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Lula im Gewerkschaftshaus, Haftantritt verweigert: Tausende mit ihm vor Ort, Hunderttausende auf Brasiliens Straßen – und einen Tag später doch die Haft angetreten, viele UnterstützerInnen waren dagegen

Kundgebung gegen Lulas Haftantritt vor dem gewerkschaftshaus in Sao Bernardo am 6.4.2018Tausende im Haus der Metallgewerkschaft in Sao Bernardo (SM ABC), Hundertausende auf den Straßen großer und kleiner Städte Brasiliens: Freitag, 06. April 2018 um 17 Uhr sollte Expräsident Lula da Silva ins Gefängnis von Curitiba – wenn es nach dem sogenannten Richter Moro und den Obersten VertreterInnen der extrem privilegierten brasilianischen Justizkaste ginge. Guilherme Boulos von der MTST (Bewegung der Obdachlosen und prekär Wohnenden), Präsidentschaftskandidat der Partei Freiheit und Sozialismus (PSol) bezeichnete es am treffendsten: „Dies ist nicht der Oberste Gerichtshof Brasiliens, sondern die oberste Wahlkampf-Kommission der Reaktion“. Besonders wichtig bei den aktuellen Protesten: Sie reichen weit über die „übliche PT-Familie“ hinaus. Nicht nur nahezu die geschlossene Linke (bis auf ganz wenige Gruppierungen die, aus ihrer oftmals durchaus gerechtfertigten Kritik an Lulas Regierung, die irrige Schlussfolgerung ziehen, das könne ihnen egal sein), sondern vor allen Dingen „normale Bevölkerung“ geht auf die Straße. So emblematisch das Foto einer jungen Frau mit ihrem Plakat „Lula soll ins Gefängnis gehen, weil ich, Tochter einer Hausangestellten, an die Universität gegangen bin“ binnen weniger Stunden wurde, so wichtig eine (von vielen) spontane Kundgebung im größten Armenviertel Rios, dem Favela-Komplex Rocinha, unter dem Motto „Wenn Lula ins Gefängnis geht, kommt der Berg in die Stadt“. Offensichtlich eine Entwicklung, die die reaktionären Kräfte des Landes, angefeuert von der Putschdrohung des Oberkommandos der Armee, so nicht erwartet hatten. Am „schlimmsten“ hat es diesmal, gerechterweise, die professionellen Fake-News-ProduzentInnen von TV Globo erwischt: Großaufgebot an Kameras, die die Festnahme Lulas aufnehmen sollten. Und nur – aus der Ferne, denn Zutritt und Gespräch wurden rundweg verweigert – filmen konnten, dass sich Tausende Menschen im und um das Haus der Metallgewerkschaft des ABC im Großraum Sao Paulo versammelten, viele von ihnen mit der festen Absicht, die Festnahme zu verhindern. Und dann wurde dieser „Sender“ auch noch dabei ertappt, dass – ohne Quellen zu nennen – Bilder eines alternativen Fernsehkanals verbreitet wurden. Siehe in der Materialsammlung zu den Protesten gegen die brasilianische Klassenjustiz vier aktuelle Beiträge und den Verweis auf mehrere Quellen aktueller Berichterstattung aus Brasilien – mit Update vom 08. April 2018: Und dann doch die Haft angetreten:

