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Massenproteste in Armenien: Wer wofür?

Demonstration in Eriwan am 23.4.2018Viele Armenierinnen und Armenier haben ihren Frust über die politischen Verhältnisse in den vergangenen Jahren immer wieder in die Öffentlichkeit getragen. Massenproteste gegen die Verteuerung von Bustickets 2013 und Elektrizität 2015 erzielten einige Erfolge. Zum Amtsantritt Sargsjans als Präsident im Jahr 2008 kamen bei gewalt­tätigen Ausschreitungen mehr als zehn Menschen ums Leben. Schon damals geriet Paschinjan kurzzeitig in Haft. Doch allein die Person Paschinjan, dessen Parteienbündnis Yelk im Parlament gerade einmal neun von 105 Abgeordneten stellt, dürfte kaum für die Leidenschaft und das Ausmaß der jüngsten Proteste verantwortlich gewesen sein. Vor allem die junge Generation be­teiligte sich an den Demonstrationen. Viele junge Menschen wandern aufgrund der weitverbreiteten Korruption, fehlender Arbeitsplätze und des schlechten Bildungssystems nach Russland und Westeuropa aus. Anders als bei früheren Protesten fanden auch außerhalb der Hauptstadt Eriwan in allen Landesteilen Märsche statt. In Armeniens zweitgrößter Stadt Gyumri inszenierten Hetq zufolge mehrere Hundert Protestierende Sargsjans ­Beerdigung. Dass nach dem erfolgreichen Umsturz neue politische Kräfte das Land mit Reformen voranbringen können, ist äußerst ungewiss angesichts der Ausgangslage, die von verbreiteter Armut, zwei geschlossenen Außengrenzen, hoher Abwanderung der jungen Bevölkerung, einer brachliegenden Wirtschaft und einem drohenden neuen Krieg mit Aserbaidschan geprägt ist. Diese Probleme wird jede neue Regierung angehen müssen, unabhängig davon, ob bei Neuwahlen das europafreundliche oder das prorussische Lager gewinnt“ – so endete der Beitrag „Schluss mit Sersch“ von Marcus Latton am 26. April 2018 in der jungle world externer Link, worin die verschiedenen Strömungen der Proteste in Armenien deutlich werden. Siehe zur Entwicklung in Armenien zwei weitere aktuelle Beiträge und zwei Hintergrundartikel zur Entwicklung des Landes seit dem Ende der UdSSR sowie einen Beitrag, der die marginale Rolle von Gewerkschaften in der aktuellen Lage deutlich macht:

  • „Armenien: Langzeit-Staatschef Sargsjan tritt ab“ von Peter Mühlbauer am 24. April 2018 bei telepolis externer Link, worin es unter anderem heißt: „Hajk Babukhanjan, ein Abgeordneter der Regierungspartei HHK, hatte im Dezember dem einschlägig bekannten Investor George Soros vorgeworfen, Armenien mit insgesamt 1,75 Millionen Dollar destabilisiert zu haben. Entsprechende Befürchtungen hatte es bereits 2015 gegeben, als Paschinjan und seine später mit der Parteifarbe Orange ausgestattete Yelk-Bewegung erstmals auf sich aufmerksam machten. Sie verwehrten sich allerdings gegen alle Vergleiche mit dem Kiewer „Maidan“ – und sogar die ARD-Tagesschau musste damals feststellen: „Eine antirussische Stimmung wie in der Westukraine gibt es nicht. Denn Russland garantiert mit Truppen im Land die Sicherheit Armeniens vor allem gegen den verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan.“ (…) Aserbaidschan beansprucht nämlich das von Armeniern besiedelte und inzwischen als Artsakh“ de-facto-selbständige Bergkarabach, das Stalin 1929 der Sowjetrepublik schiitischer Türken übertragen hatte (vgl. Bergkarabach wählt, Aserbaidschan droht). Weil Aserbaidschan über viel Öl verfügt, mit dem es aufrüsten kann, und viel Lobbyarbeit auf Europaebene betreibt, ist Armenien, das am 24. April an den Massenmord an Armeniern im Osmanischen Reich erinnert (vgl. Mit Stöcken im Anus tot liegen gelassen), auf den Schutz Russlands angewiesen. Entsprechend hatte sich auch der Zentralrat der Armenier in Deutschland am Wochenende besorgt über die Demonstrationen geäußert und betont, die „Außenbedrohungen Armeniens“ seien „bekannt“ und die „nationale Sicherheit […] oberstes Gebot“. Außerdem begrüßt er eine Initiative der sozialdemokratischen Daschnakzutjun, „alle im Parlament vertretenen Parteien dazu aufzufordern, sich unverzüglich um ein außerparlamentarisches Podium zu versammeln, mit dem Ziel, das Land aus der fortbestehenden Krise herauszuführen.“ Derzeit sind das Sargsjan mit Angela Merkels CDU und der EVP verbundene HHK mit 58 von insgesamt 105 Sitzen, die auf europäischer Ebene mit der konservativen ERK-Fraktion verbündete Oppositionspartei BHK mit 31, Paschinjans Yelk mit neun und die Daschnakzutjun mit sieben Abgeordnete“.
