Ins Fleisch gewachsene Masken: Einst erschien der Kapitalismus als eine bedrohliche äußere Macht. Heute ist er vollständig internalisiert. Es herrscht das glückliche falsche Bewusstsein – über die »Entfremdung zweiten Grades«

KapitalismuskritikEntfremdung ist ein schillernder Begriff. Er siedelt an der Grenze zwischen Objektivem und Subjektivem, vermittelt zwischen gesellschaftlichem Sein und individuellem Bewusstsein. Den Bereich zwischen ökonomischer Basis und ideologischem und psychologischem Überbau hat der Marxismus traditionell vernachlässigt. Erst unter dem Eindruck des Triumphes des Faschismus über die Arbeiterbewegung wandte er sich vor allem in Gestalt der Kritischen Theorie der Frage zu, auf welchem Weg Ökonomisches zum »menschlichen Kopf und Herz« (Erich Fromm) gelangt und welche Brechungen und Verzerrungen auf diesem Weg vor sich gehen. Man musste endlich zur Kenntnis nehmen, dass auch Arbeiter ein Unbewusstes und ein Leben vor dem ersten Lohnempfang haben. (…) Der Begriff der Entfremdung beschreibt nicht nur den objektiven Zustand einer Gesellschaft, die unter das Diktat des Tauschwerts geraten ist und deren Integration über den Markt vonstatten geht, sondern auch die Gefühlslage von Menschen, die die Kontrolle über ihre Lebensbedingungen verlieren, die sich ihnen gegenüber als fremde Mächte etablieren. Die Abstraktion vom Gebrauchswert vollzieht sich auch an den Tauschenden selbst, am Körper und der Sinnlichkeit der Menschen. Der zum Arbeitsinstrument hergerichtete Körper wird den Menschen zum Fremd-Körper, der zu großen Teilen von anderen benutzt wird. Die Herrschaft der Tauschabstraktion lässt die Menschen selbst abstrakt werden…“ Beitrag von Götz Eisenberg bei der jungen Welt vom 22. Dezember 2017 externer Link

  • Götz Eisenberg gelingt es sehr anschaulich, die Verknüpfung von Herrschaft der Tauschabstraktion mit Verschwörungstheorie und rechter Ideologie darzustellen. Im geschichtlichen Rückblick schreibt er dazu: „… Irgendjemand oder irgendetwas zieht im Hintergrund die Fäden, eine unsichtbare Hand steuert das Schicksal. Das Marionettentheater wird zur Metapher für diese Erfahrung. Es ist die große Zeit der Verschwörungstheorien: Man möchte wissen, wie die Geschichte funktioniert, wo ihre Drahtzieher sitzen. Überall sind Geheimbünde am Werk. Da die Menschen in der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft immer mehr von Abstrakta beherrscht werden, entwickelt sich eine regressive Sehnsucht nach dem personal Festmachbaren und Konkreten. Nymphen und Kobolde verlassen die Wälder, in denen Äxte und Sägen wüten, alles wird entzaubert und löst sich in Technik und Zahlen auf. Die Welt ist aus den Fugen, und die verstörten Menschen suchen nach Erklärungen. Die Parallelen zur Gegenwart sind unübersehbar. Auch heute wird aus der grassierenden kapitalistischen Entfremdung die völkische Schimäre der Überfremdung konstruiert und der schwer erfüllbare Wunsch, in all dem Chaos den oder die Schuldigen auszumachen, mit Verschwörungstheorien befriedigt…“
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