Update: Haftantritt am 07. April – gegen den Willen vieler UnterstützerInnen

Am Samstag, 07. April 2018 hat der Expräsident Brasiliens, Luiz Inácio da Silva – Lula eben – seine per Urteil der Klassenjustiz auf 12 Jahre festgesetzte Haftstrafe angetreten – Leibwächter mussten ihm den Weg zum Polizeiauto frei machen, denn die allermeisten der Tausenden von UnterstützerInnen in und vor dem Gewerkschaftshaus in São Bernardo wollten nicht, dass er die Strafe antritt. Immer wieder aufbrandende Sprechchöre „Não se entrega“ (sinngemäß: Ergib Dich nicht, wörtlich „Liefere Dich nicht aus“) und eine regelrechte Menschenmauer, als die Polizei ankam, machten deutlich, dass die „gesetzestreue“ Strategie der PT Widersprüche in den eigenen Reihen erzeugt – in denen der außerparteilichen Linken, die ebenfalls massiv präsent war, ohnehin. Lulas Rede vor seinem Haftantritt wird von der Arbeiterpartei und den ihr folgenden Organisationen als historische Rede bewertet: In jedem Falle war sie programmatisch für die Orientierung der Partei. Die Vorsitzende der PT, Senatorin Hoffmann, sah sich gezwungen, die DemonstrantInnen aufzurufen, Lulas Haftantritt zuzulassen – und auf die weiteren noch vorhandenen Möglichkeiten des juristischen Vorgehens zu verweisen. Die Feiern der brasilianischen Rechten fallen aber weitaus schmaler aus, als erwartet, denn zu deutlich wurde – gezwungenermaßen selbst in einigen der Mainstream-Medien – die massenhafte Unterstützung Lulas. Was von bundesdeutschen Medien zu sagen ist: Versuchen, in ihrer Kritik sachlich zu bleiben. Was schwer fällt bei Blättern etwa, die die Berichterstattung über diese Auseinandersetzung unter „Kriminalität“ veröffentlichen. Siehe zum Haftantritt Lulas und dessen Bedeutung aktuelle Beiträge von Samstag und Sonntag:

„Brasiliens Ex-Präsident Lula tritt Haftstrafe an“ am 08. April 2018 in der Süddeutschen Zeitung externer Link vermeldet unter der Rubrik Kriminalität: „Brasiliens früherer Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ist im Gefängnis in Curitiba eingetroffen. Die Ankunft des 72-Jährigen, der mit einem Hubschrauber in die südbrasilianische Stadt geflogen wurde, war am Samstagabend live im brasilianischen Fernsehen zu verfolgen. Lula, der wegen Korruption und Geldwäsche zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, hatte sich wenige Stunden zuvor nach einem tagelangen Tauziehen mit der Justiz der Polizei gestellt“. Wobei eine – zugegeben nicht völlig gründlich ausgeführte – kurze Recherche keinen Hinweis darauf gibt, dass diese Zeitung jemals das Wirken bundesdeutscher Firmen in Brasilien unter der Rubrik Kriminalität veröffentlicht hätte. Weder in bezug auf die jüngere Geschichte beim Zusammenwirken mit den Folterknechten des Geheimdienstes der Militärdiktatur ist dies geschehen, noch bezüglich der aktuellen Entwicklung, dem sehr aktiven Mitwirken derselben bundesdeutschen Unternehmen – im Rahmen des Unternehmerverbandes FIESP – an der Kampagne zum Sturz der gewählten Regierung.

„Lula begins prison sentence in Brazil after giving himself up to police“ von Sam Cowie am 08. April 2018 in The Guardian externer Link ist ebenfalls ein Beitrag über den Haftantritt, in dem aber immerhin recht ausführlich darauf eingegangen wird, dass der Versuch, Lulas Kandidatur qua Haft zu verhindern, eine weitere Mobilisierung faschistoider Bewegungen bedeutet: Zwar deutlich hinter Lula, aber Zweiter in den Wahlumfragen ist der Ex-Offizier Bolsonaro, der aus vielen guten Gründen nicht nur von der Linken Bolsonazi genannt wird.

„“Não se entrega“ Lula recebendo o apoio e a solidariedade de milhares de pessoas“ am 07. April 2018 beim Twitter-Kanal der Midia Ninja externer Link ist ein kurzer Videofilm über die Demonstration am Samstagmorgen aus Anlass des Gedenk-Gottesdienstes für Lulas verstorbene Ehefrau, als andauernde Sprechchöre „Liefere Dich nicht aus“ der anwesenden PT Prominenten  nicht rundweg gefielen.

„REPERCUSSÃO DA APRESENTAÇÃO DO LULA À JUSTIÇA“ am 07. April 2018 von Rede TVT bei You Tube externer Link ist ein Videobericht der MN, in dem deutlich wird, dass es Lula längere Zeit nicht gelang, das Gewerkschaftshaus zu verlassen, weil eine Reihe von DemonstrantInnen seinen Gang zur Polizei verhindern wollten – auch für Menschen, die kein Portugiesisch sprechen einigermaßen verständlich.

