochen zu protestieren. Aufgerufen zu Friedensdemos hatte unter anderem die katholische Kirche. Aber auch regierungsnahe Gruppen demonstrierten erneut für den „Frieden für Nicaragua“. Es sind andere Bilder als noch eine Woche zuvor. Zahlreiche Menschen zogen am vergangenen Samstag in friedlichem Protest durch die Straßen Managuas. Kaum Polizeipräsenz, kein Tränengas, keine Gummigeschosse, keine Steine und vor allem: keine weiteren Toten. Stattdessen wehen neben den vielen blauweißen Nationalflaggen auch hunderte Fahnen in Gelb und Weiß, den Farben der katholischen Kirche. Diese hatte sich durch die Bischofskonferenz als Vermittler in dem Konflikt angeboten und nun zu großen Friedensmärschen eingeladen. Das Nachrichtenportal Nodal spricht von Tausenden die dem Aufruf gefolgt sind, über hundert Gemeinden beteiligen sich. Nonnen und Bischöfe gehen zwischen den Menschen, es wird gebetet und gesungen. Und doch sind die Ereignisse der vorherigen Woche präsent. Schilder mit Gesichtern und Namen der in den Ausschreitungen Getöteten werden hochgehalten. In Sprechchören heißt es etwa: „Sie waren keine Verbrecher, sie waren Studenten““ – aus dem Beitrag „Friedensbekundungen nach Gewalt in Nicaragua“ von Daniel Stoecker am 05. Mai 2018 bei amerika21.de externer Link über die Kräfte, die auf je ihre Weise an der Überwindung der aktuellen Situation in Nicaragua arbeiten. Siehe zur aktuellen Entwicklung in Nicaragua drei weitere aktuelle Beiträge und einen Hintergrundartikel, eine  vielsagende Erklärung der FSLN und einen offenen Brief des Nicaragua Büros,  sowie den Hinweis auf den bisher letzten unserer Beiträge zu den Auseinandersetzungen um die sogenannte Rentenreform der Regierung:

„La coalición de estudiantes rechazó la recién conformada Comision Verdad, Justicia y Paz“ am 06. Mai 2018 im Twitter-Kanal von Giorgio Trucchi externer Link ist ein Beitrag über die Erklärung der Koordination der Studierenden Nicaraguas in der die eben gebildete Kommission abgelehnt wird, weil bei ihrer Zusammensetzung wesentliche Repräsentanten fehlen: Vor allem die nationale Menschenrechtskommission CIDH und auch UNO Beobachter werden explizit genannt. Die Koordination – deren Zustandekommen durchaus nicht klar ist – setzt eine Frist von 4 Tagen, um die erweiterte Zusammensetzung zu verwirklichen, sonst würden erneut Proteste organisiert.

„Hoy 9/5 en Nicaragua es dia de movilizaciones“ am 09. Mai 2018 im Twitter-Kanal von Giorgio Trucchi externer Link ist ein Beitrag zu den verschiedenen Demonstrationen an diesem Mittwoch, worin unter anderem darauf verwiesen wird, dass sich insbesondere unter der Bezeichnung Zivilgesellschaft auch zahlreiche Gruppierungen tummeln, die sich die berechtigten Proteste gegen Ortegas unsozialen Kurs für rechte und proamerikanische Absichten zunutze machen wollen und die Situation weiter anheizen möchten.