  • „Massenproteste legen Jerewan lahm“ am 03. Mai 2018 in neues deutschland externer Link ist eine Meldung über die erneuten Proteste nach der gecheiterten Wahl eines neuen Ministerpräsidenten, in der es heißt: „Im Machtkampf in der Ex-Sowjetrepublik Armenien findet am 8. Mai der nächste Versuch statt, einen Ministerpräsidenten zu wählen. Das teilte der Parlamentschef des Landes im Südkaukasus, Ara Bablojan, am Mittwoch in der Hauptstadt Jerewan mit. Tags zuvor war im Parlament der Versuch von Oppositionsführer Nikol Paschinjan gescheitert, sich an die Spitze der Regierung wählen zu lassen. Auf seinen Aufruf hin legten seine Anhänger am Mittwoch die Hauptstadt, aber auch den Verkehr in anderen Landesteilen lahm“.
  • „Social Origins of Armenia’s Ruling Class and Protest Movement“ von Vicken Cheterian am 26. April 2018 bei mediamax externer Link ist ein ausführlicher Beitrag über die soziale Entwicklung Armeniens und ihre politischen Auswirkungen. Darin werden die sozialen Ursprünge der heutigen herrschenden Klasse Armeniens ebenso dargestellt, wie die besondere Ausformung der Konstellation in vielen vergleichbaren Ländern, die allesamt den Widerspruch zwischen Privatisierung der Wirtschaft und Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens nicht auflösen konnten und der Privatisierung und den eigenen Interessen der herrschenden Koalitionen den Vorrang einräumten.
  • „“Yerevan Spring”: A New Day For Armenian Democracy?“ von Kristin Cavoukian am 01. Mai 2018 bei LeftEast externer Link ist ein ausführlicher Beitrag vor allem über die verschiedenen politischen Parteien in Armenien und die dazu gehörende Frage, ob ein Wechsel Veränderung bedeuten würde. In der Yelk-Koalition gäbe es immerhin, so die Autorin, Aktive etwa aus der Umweltbewegung, die sich gegen Bergbauprojekte im Sinne oligarchischen Profits eingesetzt hätten und auch feministische Aktivistinnen, die beide aber keinesfalls entscheidenden Einfluss hätten.
  • „Armenische Gewerkschaften – Probleme und Herausforderungen“ von TIRUHI A. NAZARETIAN und TILMAN ALEXANDER BUSCH im Februar 2017 bei der Friedrich Ebert Stiftung externer Link ist eine Studie die, was immer man sonst von ihr halten mag, zumindest deutlich macht, warum die Gewerkschaften in der aktuellen Entwicklung in Armenien nahezu keine Rolle spielen, sondern eben weit eher NGOs und Basis-Initiativen: „Die Gewerkschaftszugehörigkeit ist in denjenigen Branchen weit verbreitet, die keinen tiefgreifenden systemischen Wandel erfahren haben und in denen es wenige informelle Beschäftigte gibt. Allerdings spielen die Mitgliederzahlen und der formelle institutionelle Einfluss kaum eine Rolle für die derzeitigen organisatorischen Kapazitäten und Aktivitäten der Gewerkschaften, da viele Mitglieder inaktiv sind. Die meisten von ihnen entscheiden sich für einen Austritt, sobald sie an ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft erinnert werden – die BRTU-Vertreter ziehen es daher  vor, inaktive Mitglieder in ihren Reihen zu halten, statt sie endgültig zu verlieren. Die Funktionäre sind unter Umständen auch bestrebt, ihren eigenen Einfluss innerhalb des CTUA zu vergrößern. Obwohl viele der BRTUs über die entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen verfügen, stoßen sie keinerlei sozialen Dialog an und kümmern sich nicht um die sozialen Belange der Arbeitnehmer, da sie von den Arbeitgebern finanziert werden“.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=131743
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