„Read Lula’s historical speech in São Bernardo do Campo today“ am 07. April 2018 bei Brasil de Fato externer Link ist die englische Übersetzung der Rede, die Lula vor seiner Festnahme hielt, und die von der PT und ihr nahestehenden Organisationen als historische Rede bewertet wird.

„Gleisi apela aos manifestantes: deixem Lula cumprir ordem da Justiça“ am 07. April 2018 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist ein (zustimmender) Bericht über den Appell der PT-Vorsitzenden Gleisi Hoffmann an die DemonstrantInnen „Lasst Lula den Anordnungen der Justiz nachkommen“ – womit sie genau die Kernfrage des gestrigen Tages anspricht – in ihrem Sinne, versteht sich.

(Update Ende)

 „Lula ignoriert Frist für Haftantritt“ am 07. April 2018 bei der tagesschau externer Link  ist eine Meldung über die Antrittsverweigerung, worin nicht nur der fanatische Kommunistenjäger Moro als normaler Richter dargestellt wird, sondern auch „übersehen“ wird, dass die Verurteilung Lulas vollzogen wurde, ohne dass es einen einzigen Beweis gab:  „Bis zum Abend hätte sich Brasiliens verurteilter Ex-Präsident Lula den Behörden stellen sollen, um seine Haft anzutreten. Doch er ließ die Frist verstreichen. Als Flüchtiger gilt er aber derzeit nicht. Der frühere brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat eine gerichtlich festgesetzte Frist zum freiwilligen Haftantritt verstreichen lassen. Bis 17.00 Uhr Ortszeit stellte er sich nicht der Bundespolizei in der südbrasilianischen Stadt Curitiba, obwohl der Bundesrichter Sérgio Moro am Donnerstag Haftbefehl gegen Lula erlassen und ihn aufgefordert hatte, sich binnen von 24 Stunden der Bundespolizei zu stellen. Stattdessen verschanzte sich der wegen Korruption verurteilte Politiker im Gewerkschaftshaus seiner Heimatstadt São Bernardo do Campo. Tausende seiner Anhänger halten sich vor dem Haus auf, um ihn vor einer Festnahme zu schützen. Lula verbringt die Nacht in dem Haus und plant nach Angaben von Senator Roberto Requião, am Samstagmorgen, an einer Gedenkfeier für seine verstorbene Frau teilzunehmen. Diese soll in dem Gewerkschaftsgebäude stattfinden, wo er einst seine Karriere als Gewerkschafter begonnen hatte“ .

„Freiheit für Lula!“ von Peter Steiniger und André Scheer am 07. April 2018 in der jungen welt externer Link, worin es unter anderem zu der Verurteilung noch einmal konkret heißt: „In Brasilien wurde am Freitag mit der Inhaftierung des früheren brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva gerechnet. Tausende Menschen versammelten sich vor dem Gebäude der Metallarbeitergewerkschaft in São Bernardo do Campo im Bundesstaat São Paulo – ein symbolträchtiger Ort, denn dort war der frühere Metallarbeiter Lula als Gewerkschafter aktiv. Am Freitag um 19 Uhr Ortszeit sollte eine Kundgebung beginnen, zu der auch der Expräsident erwartet wurde. Der Termin der Demonstration war eine offene Herausforderung, denn in der Nacht zum Freitag war Lula von Untersuchungsrichter Sérgio Moro aufgefordert worden, sich am Freitag bis 17 Uhr bei der Bundespolizei in Curitiba – rund 400 Kilometer entfernt von São Bernardo – einzufinden, um eine Haftstrafe von mehr als zwölf Jahren anzutreten. Im dortigen Gefängnis sei bereits eine Zelle für den Politiker der Arbeiterpartei (PT) hergerichtet worden, meldeten brasilianische Medien. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof Brasiliens am Donnerstag mit sechs zu fünf Stimmen einen Antrag Lulas auf Haftverschonung abgelehnt und so das in der Verfassung verankerte Recht des Angeklagten ignoriert, bis zu einem endgültigen Urteil in Freiheit zu verbleiben. Moro hatte den Politiker im Juni 2017 wegen Geldwäsche und Korruption zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Im Prozess wurde Lula unterstellt, im Gegenzug für politische Entscheidungen während seiner Amtszeit von einem Baukonzern ein Luxusappartement erhalten zu haben. Das Verfahren war jedoch eine Farce: Lula hat die Wohnung in Guarujá an der Küste des Bundesstaates São Paulo nachweislich weder jemals besessen noch genutzt“.Straßenblockade der Landlosenbewegung MST in Parana am 6.4.2018