„Nicaragua: Die Repression Daniel Ortegas ist nicht fortschrittlich“ von Matthias Schindler am 09. Mai 2018 bei de.indymedia externer Link ist eine kommentierende Einleitung zu einem übersetzten Offenen Brief des früheren Barricada-Redakteurs Onofre Guevara López zur aktuellen Situation in Nicaragua, der darin unter anderem feststellt: „Vor acht Tagen sprach Ortega von einem Dialog, der jedoch immer noch nicht begonnen hat, während Ihr so berichtet, als ob dieser schon längst im Gange sei. Dieser Dialog kommt deswegen nicht zustande, weil Ortega sich weigert, seine geistige Urheberschaft für das Massaker anzuerkennen und eine Bestrafung der Täter zu akzeptieren. Ohne diese Voraussetzungen wird jedoch niemand mit ihm in einen Dialog treten wollen. Wenn Ortega schon während der letzten elf Jahre seiner Amtsführung keinerlei Interviews an Journalisten gab, wird er umso weniger mit Vertretern des ganzen Volkes sprechen wollen, wenn er sich schuldig fühlt. Dies ist noch lange nicht Alles, aber es spiegelt den Verfall des Orteguismus wider, der um die persönliche Verkommenheit des Herrschers ergänzt wird, unter der die ganze Gesellschaft zu leiden hat, und die von den obersten Befehlshabern der Polizei und der Armee unterstützt wird. Ich möchte Euch daran erinnern, dass Ihr Euch, wenn Ihr weiterhin die offiziellen Lügen dieser Regierung wiederholt, zu Komplizen der Feinde der Freiheit unseres Volkes macht, und dass Ihr damit an der Seite von Ortega der Regierung der USA, deren politischen Freunden und ehemaligen reaktionären Regierungschefs die Möglichkeit gebt, sich als noble Verteidiger des nicaraguanischen Volkes aufzuspielen. Dabei ist deren eigentliches Ziel, eine Regierung zu errichten, die offen die Einmischung der USA akzeptiert und sich deren hegemonialer und aggressiver Außenpolitik unterordnet, deren Opfer seit jeher Nicaragua gewesen ist. Elemente, wie der Spanier Aznar, Komplize im Krieg gegen den Irak, die Kolumbianer Pastrana und Uribe, Verantwortliche für den Plan Colombia, die neun US-amerikanischen Militärbasen in ihrem Land, Komplizen des Drogenhandels und der Verbrechen der Paramilitärs, gemeinsam mit anderen pro-imperialistischen Agenten und der OAShaben bereits damit begonnen, ihre Nasen in die Angelegenheiten Nicaraguas hineinzustecken. (Gerade ist ein gewisser Penco, ein Entsandter von Luis Almagro[6] im Land angekommen, um mit Ortega zu verhandeln.) Es ist auch falsch, und Ihr stürzt in die Unwahrheit, wenn Ihr Nicaragua mit Kuba und mit Venezuela gleichsetzt. Dies ist ebenso falsch, wie der „christliche und solidarische Sozialismus“ von Ortega“.

„FSLN: Zu den aktuellen Ereignissen in Nicaragua“ am 27. April 2018 bei amerika21.de externer Link dokumentiert ist die deutsche Übersetzung (von Vilma Guzmán) einer Erklärung des Internationales Sekretariats der FSLN, in der es unter anderem heißt: „Angesichts dieser Situation forderten der Internationale Währungsfonds (IWF) und der Unternehmerverband Cosep die Anwendung typisch neoliberaler Maßnahmen in diesem Bereich: Anhebung des Renteneintrittsalters (in Nicaragua liegt es bei 60 Jahren) und der nötigen Wochen, um Rente zu bekommen (750 für normale Pension und 250 für diejenigen, die das Rentenalter erreicht haben, aber die erste Anzahl nicht erreichen konnten – was vor der Regierungsübernahme der Sandinisten 2007 nicht existierte; in dem Fall wollten die radikalsten Neoliberalen die Pension ganz abschaffen). Unsere Regierung antwortete darauf mit einer entschiedenen Ablehnung sowohl gegenüber dem IWF als auch dem Cosep. Stattdessen wurde die Option gewählt, die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu erhöhen und einen Beitrag für Rentner, einschließlich derer, die die reduzierte Rente erhalten, festzulegen. Diese Entscheidung musste getroffen werden, dabei wurde zum ersten Mal der Konsens mit der Privatwirtschaft gebrochen, der Teil unseres Modells des Konsens und der Allianzen zwischen Regierung, Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist“.

