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Eine ganze brasilianische Kleinstadt auf der Straße: Gegen Agrokonzerne, die ihnen das Wasser stehlen werden zwei Großfarmen besetzt

Demo in Correntine am 11.11.2017 von der brasilianischen Militärpolizei überfallenWenn in einer kleinen Stadt (im Landesinneren des Bundesstaates Bahia), die 12.000 EinwohnerInnen hat, 10.000 gemeinsam auf die Straße gehen, heißt das zweierlei: Zum einen, die ganze Stadt und ihre Umgebung sind mobilisiert. Zum anderen: Das Ereignis, für viele Menschen in Brasilien so weit weg wie etwa von der BRD nach Nordafrika, wird zum Gegenstand von Propagandakampagnen. Correntina heißt die Stadt und die Menschen wehren sich schon sehr lange dagegen, dass ihnen Großfarmen, die mit dem globalen Agrargeschäft kooperieren, buchstäblich das Wasser abgraben. Und als nach der Demonstration beschlossen wurde, die beiden Farmen zu besetzen, taten dies Tausende. Und Hunderte von Gülleschleudern, sei es in den Fratzebüchern der faschistischen MBL-Banden, oder in den Fake News-Produzenten der Globo und Co, wussten sofort: Das war die MST und die Fazendas sind in Flammen aufgegangen. Die Kriminalisierung der Bewegung der Landlosen ist – wie zu den Zeiten ihrer Gründung in den Endjahren der Militärdiktatur in den 80er Jahren und wie die Kriminalisierung ihrer radikaleren Vorläufer in Vorbereitung des Militärputsches von 1964 – eines der aktuellen Hauptanliegen der Offensive der Rechten in Brasilien gegen jegliche demokratische und soziale Anliegen. Die MST hat erklärt, nichts mit den Protesten zu tun zu haben, aber in voller Solidarität zu den berechtigten Anliegen der Bevölkerung zu stehen. Eine Enthaltung, die umso schlüssiger ist, als der Bundesstaat Bahia von einem Gouverneur der sozialdemokratischen PT regiert wird, zu der die MST enge Beziehungen hat. Zu den Auseinandersetzungen um das Wasser im brasilianischen Nordosten siehe drei aktuelle Beiträge und die Dokumentation der „Erklärung der Bevölkerung von Correntina“:

  • „Ribeirinhos denunciam exploração predatória de água por transnacionais em Correntina“ von Rafael Tatemoto am 17. November 2017 bei Brasil de Fato externer Link ist ein Beitrag, der Menschen aus Correntina zu Wort kommen lässt, die die Sachlage und die Geschichte der Auseinandersetzung beschreiben. Eine Geschichte, die mehr als 40 Jahre zurück reicht, als noch in den Zeiten der Militärdiktatur, der erste Anwalt, den sich die EinwohnerInnen der Stadt wegen des Wassers nahmen, im Jahre 1977 ermordet wurde. Heute ist es so, dass nur eineder beiden Fazendas täglich 106 Millionen Liter Wasser verbraucht – so viel, wie die Bevölkerung der Stadt in einem Monat. Zugespitzt hat sich die Auseinandersetzung in diesem Jahr wegen des Ausbleibens der Regenzeit, auf die die Unternehmen nicht reagiert haben, sondern weiter wie gewohnt entnommen, was wiederum dazu führte, dass die lokalen Kleinbauern und Flussfischer immer mehr Knappheit erleiden mussten – bis eben die Gemüter explodiert seien.
  • „O que levou 10 mil pessoas às ruas de Correntina (BA)?“ am 17. November 2017 beim Instituto Humanitas Online externer Link ist ein ausführlicher Beitrag über Ereignis und Vorgeschichte des „Wasserkrieges“ von Correntina. Dabei wird deutlich, dass der langjährige Widerstand der „ribeirinhos“ (Ufer-Leute) zumindest zu Beginn stark religiös geprägt war, die allererste Aktion vor vielen Jahren war ein „Pilgergang für das Wasser“. Die einzige Organisation überregionaler Art, die an den Protesten beteiligt ist, ist die Bewegung der Staudamm-Geschädigten (MAB) – in der Region populär geworden durch ihren Widerstand gegen die Umleitung des Sao Francisco, dem nationalen Wasser-Heiligtum.
  • „NOTA: Cansado do descaso das autoridades, o povo de Correntina reage em defesa das águas“ vom 02. November 2017
    ist die gemeinsame Erklärung von über 30 Organisationen der Region zu den ersten Vorfällen bei der Besetzung der Fazenden Igarashi und Curitiba, der medialen Kampagne gegen die Proteste und der wirtschaftlichen Hintergründe der aktuellen Auseinandersetzung. (Es folgt eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung – das Original der portugiesischen Erklärung kann bei Interesse per Email vom LabourNet Germany bezogen werden). Einleitend stellt die Erklärung fest, dass es sich auch um eine politische Auseinandersetzung handele, da sowohl die Regierung des Bundesstaates Bahia, als auch die brasilianische Bundesregierung die Wasserentnahme der Baumwollwirtschaft stets – direkt per Steuererleichterungen und Zuschüsse, indirekt per Aussetzung jeglicher Kontrolle – gefördert hätten. Dies geschehe seit langem im Rahmen regionaler Entwicklungspläne, die mehrere Bundesstaaten umfassen. So hat das Instituto do Meio Ambiente e Recursos Hídricos (INEMA) der Fazenda Igarashi im Januar 2015 die tägliche Entnahme von über 182.000 Kubikmeter Wasser erlaubt, zur Bewässerung von rund 2.500 Hektar Land. Die Wasserentnahme durch die Bevölkerung bedeute seither nur noch rund 2,8% der gesamten Entnahme. Dies, obwohl die verschiedenen Projekte der Agrarkapitalisten in der gesamten Region nur insgesamt 160.000 Hektar umfassen, während die lokale kleinbäuerliche Landwirtschaft 2,2 Millionen Hektar bewirtschaftet – aber eben nicht für den Export… Bei einer sogenannten Anhörung Ende Oktober 2017 seien die Vertreter der Bevölkerung daran gehindert worden, ihre Sicht der Dinge darzustellen, insbesondere sei die Frage nicht erlaubt gewesen, warum das Baumwoll-Unternehmen Igarashi, das die Fazenda betreibt, aus anderen Gegenden des Landes habe abziehen müssen – nach entsprechenden lokalen Protesten. Unterzeichner dieser Erklärung sind verschiedene Einrichtungen der katholischen Kirche, wie etwa die Land- und die Fischer-Pastorale, aber auch Studierenden-Verbände aus mehreren Bereichen der Agrarwirtschaft, sowie die Gewerkschaften der Wasserwerke, der Elektrizitätswerke und der Ingenieure.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=124493
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