Didier Eribon über die politische Weltlage, die Wurzeln des Trump-Phänomens – und weshalb Feministinnen nicht die Feinde der Arbeiterklasse sind

Die Militarisierung des Arbeitskampfes… Ich sage nicht, dass wir mit dem Engagement für den Feminismus oder für die LGBT-Rechte oder für die Transsexuellen oder für Einwanderer und Flüchtlinge aufhören sollten. Im Gegenteil: Alle diese sozialen Bewegungen gehören zum 68er-Erbe, und das 68er-Erbe ist für mich das allerwichtigste. (…) 68 war eine sehr breite, gesamtgesellschaftliche Bewegung, die auf soziale Veränderung, auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet war. Es ging nicht darum, eine Bevölkerungsgruppe gegen eine andere auszuspielen. Im Gegenteil: Alles war miteinander verbunden. Wenn es eine politische Botschaft meines Buches gibt, dann diejenige, dass man die sozialen Fragen, das heisst die Arbeiterklasse und die Probleme der Unterschicht im Allgemeinen, den Fragen des Feminismus, der Minderheitenrechte, des Umweltschutzes nicht entgegensetzen darf. Denn alles ist auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Natürlich haben verschiedene Emanzipationsbewegungen ihre eigene Entwicklungsgeschichte, ihre eigenen Abgrenzungen, ihre spezifischen Problemfelder, aber es ist unsinnig zu sagen, entscheidend sei die Arbeiterfrage und die Fragen des Feminismus seien sekundär. Oder umgekehrt. (…) Zu bestimmten Zeiten stehen bestimmte politische Ziele im Vordergrund. Aber das heisst nicht, dass alle anderen politischen Kämpfe plötzlich unwichtig oder illegitim sind. Es hängen zwar alle Konfliktfelder zusammen, sie überschneiden sich, aber sie decken sich nicht. Ein Beispiel: der Feminismus und die Arbeiterbewegung. Beide überschneiden sich zwar, aber nur teilweise. Wenn eine Bewegung entstehen soll, muss ein «Wir» konstituiert werden. (…) Das Problem ist der Neoliberalismus der heutigen Linken, die Tatsache, dass die Linke nicht mehr links ist…“ Interview von Daniel Binswanger vom 19. Februar 2018 bei der Republik externer Link, 1. Teil: «Das Problem ist sicher nicht der Feminismus», siehe nun Teil 2:

  • Didier Eribon: «Der Front National spielt damit, dass er an den Stolz appelliert» New
    Warum gibt es heute eine Gay Pride, aber die Arbeiter schämen sich, Arbeiter zu sein? Weil die Scham der Herkunft nicht verschwindet, sagt Didier Eribon. (…) Die meisten Menschen kommen mit einem negativen symbolischen Kapital auf die Welt, einer Art nicht rückzahlbarer Schuld: Sie sind schwarz oder arm oder weiblich oder schwul. Es wird ihnen ein inferiorer, unterwürfiger, schambesetzter Platz in der sozialen Hierarchie zugewiesen. Diese sozialen Verurteilungen gehen der individuellen Existenz voraus und bestimmen sie. (…) Nehmen Sie die Schwarzenbewegung in den USA, die sich hinter dem Slogan «black is beautiful» scharte. Da ging es genau darum, die Schande in Stolz umzudeuten. Oder natürlich die Schwulenbewegung mit der Gay Pride. Was die Arbeiterklasse anbelangt, ist der Stolz tatsächlich verschwunden, ganz einfach weil es die Arbeiterklasse, wie sie in den 50er- und 60er-Jahren existiert hat, nicht mehr gibt. (…) Es gibt nicht mehr den Begegnungsort der Fabrikhalle, der sie alle verbunden hat – innerhalb und ausserhalb der Gewerkschaften. Sie haben jedoch immer noch eine Möglichkeit, Protest zum Ausdruck zu bringen: die Stimme für den Front National. Natürlich spielt gerade der Front National damit, dass er an Gefühle wie Stolz appelliert. Nur ist es dann eben nicht Klassenstolz, sondern Nationalstolz. Stolz ist in vielerlei Hinsicht eine ambivalente Angelegenheit…“ Interview von Daniel Binswanger vom 20. Februar 2018 bei der Republik, 2. Teil externer Link
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