„Offener Brief an den Präsidenten der Republik Nicaragua José Daniel Ortega Saavedra“ am 30. April 2018 bei amerika21.de externer Link dokumentiert, ist eine gemeinsame Stellungnahme des Informationsbüros Nicaragua in Wuppertal und des Ökumenischen Büros für Frieden und Gerechtigkeit in München an Nicaraguas Präsident Ortega. Darin heißt es unter anderem: „In diesem historischen Moment erklären wir unsere Solidarität mit den Menschen, die fordern, dass die Regierung ihre fundamentalen Rechte respektiere. Wir wissen um den Stolz und die Tatkraft der nicaraguanischen Bevölkerung und erkennen die Erfolge an, welche in den vergangenen 40 Jahren erreicht wurden. Ebenso sind wir uns der vielen Probleme und Schwierigkeiten bewusst, welche dieser Prozess mit sich gebracht hat und weiterhin mit sich bringt. Im Kontext dieser Geschichte blicken wir mit großer Sorge auf die Ereignisse und die Gewalt der vergangenen Tage. Natürlich sind wir uns bewusst, dass es Kräfte gibt, welche nur darauf warten, sich den Reichtum Nicaraguas anzueignen. Allerdings meinen wir uns daran zu erinnern, dass die Erfolge und die Kraft der sandinistischen Revolution in den 80er Jahren nur durch die gemeinsamen Anstrengungen großer Teile der Bevölkerung erreicht werden konnten. Leider mussten wir bei unseren Besuchen in den vergangenen Jahren in ihrem wunderschönen Land feststellen, dass mehr und mehr Nicaraguaner nicht mehr das Gefühl haben, Teil der von ihnen propagierten Revolution zu sein. Zahlreiche soziale Bewegungen haben sich mit dem Ziel gebildet, ihren legitimen Forderungen Gehör zu verschaffen. Leider stießen sie jedoch meist auf verschlossene Türen und taube Ohren. Mit diesem Brief erklären wir weiterhin unsere Solidarität mit der nicaraguanischen Bevölkerung, die ihre Rechte verteidigt. In der jetzigen Situation fordern wir deshalb, dass Sie die in den letzten Tagen ausgebrochen Proteste nicht als Bedrohung, sondern als letzte Chance wahrnehmen, die Ideale und Erfolge der sandinistischen Revolution zu retten. Der Kampf Nicaraguas für Frieden, Souveränität, Gerechtigkeit und Würde kann nur MIT und NICHT GEGEN die Bevölkerung gewonnen werden“.

„Nicaragua, immer weiter so?“ von Celia Schmidt in der ila Ausgabe 401 vom Dezember 2016 externer Link stellte damals bereits fest, wie problematisch die Haltung vieler progressiv eingestellter Menschen zum heutigen Ortegaschen Sandinismus geworden ist: „Es war der Tropfen, der für viele das Fass zum Überlaufen brachte. Präsident Ortega hatte schon des Öfteren gegen die demokratische Verfassung verstoßen. Doch im Juni dieses Jahres schaltete er Eduardo Montealegre aus, seinen größten Rivalen, aus der konservativen Partido Liberal Independiente (PLI). Oppositionelle, die sich gegen seinen Umgang mit Montealegre gewehrt hatten, wurden aus der Nationalversammlung ausgeschlossen und ihres Amtes enthoben. Und dann, im August, die nächste Überraschung: Ortega nominierte seine Ehefrau Rosario Murillo zur Kandidatin für die Vizepräsidentschaft und damit auch als Nachfolgerin, falls er seine Amtszeit nicht zu Ende führen könnte. Dabei gibt es einen Gesetzesartikel, der genau dies verbietet. Es ertönte ein Aufschrei, der weit ins linke Lager hineinreichte. Selbst langjährige WeggefährtInnen wandten sich vom Ehepaar Ortega ab. Die Opposition rief zum Wahlboykott auf. Doch es half nichts. María Teresa ist Sandinistin. Die 23-Jährige hat an der Universidad Centroamericana (UCA) in Managua Tourismus studiert und arbeitet nun für einen Reiseveranstalter in der Tourismushochburg Granada. Die junge Frau ist mit der sandinistischen Ideologie groß geworden. Zahlreiche Familienangehörige waren während der Revolution aktiv und haben nie den Glauben an ihre Partei verloren. Der Sandinismus ist Teil ihrer nicaraguanischen Identität. Doch vor den jüngsten Wahlen war es anders. Maria Teresa war hin- und hergerissen. „Ich will und ich muss von meinem Stimmrecht Gebrauch machen. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Nach allem was passiert ist, kann ich einfach nicht mehr für die FSLN stimmen. Dennoch möchte etwas in mir, dass sie gewinnen.““.

Zu den Protesten in Nicaragua zuletzt: „Hintergründe zu den Protesten in Nicaragua: „Das sind ja nur die Rechten“ funktioniert auch hier nicht“ am 25. April 2018 im LabourNet Germany (dort auch Verweise auf frühere Beiträge zum Thema)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=131949
nach oben