„RESISTIR AOS GOLPES! NÃO A PRISÃO DE LULA!“ am 06. April 2018 bei den Brigadas Populares Minas Gerais externer Link (Facebook) ist eine kurze Erklärung (und ein Aufruf zur Teilnahme an den Protesten) des linken Netzwerkes (BP) aus diesem Bundesstaat, die hier stellvertretend stehen soll für viele ähnliche Veröffentlichungen und Aufrufe linker Gruppen in Brasilien, die – bei aller Kritik, die sie immer an den PT-Regierungen hatten – in der Verurteilung und Festnahme Lulas den „zweiten Schritt des Putsches“ sehen: Nach dem Sturz der gewählten Regierung nun die Verhinderung der mit Abstand populärsten Kandidatur für die Wahlen im Oktober 2018 – und das Ganze, so unterstreichen die BP in dieser Erklärung, gestützt auf die Drohungen der „Henker aus der Armee“ .

„Segue vigília em São Bernardo, em meio a negociações entre PT e PF para entrega de Lula“ von Pedro Cheuiche am 06. April 2018 bei Esquerda Diario externer Link ist ein Beitrag vom späteren Freitagabend, indem einerseits berichtet wird, dass die Massen-Mahnwache im  Gewerkschaftshaus von Sao Bernardo fortgesetzt wird und weiter anwächst – und andrerseits darauf verwiesen, dass es Verhandlungen zwischen der PT und der PF (Bundespolizei) gebe, über die Modalitäten eines Haftantritts. Dessen Verweigerung, so die Kritik des Autors, mit der er ebenfalls keineswegs alleine steht,sei das erste „bescheidene“ Signal gewesen, dass man nicht der Legalität und der Wahlarithmetik gehorche, was die PT und die ihr Nahe stehenden Massenorganisationen die ganze Zeit getan hätten und mit den aktuellen Verhandlungen weiterhin betreiben würden.Strassenblockade Fortaleza am 6.4.2018

„Minuto a Minuto: Acompanhe as mobilizações e desdobramentos sobre a prisão de Lula“ seit dem 06. April 2018 bei Brasil de Fato externer Link ist die chronologische Berichterstattung über die aktuellen Proteste bei der (sehr) PT-nahen Zeitung, worin zumeist Vertreter von PT nahen Organisationen wie dem Gewerkschaftsbund CUT und der Landlosenbewegung MST zu Wort kommen, und (mehr oder weniger) linke Präsidiale wie Frau Kirchner aus Argentinien oder Evo Morales aus Bolivien.

„#FreeLula“ ist der Twitter-Kanal externer Link (englisch) mit sehr zahlreichen und detaillierten Berichten über Proteste quer durch Brasilien und auch in verschiedenen anderen Ländern (etwa Argentinien oder die USA), vielfach auch versehen mit (eindrucksvollen) kurzen Videoberichten über Proteste und Blockaden (beispielsweise Straßen, Flughäfen, Busbahnhöfe)…

„#OcupaSãoBernardo“ ist der Twitter-Kanal externer Link (portugiesisch) der (nahe liegender Weise) noch ausführlicher über die Proteste in Brasilien berichtet am Freitagabend (brasilianischer Zeit) etwa aus Belém, Porto Alegre, Fortaleza (Straßenblockaden) und Brasilia (Busbahnhof-Besetzung) – und immer wieder über Rio de Janeiro, wo eben nicht nur in der Stadtmitte demonstriert wird, sondern auch in den Armenvierteln.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=130273
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